25 Der Geist des Lebens

Ich gehorchte und spürte voll Furcht und Zittern, wie sie mich zum Rand des Steines führte. Als ich mich mit meinen Füßen vorwärtstastete, trafen sie ins Leere.

»Ich stürze!« keuchte ich.

»Nein, vertraue mir nur und laß dich fallen«, erwiderte Ayesha.

Wenn man meine Lage bedenkt, wird man sicherlich zugeben, daß dies ein wenig viel verlangt war, zumal ich ja Ayeshas Charakter kannte. Wie konnte ich wissen, ob sie mich nicht einem gräßlichen Schicksal zu überantworten gedachte? Doch wir sind im Leben nicht selten gezwungen, blindlings zu vertrauen, und so war es jetzt.

»Lasse dich los!« rief sie, und da ich keine andere Wahl hatte, tat ich es.

Ich fühlte, wie ich ein Stück die Kante des Steines hinabglitt; dann fiel ich ins Leere, und mich durchzuckte der Gedanke, ich sei verloren. Doch nein! Im nächsten Augenblick stießen meine Füße auf steinigen Boden, und ich spürte, daß ich auf etwas Festem stand, außer Reichweite des Windes, den ich über mir heulen hörte. Während ich so dastand und dem Himmel für diese neue Gnade dankte, hörte ich ein Scharren und Rutschen, und plötzlich erschien Leo neben mir.

»Holla, alter Junge!« rief er aus, »bist du's? Es wird allmählich interessant, nicht wahr?«

Kaum hatte er dies gesagt, da stürzte mit schrecklichem Gebrüll Job auf uns herab und riß uns zu Boden. Als wir uns hochgerappelt hatten, stand auch Ayesha bei uns und befahl, die Lampen anzuzünden, die zum Glück, ebenso wie der Ölkrug, unversehrt geblieben waren.

Ich holte meine Schachtel mit Wachszündhölzern hervor und strich eins an; es brannte an diesem unheimlichen Ort ebenso lustig wie in einem englischen Salon.

Nach wenigen Minuten brannten beide Lampen, und in ihrem Licht erblickten wir ein seltsames Bild. Wir standen dicht zusammengedrängt in einer Felsenkammer, die etwa zehn Fuß im Quadrat messen mochte, und machten höchst ängstliche Gesichter; das heißt, bis auf Ayesha, die ruhig und gelassen mit verschränkten Armen auf die Lampen wartete. Die Kammer schien teils von der Natur geformt, teils aus der Spitze des Kegels herausgehauen. Das Dach des natürlichen Teils bildete der schwankende Stein, das des hinteren Teils der Kammer, der sich abwärts neigte, war aus dem Felsgestein herausgeschlagen. Im übrigen war die Kammer warm und trocken -verglichen mit dem schwankenden Stein über uns und dem zitternden Felssporn, der mitten ins Leere ragte, eine wahre Stätte der Geborgenheit.

»So!« sagte >Sie<, »die Gefahr ist überstanden, obgleich ich einmal schon fürchtete, der schwankende Stein würde herabstürzen und euch in die bodenlose Tiefe schleudern, denn diese Schlucht reicht, soviel ich weiß, bis in den tiefsten Schoß der Erde. Der Fels, auf dem der Stein ruht, ist unter seinem schwankenden Gewicht morsch geworden. Nun, da er«, und sie deutete mit ihrem Kopf auf Job, der sich, auf dem Boden hockend, mit einem roten Taschentuch die Stirn abwischte, »den man mit Recht das >Schwein< nennt, da er dumm ist wie ein Schwein, nun, da er die Planke hinunterfallen ließ, wird es nicht einfach sein, die Schlucht wieder zu überqueren, und ich muß nachdenken, wie wir dies anstellen werden. Doch nun ruht eine Weile aus und seht euch um. Was für eine Höhle, glaubt ihr, ist dies?«

»Keine Ahnung«, erwiderte ich.

