Wie man Träume fängt

Der gute Riese stellte den Koffer ab. Dann bückte er sich weit nach unten, so daß sein Riesengesicht ganz nah an Sophiechens Gesicht herankam. «Jetzt müssen wir so leise sein wie die Mucksmäuschen», flüsterte er.

Sophiechen nickte mit dem Kopf. Die Nebelschwaden dampften um sie herum, so daß ihre Backen feucht wurden und lauter Tautröpfchen in ihren Haaren hingen. Der GuRie klappte seinen Koffer auf und holte mehrere leere Gläser heraus. Die stellte er mit abgeschraubtem Deckel auf den Boden und richtete sich dann wieder zu seiner vollen tollen Körperlänge empor. Sein Kopf ragte nun hoch droben in die wabernden Wolken hinein und war mal verschwunden und mal wieder zu sehen. In seiner Rechten hielt er die lange Stange mit dem Netz. Sophiechen spähte angestrengt in die Höhe und konnte im Nebel erkennen, wie der Riese seine gigantischen Segelohren aufrichtete und dann ganz sachte mit ihnen hin und her wedelte.

Plötzlich machte der GuRie einen Luftsprung. Er schnellte in die Höhe und ließ das Netz mit einer weit ausholenden Armbewegung durch die Dampfwolken sausen. «Ich hab ihn!» rief er. «Ein Glas! Ein Glas! Schnell, schnell, schnell!» Sophiechen nahm eines der Gläser und hielt es ihm hoch. Sofort griff GuRies große Hand danach. Die andere Hand führte das Netz heran und kippte ganz behutsam und vorsichtig etwas Unsichtbares aus dem Netz in das Glas. Sofort ließ der Riese das Netz fallen und hielt mit der einen Hand das Glas zu. «Der Deckel!» flüsterte er. «Gib mal schnell den Deckel für das Glas!» Sophiechen hob den Schraubdeckel auf und reichte ihn dem GuRie hinauf. Der schraubte ihn fest zu, und nun war das Glas dicht verschlossen. Der GuRie war ganz aufgeregt. Er hielt sich das Glas ans Ohr und lauschte gespannt.

«Das ist ein Seidenspinner», flüsterte er voller Begeisterung. «Oder nein - nein - das ist - das ist doch etwas noch viel Besseres! Ein Schlummy ist das! Jawohl, ein goldener Schlummy!»

Sophiechen sah ihn verdattert an.

«Jawoll, jawoll, das ist ja toll!» sagte er und hielt das Glas in Augenhöhe. «Der hier läßt ein kleines Kind herrlich träumen, wenn ich den in seinen Schlummer hineingepustet habe!»

«Ist das wirklich ein schöner Traum?» fragte Sophiechen.

«Ein schöner?» rief er aus. «Das ist ein goldener Schlummy! Es kommt nicht oft vor, daß ich so einen erwische.» Er gab Sophiechen das Glas und sagte: «Bitte, sei jetzt mal still wie Steinpilz. Ich glaube, heute ist da oben ein ganzer Schwarm von Schlummys unterwegs. Würdest du mal aufhören mit Atmen? Du machst fürchterbar viel Krach da unten.»

«Kein bißchen habe ich mich bewegt», sagte Sophiechen.

«Dann laß das bleiben», befahl der GuRie. Schon hatte er sich wieder aufgerichtet und ragte in den Nebel hinein, das Fangnetz lauernd im Anschlag. Lange Zeit herrschte tiefstes Schweigen: Es wurde gewartet, es wurde gehorcht ... bis schließlich und endlich und völlig überraschend der große Luftsprung kam und das Sausen des Netzes.

«Das nächste Glas!» rief er. «Schnell, schnell, schnell!» Sobald der zweite Traum im Glas gefangen saß und der Deckel fest zugeschraubt war, hielt ihn sich der GuRie ans Ohr.

«O nein!» rief er. «Ach, du meine Tüte! Das ist ja zum Auswandern! Ich glaub, mich laust der Affe!»

«Was ist denn los?» fragte Sophiechen.

«Das ist ja ein Borstenbuckler!» schimpfte er. Seine Stimme klang wütend und gequält. «Hilfe! Hilfe! Rette mich, wer's kann!» schrie er. «Erlöse uns von dem Kübel! Der Teufel soll ihn holen!»

