Am nächsten Tag weckten uns die Stummen schon vor Sonnenaufgang, und nachdem wir uns den Schlaf aus den Augen gerieben und uns an den Überresten eines Marmorbeckens im äußeren Hof, aus dem noch immer Wasser sprudelte, gewaschen und erfrischt hatten, erwartete uns Ayesha, zum Aufbruch bereit, bei ihrer Sänfte, während der alte Billali und die beiden stummen Träger sich um unser Gepäck kümmerten. Wie immer war Ayesha verschleiert gleich der Statue der Wahrheit, und mir kam der Gedanke, daß diese sie möglicherweise auf den Gedanken gebracht hatte, ihre Schönheit zu verhüllen. An diesem Morgen jedoch schien sie sehr bedrückt und trug nicht jene stolze, unbekümmerte Haltung zur Schau, an welcher man sie unter tausend Frauen, selbst wenn diese wie sie verschleiert gewesen wären, auf den ersten Blick erkannt haben würde. Sie blickte auf, als wir zu ihr traten - denn ihr Kopf war gesenkt -, und begrüßte uns. Leo fragte, wie sie geschlafen habe.
»Schlecht, mein Kallikrates«, antwortete sie, »schlecht! Seltsame und unheimliche Träume quälten mich in dieser Nacht, und ich frage mich, was sie wohl bedeuten. Mir ist fast, als drohe mir etwas Böses; doch wie könnte mir etwas Böses zustoßen? Würdest du wohl«, fuhr sie mit einem plötzlichen Anflug weiblicher Zärtlichkeit fort, »würdest du wohl, wenn mir etwas Schlimmes geschähe und ich eine Weile schlafen und dich verlassen müßte, meiner liebend gedenken? Würdest du, mein Kallikrates, meiner wohl harren, bis ich wiederkehre, so wie ich viele Jahrhunderte lang auf dich wartete?«
Ohne auf Antwort zu warten, fuhr sie fort: »Kommt, wir wollen aufbrechen, denn wir haben einen weiten Weg vor uns und müssen, bevor ein zweites Mal die Sonne über den Horizont steigt, am Platz des Lebens sein.«
Nach fünf Minuten schritten wir wiederum durch die ungeheure Ruinenstadt, deren Bauten in dem grauen Halbdunkel auf zugleich großartige wie bedrük-kende Weise um uns emporragten. Im gleichen Augenblick, da der erste Strahl der aufgehenden Sonne gleich einem goldenen Pfeil durch diese steinerne Wildnis schoß, erreichten wir das Tor der äußeren Mauer. Wir warfen einen letzten Blick auf die uralten majestätischen Säulenbauten, stießen - bis auf Job, für den Ruinen keinerlei Reize hatten - einen Seufzer des Bedauerns aus, weil uns keine Zeit blieb, sie näher zu erforschen, und betraten nach Durchquerung des großen Grabens wieder die Ebene.
Mit der Sonne stieg auch Ayeshas Stimmung, und zur Frühstückszeit hatte sie wieder ihre sonstige Ausgeglichenheit zurückgewonnen und schob lachend ihre Bedrücktheit auf die Erinnerung, die sich für sie mit dem Raum, in dem sie geschlafen hatte, verbanden.
»Diese Barbaren sind überzeugt, daß in Kor böse Geister hausen«, sagte sie, »und fast glaube ich, sie haben recht, denn eine so schlechte Nacht wie diese habe ich bisher nur ein einziges Mal verbracht. Ich erinnere mich ganz genau daran. Es war in der gleichen Kammer, damals, als du tot zu meinen Füßen lagst, Kallikrates. Ich will sie nie wieder betreten; es ist ein unheilvoller Ort.«
Nach einer kurzen Frühstücksrast marschierten wir flott weiter, so daß wir um zwei Uhr nachmittags am Fuß der ungeheuren Felswand standen, welche den Rand des an dieser Stelle bis zu einer Höhe von fünfzehnhundert oder zweitausend Fuß schroff aufsteigenden Vulkans bildete. Wir machten halt, was mich nicht im mindesten verwunderte, denn eine Fortsetzung des Marsches schien gänzlich ausgeschlossen.