»Würdest du es für möglich halten, o Holly, daß dereinst ein Mann dieses luftige Nest zu seiner Behausung erkor und hier viele Jahre lebte? Daß er sie nur jeden zwölften Tag verließ, um die Nahrung, das Wasser und das Öl sich zu holen, das die Leute in reichlichem Maß brachten und als Opfergabe in den Eingang des Tunnels legten, durch den wir hierhergelangt sind?«

Wir blickten erstaunt auf, und sie fuhr fort: »Ja, so war es. Es war ein Mann, der sich Noot nannte, und obgleich er später als das Volk von Kor lebte, verfügte er doch über seine Weisheit. Ein Eremit war er und ein Philosoph, wohlvertraut mit den Rätseln der Natur; er war es, der das Feuer, welches ich euch zeigen will, entdeckte, das Feuer, in dem Blut und Leben der Natur sind und das dem, der darin badet und atmet, ein Leben spendet, das so lange währt, wie die Natur lebt. Doch gleich dir, o Holly, verschmähte es dieser Mann Noot, aus seinem Wissen Nutzen zu ziehen. >Vom Übel<, so sagte er, >ist das Leben für den Menschen, denn der Mensch wird geboren, um zu sterben.< Deshalb vertraute er sein Geheimnis niemandem an; deshalb wählte er diese Höhle als Be-hausung, an welcher die das Leben Suchenden vorüberkommen mußten, und die Amahagger jener Zeit verehrten ihn als Heiligen und Eremiten. Und als ich in dieses Land kam - weißt du, Kallikrates, wie ich hierherkam? Ich will es dir ein andermal erzählen, es ist eine seltsame Geschichte -, damals also hörte ich von diesem Philosophen. Ich wartete auf ihn, als er seine Nahrung holte, und begleitete ihn, obwohl ich große Furcht hatte, die Schlucht zu überschreiten, hierher. Dann betörte ich ihn mit meiner Schönheit und meinem Witz und durch schmeichlerische Worte, so daß er mich schließlich hinabführte und mir die Geheimnisse des Feuers anvertraute, doch erlaubte er mir nicht, darin zu baden, und aus Furcht, er könnte mich erschlagen, gehorchte ich, zumal ich sah, daß er schon sehr alt war und bald sterben würde. Ich kehrte zurück, nachdem ich alles, was er von dem wunderbaren Weltgeist wußte, erfahren hatte, und das war viel, denn der Mann war weise und uralt und hatte durch Reinheit, Enthaltsamkeit und Betrachtung seines unschuldigen Geistes den Schleier zwischen dem uns Sichtbaren und den großen unsichtbaren Wahrheiten, deren leiser Flügelschlag zuweilen durch die grobe Luft des Irdischen zu uns dringt, nahezu zerrissen. Dann, wenige Tage später, traf ich dich, mein Kallikrates, der du mit der schönen Ägypterin Amen-artas hierhergewandert warst, und ich lernte zum erstenmal, für immer und ewiglich, zu lieben, was mich bewog, mit dir an diesen Ort zu kommen und für dich und mich die Gabe des Lebens zu empfangen. So begaben wir uns gemeinsam mit der Ägypterin, die nicht von dir lassen wollte, hierher und entdeckten, daß der alte Noot gestorben war - wie es schien, noch gar nicht lange. Dort lag er, von seinem langen weißen Bart bedeckt«, und sie deutete auf eine Stelle neben mir, »doch sicherlich ist er indessen längst zu Staub zerfallen, und der Wind hat seine Asche fortgetragen.«

Ich streckte meine Hand aus und tastete im Staub herum, bis meine Finger plötzlich etwas berührten. Es war ein Menschenzahn, stark vergilbt, doch unversehrt. Ich hob ihn auf, zeigte ihn Ayesha. Lachend sagte sie:

»Ja, er ist ohne Zweifel von ihm. Siehe, was von Noot und von Noots Weisheit geblieben ist - ein kleiner Zahn! Das ganze Leben hätte er haben können und wollte es um seines Gewissens willen nicht. Dort lag er also, noch gar nicht lange tot, und wir stiegen dorthin hinab, wohin ich euch führen werde, und dann trat ich, all meinen Mut zusammennehmend und den Tod wagend, um die herrliche Krone des Lebens zu gewinnen, in die Flammen, und seht! Leben, wie ihr es niemals kennen werdet, bis auch ihr es fühlt, floß in mich, und ewig jung und schön über alle Maßen trat ich daraus hervor. Ich streckte meine Arme nach dir aus, Kallikrates, und bat dich, mich auf ewig zur Braut zu nehmen, doch du wandtest, als ich sprach, geblendet von meiner Schönheit, dich ab und legtest deine Arme um Amenartas' Hals. Da erfüllte mich wilder Zorn und raubte mir die Vernunft, und ich entriß dir deinen Speer und durchbohrte dich mit ihm, so daß du dort, vor meinen Füßen, am Ort des Lebens tot niedersankst. Ich wußte damals noch nicht, daß ich mit meinen Augen und der Kraft meines Willens töten kann, und erstach dich deshalb in meinem Zorn mit dem Speer.[23]

Ach, wie weinte ich, als du tot warst, daß ich die Gabe ewiger Jugend besaß. So sehr weinte ich dort am Ort des Lebens, daß mir sicherlich, wäre ich sterblich gewesen, das Herz gebrochen wäre. Und sie, die dunkelhäutige Ägypterin - sie verfluchte mich bei ihren Göttern. Bei Osiris verfluchte sie mich und bei Isis, bei Nephtys und bei Anubis, bei Sachmet, der Löwenhäuptigen, und bei Set; bei ihnen allen wünschte sie Böses auf mich herab, Böses und nie endende Einsamkeit. Ach, noch jetzt sehe ich ihr dunkles Gesicht wie eine Sturmwolke über mir dräuen, doch anhaben konnte sie mir nichts, und ich wußte nicht, ob ich sie vernichten konnte. Ich versuchte es nicht, mir lag damals nichts daran; und so trugen wir dich gemeinsam fort. Und später schickte ich sie - die Ägypterin -hinweg durch die Sümpfe, und es scheint, sie blieb am Leben und gebar einen Sohn und schrieb die Geschichte nieder, die dich, ihren Gemahl, zurückführte zu mir, ihrer Rivalin und deiner Mörderin.

Dies war die Geschichte, mein Geliebter, und jetzt ist die Stunde da, die sie krönen soll. Wie alles auf Erden, besteht sie aus Bösem und aus Gutem - vielleicht mehr aus Bösem als aus Gutem -, und sie ist in blutigen Lettern geschrieben. Es ist die Wahrheit; ich habe dir nichts verschwiegen, Kallikrates. Und nun noch eins vor dem Augenblick deiner Prüfung. Wir begeben uns hinab in des Todes Gegenwart, denn Leben und Tod sind enge Nachbarn, und wer weiß, ob nicht etwas geschehen wird, das uns wiederum für Ewigkeiten trennt? Ich bin nur ein Weib, keine Prophetin, welche die Zukunft lesen kann. Doch eines weiß ich - ich erfuhr es aus dem Munde des weisen Mannes Noot -: daß mein Leben nur verlängert und von stärkerem Glanz erfüllt ist. Doch ewig währt mein Leben nicht. Deshalb, o Kallikrates, sage mir, bevor wir gehen, daß du mir wahrhaftig verzeihst und mich von Herzen liebst. Siehe, Kallikrates: ich tat viel Böses - vielleicht war es böse, vor zwei Nächten das Mädchen, das dich liebte, zu töten -, doch sie widersetzte sich mir und erfüllte mich mit Zorn, indem sie mir Unglück prophezeite, und deshalb erschlug ich sie. Sieh dich vor, wenn auch du die Macht erhältst, daß du nicht gleichfalls voll Zorn und Eifersucht tötest, denn unbesiegbare Kraft ist eine gefährliche Waffe in eines irrenden Menschen Hand. Ja, ich habe gesündigt - gesündigt dank der Bitternis einer großen Liebe -, aber dennoch kann ich das Gute vom Bösen unterscheiden, und mein Herz ist nicht ganz verhärtet. Deine Liebe, Kallikrates, soll das Tor meiner Erlösung sein, so wie vor Zeiten meine Leidenschaft der Pfad war, der mich zum Bösen führte. Denn tiefe, nicht erhörte Liebe ist die Hölle edler Herzen und die Mitgift der Verdammten; Liebe jedoch, die noch reiner von der Seele des Erwählten widergespiegelt wird, verleiht uns Flügel, die über uns Selbst uns erheben und zu dem machen, was wir sein können. Darum, Kallikrates, reiche mir deine Hand und lüfte meinen Schleier so furchtlos, als sei ich nur ein Bauernmädchen und nicht die weiseste und schönste Frau auf dieser weiten Welt, und sieh mir in die Augen und sage mir, daß du mir von ganzem Herzen vergibst und daß du mich von ganzem Herzen liebst.«