»Nun beginnt unsere Mühsal erst so recht«, sagte Ayesha und stieg aus ihrer Sänfte, »denn hier müssen wir uns von diesen Männern trennen und uns allein behelfen. Du«, wandte sie sich an Billali, »bleibst mit diesen Sklaven hier und wartest auf unsere Rückkunft. Bis morgen mittag sollten wir wieder hier sein - wenn nicht, so warte.«
Billali verneigte sich ehrfürchtig und versprach, ihrem erlauchten Befehl zu gehorchen, selbst wenn sie bis zu ihrem Tode warten müßten.
»Dieser Mann, o Holly«, sagte >Sie<, auf Job deutend, »sollte am besten auch hierbleiben, denn da er nicht sehr beherzt und mutig ist, könnte ihm Schlimmes zustoßen. Überdies sind die Geheimnisse des Ortes, zu dem wir uns begeben, für gewöhnliche Augen nicht bestimmt.«
Ich übersetzte dies Job, der mich sogleich inständigst, fast mit Tränen in den Augen, bat, ihn nicht zurückzulassen. Er sei überzeugt, sagte er, daß er nichts Schlimmeres erblicken werde, als er bereits gesehen habe, und der Gedanke, allein bei diesen >gräßlichen Wilden< zu bleiben, die sicherlich die Gelegenheit nützen würden, ihn mit dem heißen Topf zu töten, sei ihm entsetzlich.
Ich übersetzte seine Worte Ayesha, die achselzuk-kend erwiderte: »Nun gut, so mag er mitkommen, doch ich habe ihn gewarnt. Er kann diese Lampe tragen, und dies hier«, und sie deutete auf eine schmale Planke von etwa sechzehn Fuß Länge, die an die lange Tragstange ihrer Sänfte festgebunden war und anscheinend bei dem ungewöhnlichen Unternehmen einem unbekannten Zweck dienen sollte.
Wir beluden also Job mit dieser festen, doch dabei sehr leichten Planke und drückten ihm eine Lampe in die Hand. Die andere band ich zusammen mit einem Krug voll Öl auf meinen Rücken, während wir Leo mit den Lebensmittelvorräten und einem Ziegenschlauch voll Wasser versahen. Als wir fertig waren, befahl >Sie< Billali und den sechs stummen Trägern, sich hinter ein etwa hundert Meter entferntes blühendes Magnoliengebüsch zurückzuziehen und dort bei Todesstrafe zu warten, bis wir verschwunden waren. Sie verbeugten sich demütig und entfernten sich. Der alte Billali drückte mir zum Abschied freundlich die Hand und flüsterte mir zu, daß er froh sei, nicht an dieser wunderbaren Expedition teilnehmen zu müssen. Im nächsten Augenblick waren sie fort, und nachdem Ayesha uns kurz gefragt hatte, ob wir bereit seien, wandte sie sich ab und blickte die steile Felswand empor.
»Du meine Güte, Leo«, sagte ich, »da sollen wir doch hoffentlich nicht hinaufklettern!«
Während Leo, der teils fasziniert, teils verwirrt schien, die Achseln zuckte, begann Ayesha den Felsen auch schon zu erklimmen, und uns blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Es war erstaunlich anzusehen, mit welcher Leichtigkeit und Grazie sie von einem Felsblock zum anderen sprang. Der Aufstieg war jedoch nicht ganz so schwierig, wie ich gedacht hatte, obgleich es eine oder zwei unangenehme Stellen gab, an denen es nicht ratsam war, sich umzublicken. Auf diese Weise gelangten wir ohne große Mühe bis in eine Höhe von etwa fünfzig Fuß, und lediglich Job wurde durch seine Planke ein wenig behindert. Da wir uns dabei seitwärts bewegten, befanden wir uns nun etwa fünfzig oder sechzig Schritte links von unserem Ausgangspunkt. Plötzlich stießen wir auf einen Felsvorsprung, der anfangs ziemlich schmal war, sich dann jedoch immer mehr verbreiterte und zudem gleich einem Blütenblatt nach innen bog, so daß wir, als wir ihm folgten, in eine Art Furche oder Felsfalte gerieten, die wie eine Gasse immer tiefer führte und uns den Blicken der unten Wartenden völlig verbarg. Diese Gasse, die von der Natur geformt schien, mündete nach fünfzig oder sechzig Schritten plötzlich in eine gleichfalls natürliche, im rechten Winkel zu ihr liegende Höhle. Daß es sich um eine natürliche und nicht künstlich angelegte Höhle handelte, schloß ich aus ihrer unregelmäßigen Form und ihrem gekrümmten Verlauf, die den Eindruck erweckten, als sei sie durch eine ungeheuer starke Explosion von Gasen entstanden, welche, dem Weg des geringsten Widerstandes folgend, sich eine Bresche durch das Gestein bahnten. Sämtliche von den alten Korern angelegten Höhlen waren hingegen von nahezu perfekter Regelmäßigkeit und Symmetrie. Am Eingang dieser Höhle blieb Ayesha stehen und befahl uns, die beiden Lampen anzuzünden. Ich tat es, gab ihr die eine und nahm die andere selbst. Darauf betrat sie, uns vorangehend, die Höhle, wobei sie sich größter Vorsicht befleißigte, denn der Boden war äußerst uneben, gleich einem Flußbett mit großen Steinen übersät und an manchen Stellen voller tiefer Löcher, in denen man sich leicht ein Bein brechen konnte.
Etwa zwanzig Minuten lang drangen wir in diese Höhle vor, welche, soweit ich dies bei den zahlreichen Krümmungen und Biegungen beurteilen konnte, etwa eine Viertelmeile lang war. Endlich erreichten wir das andere Ende, und während ich mich mühte, das Dunkel mit meinen Augen zu durchdringen, fegte plötzlich ein Windstoß über uns hinweg und löschte beide Lampen aus.
Ayesha, die uns ein Stück voraus war, rief uns, und als wir zu ihr krochen, wurden wir durch einen Anblick belohnt, dessen Düsterkeit und Größe uns überwältigte. In dem schwarzen Fels vor uns tat sich ein mächtiger Abgrund auf, gezackt, zerrissen und zerfetzt, als hätte in ferner Vorzeit ein schreckliches Naturereignis das Gestein gespalten, als hätten ungeheure Blitze darin eingeschlagen. Die Schlucht war auf unserer Seite von einer schroff abfallenden Wand begrenzt, und vermutlich auf der anderen, die wir nicht sehen konnten, ebenfalls, doch da es um uns nahezu völlig finster war und von der Oberfläche des fünfzehnhundert oder zweitausend Fuß hohen Felsens nur ein ganz schwacher Lichtschimmer zu uns herunterdrang, konnten wir nicht erkennen, wie breit sie war. Die Höhle, die wir durchschritten hatten, endete hier in einem höchst merkwürdigen riesigen Felsvorsprung, der etwa fünfzig Fuß weit in die Schlucht hineinragte und dessen Form dem Sporn am Fuße eines Hahnes ähnelte. Dieser ungeheure Sporn war nur an seiner Basis mit dem Felsgestein verbunden, ansonsten jedoch ohne jede Stütze.
»Hier müssen wir hinüber«, sagte Ayesha. »Seht euch vor, daß ihr nicht schwindlig werdet oder der Sturm euch in die Schlucht hinabreißt, denn sie ist wahrlich bodenlos«, und ohne uns länger Zeit zu furchtsamen Überlegungen zu lassen, stieg sie den Sporn hinan, und wir folgten ihr, so gut wir konnten. Ich ging hinter ihr, dann folgte Job, mühsam seine Planke schleppend, und Leo bildete die Nachhut. Es war wunderbar anzusehen, wie diese unerschrockene Frau ohne Zagen den gefährlichen Weg erklomm. Ich selbst sah mich nach wenigen Schritten infolge des starken Luftzuges und aus Furcht vor einem Fehltritt veranlaßt, mich auf Hände und Knie niederzulassen und weiterzukriechen, und die beiden anderen taten es mir nach.