Sie hielt inne, und die seltsame Zärtlichkeit ihrer Stimme schien uns wie ein Vermächtnis zu umschweben. Ihr Klang rührte mich noch mehr als ihre Worte, so menschlich war er - so tief weiblich. Auch Leo war seltsam angerührt. Bisher war er wider sein besseres Urteil von ihr bestrickt gewesen, so wie ein Vogel von einer Schlange, doch nun schien all dies von ihm abzufallen, und er erkannte, daß er dieses seltsame und prächtige Geschöpf wahrhaftig liebte, so wie, ach, ich es liebte. Ich sah, wie seine Augen sich mit Tränen füllten, und dann trat er rasch zu ihr, hob den dünnen Schleier, ergriff ihre Hand und sagte, tief ihr in die Augen blickend:

»Ayesha, ich liebe dich von ganzem Herzen, und soweit dies in meiner Macht steht, vergebe ich dir Ustanes Tod. Was sonst gewesen ist, mußt du mit deinem Schöpfer abmachen; ich weiß nichts davon. Ich weiß nur, daß ich dich liebe, wie ich nie zuvor geliebt, und daß ich, mag es nah oder fern sein, bis zum Ende der Deine bleiben werde.«

»Nun«, erwiderte Ayesha in stolzer Demut, »da mein Gebieter so königlich spricht und mich so reich beglückt, will ich ihm in Worten nicht nachstehen und mich an Hochherzigkeit beschämen lassen. Siehe!« und sie nahm seine Hand und legte sie auf ihr schönes Haupt und sank langsam vor ihm nieder, bis ihr Knie einen Augenblick den Boden berührte, »siehe! zum Zeichen meiner Ergebenheit sinke ich vor meinem Herrn aufs Knie! Siehe!« und sie küßte ihn auf den Mund, »zum Zeichen meiner Liebe küsse ich meinen Herrn. Siehe!«, und sie legte ihre Hand auf sein Herz, »bei meiner Sünde, bei den Jahrhunderten der Einsamkeit und des Wartens, die sie tilgten, bei der großen Liebe, die mich erfüllt, und bei dem Ewigen Geist, der alles Leben zeugt und zu dem alles Leben wiederum zurückkehren muß - schwöre ich:

Ich schwöre in dieser ersten heiligsten Stunde erfüllter Weiblichkeit, daß ich dem Bösen entsagen und mich dem Guten verschreiben will. Ich schwöre, daß ich, geleitet von deinem Wort, stets dem geraden Pfad der Pflicht folgen will. Ich schwöre, daß ich allen Ehrgeiz ablegen und mir für alle meine endlosen Tage die Weisheit zum Leitstern küren will, der mich zur Wahrheit und zur Erkenntnis des Rechten führen soll. Ich schwöre, daß ich dich ehren und lieben will, Kallikrates, den die Woge der Zeit zurück in meine Arme trieb, ja, bis ans Ende, mag es bald kommen oder spät. Ich schwöre - nein, genug der Schwüre, was sind schon Worte? Doch du wirst erkennen, daß Ayeshas Zunge frei von Falsch ist.