Ayesha hingegen schritt, ihren Körper den Windstößen entgegenstemmend, aufrecht weiter und schien nicht einen Augenblick die Ruhe oder das Gleichgewicht zu verlieren.
Als wir nach einigen Minuten etwa zwanzig Schritte auf dieser schrecklichen Brücke, die immer schmaler wurde, hinter uns gebracht hatten, fegte plötzlich ein starker Windstoß durch die Schlucht. Ich sah, wie Ayesha sich dagegen warf, doch die Bö fuhr unter ihren schwarzen Mantel und riß ihn ihr herunter, so daß er wie ein verwundeter Vogel in die Schlucht hinunterflatterte und im Dunkel verschwand. Ich klammerte mich an den Felsen, und um mich blickend, spürte ich, wie der große Sporn gleich einem lebendigen Wesen mit einem dröhnenden Geräusch erzitterte. Es war ein schauriger Anblick, der sich uns bot, so im Dunkel zwischen Himmel und Erde schwebend: unter uns Hunderte und aber Hunderte Fuß gähnender Leere, allmählich immer dunkler werdend und schließlich in absoluter Schwärze endend, so daß die Tiefe sich nicht abschätzen ließ -über uns, ansteigend zu schwindelnder Höhe, der Fels, und weit, weit in der Ferne ein Streifen blauen Himmels. Und in die ungeheure Schlucht hinab fuhr brausend und brüllend der Sturm und trieb Wolken und Nebelfetzen vor sich her, bis wir fast blind und zutiefst verwirrt waren.
Unsere Lage war so entsetzlich und so unwirklich, daß sie uns anscheinend unsere Angst nahezu vergessen ließ, doch bis zum heurigen Tage tritt sie mir im Traum oft vor die Augen, und dann erwache ich in kalten Schweiß gebadet.
»Voran! Voran!« rief die weißgekleidete Gestalt vor uns, denn nun, da der Mantel ihr entrissen worden war, trug >Sie< nur noch ihr weißes Gewand, in dem sie mehr einer Windsbraut als einem Weibe glich. »Voran, oder ihr stürzt ab und zerschellt in Stücke. Blickt fest auf den Boden und klammert euch mit aller Kraft an den Felsen.«
Wir gehorchten und krochen mühsam den zitternden, sturmumtosten Pfad entlang. Wie lange es so weiterging, vermag ich nicht zu sagen; nur hin und wieder, wenn es unbedingt nötig war, wagten wir um uns zu blicken, doch endlich sahen wir, daß wir uns auf der äußersten Spitze des Sporns befanden, einer Felsplatte, wenig größer als ein Tisch, die wie ein Schiff auf und nieder schwankte. Uns an den Felsen klammernd, legten wir uns nieder und blickten um uns, während Ayesha sich mit flatterndem Haar dem Wind entgegenstemmte und, der gräßlichen Tiefe unter uns nicht achtend, mit der Hand auf etwas vor sich deutete. Jetzt wurde uns klar, wozu die schmale Planke, die Job und ich mühsam mitgeschleppt hatten, bestimmt war. Jenseits des Abgrunds befand sich irgend etwas - was es war, konnten wir jedoch nicht erkennen, denn infolge des Schattens, den der auf der anderen Seite aufragende Felsen warf, war es hier finster wie in tiefer Nacht.
»Wir müssen eine Weile warten«, rief Ayesha; »bald wird es Licht geben.«
Ich fragte mich, was sie wohl meinte. Wie konnte es an diesem grauenvollen Ort jemals mehr Licht geben? Während ich noch darüber nachdachte, durchbohrte plötzlich gleich einem riesigen Flammenschwert ein Strahl der untergehenden Sonne die stygische Finsternis und hüllte, auf die Felsplatte fallend, Ayeshas liebliche Gestalt in unirdischen Glanz. Ich wünschte, ich könnte die wilde, wundervolle Schönheit dieses Feuerschwerts, das Dunkelheit und Nebelschwaden durchdrang, beschreiben. Woher es kam, weiß ich bis heute nicht, doch ich nehme an, daß sich in dem gegenüberliegenden Fels ein Spalt befand, durch den es drang, als die untergehende Sonne dahinter vorbeiglitt. Ich kann nur sagen, es war das prächtigste Bild, das ich je gesehen habe. Mitten durch das schwärzeste Dunkel stach dieses Flammenschwert, und wohin es drang, war Licht, ein so strahlend helles Licht, daß wir selbst auf diese Entfernung die Äderung des Gesteins erkennen konnten, während außerhalb davon -ja schon wenige Zoll von seinem Rand - tiefstes Dunkel herrschte.
Und im Lichte dieses Sonnenstrahles, auf den >Sie< gewartet, nach dem sie unsere Ankunftszeit berechnet hatte, wissend, daß er bei Sonnenuntergang seit Tausenden von Jahren auf diese Stelle fiel, sahen wir nun, was vor uns lag. Etwa elf oder zwölf Meter vom äußersten Ende der Felszunge, auf der wir standen, erhob sich, offenbar vom Grund der Schlucht emporsteigend, ein zuckerhutförmiger Kegel, dessen Spitze uns direkt gegenüberlag. Diese Spitze allein hätte uns jedoch nicht viel genützt, denn ihr uns nächster Punkt war gute vierzig Fuß entfernt. Auf ihrem Rand aber, der kreisrund und ausgehöhlt war, ruhte ein mächtiger flacher Stein - anscheinend ein Gletscherstein -, dessen Kante nur etwa zwölf Fuß von uns entfernt war. Dieser riesige Felsblock schwebte auf dem Rand des Kegels oder Miniaturkraters wie ein Geldstück auf dem Rand eines Weinglases, und in dem grellen Licht, das auf ihn und uns fiel, sahen wir deutlich, wie er unter den Windstößen schwankte.
»Rasch die Planke!« sagte Ayesha, »- wir müssen hinüber, solange es hell ist; gleich wird das Licht verschwinden.«
»Oh, großer Gott, Sir«, stöhnte Job, »sie will doch nicht etwa, daß wir auf diesem Ding dort hinübergehen!«, und er schob mir gehorsam das lange Brett zu.
»Freilich, Job«, rief ich ihm in einem Anfall von Galgenhumor zu, obgleich mir bei dem Gedanken, über die Planke schreiten zu sollen, ebenso unbehaglich zumute war wie ihm.
Ich schob die Planke weiter zu Ayesha, welche sie geschickt so über den Abgrund legte, daß das eine Ende auf dem schwankenden Stein, das andere auf der äußersten Spitze des zitternden Sporns ruhte. Dann setzte sie, damit sie nicht vom Wind hinweggefegt wurde, den Fuß darauf und wandte sich zu mir um.
»Seit ich letztes Mal hier war, o Holly«, rief sie, »hat der Halt des schwankenden Steins etwas nachgelassen, und deshalb bin ich mir nicht sicher, ob er uns tragen wird. Ich will darum zuerst hinübergehen, denn mir kann nichts geschehen«, und ohne weitere Umstände trat sie leicht, doch entschlossen auf die unsichere Brücke und stand in der nächsten Sekunde auf dem schwankenden Stein.
»Er hält«, rief sie. »Jetzt halte die Planke! Ich will auf die andere Seite des Steins treten, damit er durch euer größeres Gewicht nicht umkippt. Komm jetzt schnell, o Holly, denn gleich wird das Licht verschwinden.«
Langsam erhob ich mich, denn nie in meinem Leben fühlte ich mich schrecklicher als in diesem Augenblick, und ich schäme mich nicht einzugestehen, daß ich zögerte und mich nicht entschließen konnte.