Ich habe es geschworen, und du, mein Holly, bist Zeuge meines Eides. Nun, mein Gatte, sind wir vermählt, vermählt bis ans Ende aller Tage - das Dunkel ist unser Traualtar, und das Gelübde unserer Ehe schreiben wir in den Sturm, der es empor zum Him-mel tragen soll und immer wieder rund um diese Welt, so lange sie sich dreht.

Als Hochzeitsgabe setze ich dir aufs Haupt die Sternenkrone meiner Schönheit und schenke dir unbegrenztes Leben, Weisheit ohne Maß und unbeschränkten Reichtum. Siehe! Die Großen dieser Welt sollen dir zu Füßen liegen, ihre schönen Frauen vor dem strahlenden Glanz deiner Gestalt die Augen sich verhüllen, und ihre Weisen soll dein Wissen beschämen. Du sollst in den Herzen der Menschen lesen wie in einem offenen Buch und sie führen, wohin es dir beliebt. Gleich jener alten Sphinx Ägyptens sollst ewiglich du über ihnen thronen, anflehen sollen sie dich, ihnen das Rätsel deiner unvergänglichen Größe zu enthüllen, und du sollst mit deinem Schweigen ihrer spotten!

Siehe! Noch einmal küsse ich dich, und mit diesem Kuß gebe ich dir Herrschaft über Land und Meer, über den Bauer in seiner Hütte, über den König in seinem Palast, über die mit Türmen gekrönten Städte und alle, die in ihnen wohnen. So weit der Sonne Strahlen reichen, wo immer in stillen Wassern der Mond sich spiegelt, wo immer Stürme brausen und des Himmels blauer Bogen sich wölbt - vom reinen schneeverhüllten Norden bis zum liebestrunkenen Süden, der auf dem blauen Lager der Meere ruht gleich einer Braut -, soll deine Macht sich erstrecken, deine Herrschaft eine Heimstatt haben. Keine Krankheit, weder Furcht noch Sorge noch Vergänglichkeit des Leibes und des Geistes, wie sie allen anderen Menschen drohen, sollen mit den Schatten ihrer Flügel dich auch nur streifen. Einem Gotte gleich sollst du Gut und Böse in deiner Hand halten, und ich, selbst ich, demütige mich vor dir. Dies ist die Macht der Liebe, dies die Hochzeitsgabe, die ich dir schenke, Kallikrates, Geliebter, mein Gebieter und Gebieter des Alls.

Nun ist es geschehen; nun habe ich meine Jungfräulichkeit dir hingegeben; und ob Sturm kommt, ob Sonnenschein, ob Gutes oder Böses, ob der Tod -nichts kann es jemals ungeschehen machen. Denn wahrhaft, es ist, was ist, und was geschehen ist, ist geschehen für immer und unabänderlich. - Doch jetzt laßt uns aufbrechen, damit alles in rechter Ordnung sich erfüllt«, und eine der Lampen ergreifend, schritt sie uns voran zum Ende der von dem schwankenden Stein überdachten Kammer und blieb dort stehen.