»Du hast doch nicht etwa Angst«, rief dieses seltsame Geschöpf, auf der höchsten Stelle des schwankenden Steins stehend. »Dann mache Platz für Kal-likrates.«
Diese Worte rissen mich aus meiner Unentschlossenheit, denn es ist besser, in einen Abgrund zu stürzen und zu sterben, als von einem solchen Weib ausgelacht zu werden. Ich biß also die Zähne zusammen, und im nächsten Augenblick befand ich mich auf dieser furchtbaren, schmalen, sich biegenden Planke, unter mir und um mich bodenlose Leere. Große Höhe hatte mich schon immer mit Schaudern erfüllt, doch noch nie war ich mir der Entsetzlichkeit einer solchen Lage so bewußt gewesen. Oh, wie gräßlich war das Gefühl, mit dem dieses auf zwei unsicheren Stützen ruhende Brett mich erfüllte! Ein Schwindel befiel mich, und ich glaubte hinabzustürzen; und die Erleichterung, die ich empfand, als ich auf dem wie ein Boot in der Brandung schwankenden Stein zu mir kam, läßt sich nicht schildern. Ich weiß nur, daß ich mit einem kurzen, doch inbrünstigen Stoßgebet der Vorsehung für meine Errettung dankte.
Nun war Leo an der Reihe, und obgleich er ziemlich unbehaglich dreinblickte, überquerte er die Planke wie ein Seiltänzer. Ayesha ergriff seine Hand und rief, sie drückend: »Tapfer, mein Geliebter, tapfer! Der alte griechische Geist lebt noch in dir!«
Jetzt befand sich nur noch der arme Job auf der anderen Seite der Schlucht. Er kroch an die Planke heran und schrie jämmerlich: »Ich kann nicht, Sir. Ich werde in dieses Satansloch hinabstürzen.«
»Du mußt«, rief ich mit gespielter Munterkeit, »du mußt, Job, es ist kinderleicht.«
»Ich kann nicht, Sir - wirklich nicht.«
»Wenn er nicht kommt, muß er dort bleiben und zugrunde gehen. Siehe, das Licht schwindet schon! Gleich wird des fort sein!« sagte Ayesha.
Ich hob den Kopf. Sie hatte recht. Die Sonne glitt bereits über den Rand des Spaltes, durch den ihr Licht zu uns drang.
»Wenn du dort bleibst, Job, wirst du elend sterben«, rief ich. »Es wird gleich finster.«
»Komm, sei ein Mann, Job«, schrie auch Leo; »es ist ganz leicht.«
So von uns bestürmt, warf sich der Arme mit einem schrecklichen Angstschrei der Länge nach auf die Planke nieder und begann - den Mut, darauf zu gehen, besaß er nicht -, sich ruckweise hinüberzuziehen, wobei seine Beine zu beiden Seiten in die Tiefe baumelten.
Die heftigen Stöße, die er dem Brett versetzte, brachten den großen Stein, der auf einer nur wenige Zoll großen Felsfläche ruhte, bedenklich ins Schwanken, doch noch schlimmer war, daß, als er erst halb herüber war, plötzlich das strahlende helle Licht erlosch und wieder tiefstes Dunkel um uns herrschte.
»Um Himmels willen, weiter, Job!« schrie ich voll Todesangst, während der Stein, durch jeden Stoß in stärkere Schwingung versetzt, so heftig schwankte, daß wir uns kaum darauf zu halten vermochten.
»Die Planke rutscht!« schrie der arme Job im Dunkeln, und ich hörte ihn verzweifelt zappeln und glaubte schon, es sei um ihn geschehen.
Im gleichen Augenblick jedoch berührte seine in höchster Angst ausgestreckte Hand die meine, und ich packte sie und zog und zog mit aller Kraft, die mir die Vorsehung in solch reichem Maß geschenkt hat -und zu meiner tiefsten Erleichterung lag Job im nächsten Augenblick keuchend neben mir. Doch die Planke! Ich spürte, wie sie rutschte, hörte sie gegen einen Felsvorsprung schlagen - und dann war sie verschwunden.
»Wie kommen wir nun zurück?« rief ich.
»Keine Ahnung«, erwiderte Leo im Dunkeln. »>Ein jeder Tag hat seine eigene Plage.< Ich bin froh und dankbar, daß ich hier bin.«
Da rief mir Ayesha zu, ihre Hand zu nehmen und ihr nachzukriechen.