Wir folgten ihr und bemerkten in der Wand des Felskegels eine Treppe oder besser einige vorspringende Steinzacken, die einer Treppe ähnelten. Ayesha sprang flink wie eine Gemse hinab, und wir folgten ihr weniger anmutsvoll. Nach etwa zehn oder zwölf derartigen Stufen endete die Treppe in einem schrecklich steilen Abhang, der sich zuerst nach außen und dann nach innen wandte. Trotz seiner Steilheit war er jedoch nicht unpassierbar, und wir stiegen ihn beim Licht der Lampe ohne große Mühe hinab, obgleich wir uns bei dem Gedanken, daß wir in das Innere eines toten Vulkans eindrangen, ganz und gar nicht behaglich fühlten. Zur Vorsicht prägte ich mir den Weg so gut wie möglich ein; was gar nicht so schwierig war, denn überall lagen Felsbrocken von höchst merkwürdiger und phantastischer Gestalt herum, von denen viele in dem schwachen Licht den grimmigen Fratzen mittelalterlicher Wasserspeier glichen.

Lange stiegen wir so hinab, mindestens eine halbe Stunde, bis wir nach vielen hundert Fuß endlich die Spitze des umgekehrten Kegels erreichten. Dort befand sich die Mündung eines Ganges, der so niedrig und eng war, daß wir uns bücken und im Gänsemarsch hindurchkriechen mußten. Nach etwa fünfzig Metern erweiterte sich der Gang plötzlich zu einer Höhle, die so riesengroß war, daß wir weder ihre Decke noch ihre Wände erkennen konnten. Nur am Echo unserer Schritte, der tiefen Stille und der stickigen Luft erkannten wir, daß es eine Höhle war. Viele Minuten lang schritten wir in ehrfurchtsvollem Schweigen weiter wie verlorene Seelen im Hades, vor uns Ayeshas weiße, geisterhaft schwebende Gestalt, bis wiederum die Höhle in einem Gang endete, der in eine zweite, viel kleinere Höhle führte. Deutlich konnten wir ihre gewölbte Decke und die Wände erkennen, und aus ihrem zerklüfteten Aussehen schlossen wir, daß sie gleich dem Gang, der uns durch das Innere des Felsens zu dem zitternden Felssporn geführt, durch eine ungeheure Gasexplosion entstanden war. Diese Höhle endete schließlich in einem dritten Gang, durch den ein schwacher Lichtschimmer drang.

Ich hörte, wie Ayesha erleichtert seufzte, als sie dieses Licht erblickte.

»Macht euch bereit«, sprach sie, »den tiefsten Schoß der Erde zu betreten, in dem sie das Leben empfängt, das Mensch und Tier erfüllt - ja jeden Baum und jede Blume. Seid bereit, o Männer, denn hier sollt ihr neu geboren werden!«

Flink eilte sie voran, und voll Furcht und Neugier stolperten wir ihr nach, so gut es ging. Was für ein Anblick würde sich uns bieten? Während wir den Gang hinabliefen, wurde der Lichtschein immer heller, und seine grellen Büschel trafen uns wie die Strahlen eines Leuchtturms, die einer nach dem an-dern über dunkle Meeresweiten huschten. Doch dies war nicht alles, denn mit den Strahlen drang uns ein markerschütterndes Getöse entgegen, das wie das Donnern und Krachen vom Blick gefällter Bäume klang. Nun waren wir am Ende des Ganges und - o Himmel!

Wir standen in einer dritten Höhle, etwa fünfzig Fuß lang und hoch und dreißig Fuß breit. Ihr Boden war mit feinem weißen Sand bedeckt und ihre Wände durch irgendeinen mir unbekannten Prozeß seltsam geglättet. Die Höhle war nicht finster wie die anderen, sondern vom milden Schein eines rosigen Lichts erfüllt, schöner als alles, was ich je gesehen hatte. Wir sahen zuerst jedoch keine Strahlen und hörten das donnernde Geräusch nicht mehr. Plötzlich aber, als wir so dastanden, voll Staunen das wunderbare Bild betrachteten und uns fragten, woher dieser riesige Lichtschein wohl kam, geschah etwas Schreckliches und zugleich unsagbar Schönes. Vom anderen Ende der Höhle kam ein lautes Zischen und Krachen, welches so unheimlich und furchteinflößend war, daß wir alle erschauderten und Job sogar auf die Knie sank, und eine mächtige Wolke oder Säule aus Feuer, vielfarbig wie ein Regenbogen und grell wie ein Blitz, flammte auf. Vielleicht vierzig Sekunden lang schoß sie lodernd und donnernd und langsam sich im Kreise drehend empor, dann wurde der fürchterliche Lärm allmählich leiser und verstummte, während das Feuer verlosch, und zurück blieb nur der rosige Lichtschein, den wir anfangs gesehen hatten.

»Tretet näher, tretet näher!« rief Ayesha in jubelndem Ton. »Sehet den Quell, das Herz des Lebens, wie es pocht im Busen der großen Welt. Sehet den Stoff, aus dem alle Dinge ihre Kraft ziehen, den strahlenden Geist der Welt, ohne den sie nicht leben kann, sondern erkalten und sterben muß wie der tote Mond. Tretet näher und badet in den lebenden Flammen und laßt ihre Kraft in all ihrer jungfräulichen Stärke in eure armseligen Körper strömen - nicht wie sie jetzt schwach in euren Busen glüht, gefiltert durch die feinen Siebe Tausender dazwischen befindlicher Leben, sondern so, wie sie hier ist im Quell und Sitz allen irdischen Seins.«

Wir folgten ihr durch den rosigen Lichtschein zum Ende der Höhle, bis wir schließlich an der Stelle standen, wo der mächtige Puls schlug und die große Flamme entsprang. Und während wir uns ihr näherten, erfüllte uns eine wilde, köstliche Empfindung, ein herrliches Gefühl solch ungestümer Lebenskraft, daß unsere bisherige Stärke uns matt und lahm und schwach erschien. Es war das bloße Fluidum der Flamme, der hauchfeine Äther, den sie zurückgelassen hatte, der auf uns wirkte und uns das Gefühl verlieh, wir seien stark wie Riesen und flink wie Adler.

Als wir das andere Ende der Höhle erreichten, blickten wir einander in dem herrlichen Lichtschein an und brachen in unserer Leichtherzigkeit und göttlichen Berauschtheit in lautes Lachen aus - selbst Job, der seit einer Woche nicht ein einziges Mal gelacht hatte. Mir war, als seien alle genialen Kräfte, deren der menschliche Geist fähig ist, in mir aufgeblüht. Ich hätte Verse von Skakespearescher Schönheit sprechen können, und allerlei großartige Gedanken durchzuckten mich; es schien, als hätten sich die Fesseln meines Fleisches gelöst, als sei mein Geist frei, sich zum himmlischen Reiche seines Ursprungs emporzuschwingen. Die Empfindungen, die mich durchströmten, sind unbeschreiblich. Erfüllt von neuem, klarerem Leben und fähig einer nie empfundenen Freude, schien ich aus einem Pokal tieferen Wissens zu schlürfen, als mir je beschieden war. Mein Selbst war wie verwandelt und verklärt, und sämtliche Bereiche des Möglichen lagen offen vor mir.

Da plötzlich, während ich mich an dieser wunderbaren Kraft meines neugefundenen Selbst berauschte, drang von fernher ein unheimliches brodelndes Geräusch an mein Ohr, welches langsam zu einem Krachen und Tosen anschwoll und alles Schreckliche und alles Schöne, das einem Ton nur innewohnen kann, in sich vereinte. Näher und immer näher kam es, auf uns zurollend, wie alle Donnerräder des Himmels hinter den Pferden des Blitzes, und mit ihm die strahlend helle Wolke vielfarbigen Lichtes, die eine Weile, langsam sich um sich drehend, vor uns stehenblieb und dann, begleitet von dem Donnerlärm -wohin, weiß ich nicht - entschwand.

So überwältigend war dieser Anblick, daß wir uns alle, bis auf >Sie<, die aufrecht dastand und ihre Hände dem Feuer entgegenstreckte, davor niederwarfen und die Gesichter im Sand verbargen.

Als es verschwunden war, sprach Ayesha.

»Endlich, Kallikrates«, sagte sie, »ist der große Augenblick gekommen. Wenn die Flamme wiederkehrt, mußt du in ihr baden. Wirf deine Kleider von dir, denn sie würde sie verbrennen, obgleich sie dich selbst nicht verletzen wird. Du mußt in der Flamme stehen bleiben, solange deine Sinne es ertragen, und wenn sie dich umarmt, sauge das Feuer tief bis zu deinem Herzen ein und laß es jeden Teil von dir umspielen, so daß kein Hauch von seiner Kraft verlorengeht. Hast du mich verstanden, Kallikrates?«

»Ja, ich habe verstanden, Ayesha«, erwiderte Leo, »doch, obwohl ich wahrlich kein Feigling bin, fürchte ich dieses schreckliche Feuer. Wie kann ich wissen, ob es mich nicht gänzlich zerstören wird, so daß ich mich und auch dich verliere? Trotzdem will ich es tun«, fügte er hinzu. Ayesha dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Es wundert mich nicht, daß du dich fürchtest. Sage mir, Kallikrates: Wenn du mich in der Flamme stehen und unversehrt aus ihr hervortreten sähest, würdest du dich ihr auch anvertrauen?«

»Ja«, antwortete er, »ich will es tun, selbst wenn sie mich tötet! Ja, ich will es tun!«

»Und ich will es auch!« rief ich.

»Ei, mein Holly!« lachte sie laut. »Ich dachte, du wolltest nichts von langem Leben wissen? Hast du dich eines anderen besonnen?«

»Ich weiß nicht«, entgegnete ich, »doch eine innere Stimme ruft mir zu, von der Flamme zu kosten und aus ihr Lebenskraft zu schöpfen.«

»Das höre ich gern«, sagte sie. »So bist du also doch nicht ganz der Torheit verfallen. Seht, ich will ein zweites Mal in diesem Lebensquell mich baden. Vielleicht kann ich dadurch meine Schönheit und meine Lebensspanne noch vergrößern. Und sollte dies nicht möglich sein, so kann es mir doch gewiß nicht schaden.

Doch es gibt noch einen anderen Grund«, fuhr sie nach kurzer Pause fort, »warum ich noch einmal in das Feuer tauchen will. Als ich das erstemal von seiner Kraft kostete, war mein Herz voll Leidenschaft, voll Haß auf diese Ägypterin Amenartas, und deshalb sind trotz allen Strebens, mich davon zu befreien, Leidenschaft und Haß seit jener traurigen Stunde meiner Seele eingeprägt geblieben. Jetzt aber ist es anders. Jetzt bin ich glücklicher Stimmung, und reinste Gedanken erfüllen mich, und so soll es für immer sein. Darum, Kallikrates, will ich noch einmal in die Flamme tauchen und mich reinigen und läutern, auf daß ich deiner noch mehr würdig bin. Darum auch verbanne du, wenn du in dem Feuer stehst, alles Böse aus deinem Herzen und lasse milden Frieden in deine Seele ziehen. Entfalte die Schwingen deines Geistes, gedenke deiner Mutter Kuß und beschwöre in dir das Höchste herauf, das je auf silbernen Schwingen durch die Stille deiner Träume schwebte. Denn aus dem Keime dessen, was in diesem erhabenen Augenblick du bist, wird die Frucht dessen erwachsen, was du hinfort für alle Zeiten sein wirst.

Nun rüste dich, nun sei bereit, als nahe deine letzte Stunde, als solltest du ins Land der Schatten treten und nicht durch der Glorie Pforten in das Reich strahlend schönen Lebens. Sei bereit!«

Загрузка...