«Wovon redest du überhaupt?» fragte Sophiechen. Der GuRie wurde immer wütender. «Das hält man ja im Kopf nicht aus!» jammerte er und schwenkte das Glas. «Da macht man nun diese lange Reise, um schöne goldene Träume zu fangen. Und was fängt man?» «Ja, was fängt man?» fragte Sophiechen. «Einen fürchterhaften Borstenbuckler fängt man!» rief er. «Das ist aber ein böser, böser Traum. Das ist ja noch schlimmer als ein böser Traum. Das ist ja ein Alptraum!» «Ach, du meine Güte!» sagte Sophiechen. «Und was machst du mit dem?»

«Den laß ich auf keinen Fall wieder frei!» rief der GuRie. «Wenn ich das tue, dann wird nämlich irgendein armes kleines menschliches Leberwesen-Würmchen einen grauenhaften Traum träumen und Todesängste durchmachen. Dieser Traum hier ist ein richtiger Todesangst-Schocker. Sowie ich zu Hause bin, explodier ich den!» «Alpträume sind etwas Schreckliches», sagte Sophiechen. «Einmal hab ich auch einen gehabt, und als ich endlich aufwachte, war ich klatschnaßgeschwitzt.» «Bei diesem hier würdest du nicht bloß schwitzen, sondern schreien!» sagte der GuRie. «Bei dem würden dir die Zähne zu Berge stehen! Wenn du den abkriegst, erstarren dir die Adern zu Eiszapfen, und deine Gänsehaut verkriecht sich in den hintersten Enkeln und Windeln!» «Ist der wirklich so schlimm?»

«Noch schlimmer!» rief der GuRie. «Der hier ist ein richtiger Folterkreischquäler!»

«Eben hast du ihn aber noch Borstenbuckler genannt», erinnerte ihn Sophiechen.

«Das ist auch ein Borstenbuckler!» rief der GuRie etwas ungeduldig aus. «Aber außerdem ist es auch noch ein Todesangst-Schocker und auch noch ein Folterkreischquäler! Es ist alles drei auf einmal. Ach, was bin ich doch froh, daß ich den in der Falle habe! Du böses, böses Alpträumchen, du!» rief er, hielt das Glas in die Höhe und blickte hinein. «Nie, nie wieder wirst du die armen kleinen menschlichen Leberwesen-Kinder vergruseln!»

Sophiechen starrte auch in das Glas und rief: «Ich seh was! Da ist etwas drin!»

«Aber natürlich ist da drinnen etwas drinnen», sagte der GuRie. «Was du da siehst, ist ein fürchterhafter Borstenbuckler.»

«Du hast mir aber doch gesagt, Träume sind unsichtbar.»

«Die sind auch immer unsichtbar, bis sie gefangen sind», erzählte ihr der GuRie. «Danach verlieren sie ein bißchen von ihrer Unsichtbarkeit. Diesen hier kann man sehr deutlich sehen.»

Im Inneren des Glases konnte Sophiechen etwas erkennen, etwas Glutrotes, das sah aus wie ein Klumpen aus Gas oder wie ein Klacks Glibberpudding. Dieses glutrote Ding war in heftiger Bewegung, es prallte andauernd gegen die Wände des Glasgefäßes und nahm ständig andere Formen an.

«Das glitscht und rutscht überall herum!» rief Sophiechen. «Es will unbedingt raus! Es wird sich noch in Stücke reißen!»



«Je schlimmer der Traum ist, desto wütender tobt er, wenn er gefangen ist», sagte der GuRie. «Das ist genauso wie bei den wilden Tieren. Wenn ein Tier sehr wild ist und du sperrst es in einen Käfig, dann gibt es ein wüstes Holterdiepolter. Hast du aber ein liebes Tier wie zum Beispiel einen Papageienschwanz oder ein Eichelschmeichelhörnchen -die bleiben ganz ruhig sitzen. Bei den Träumen ist es haar-genauso. Der hier ist ein böser, wilder, reißender Alptraum. Du siehst ja, wie er sich gegen die Glaswände schmettert.»

«Da wird mir richtig angst und bange!» sagte Sophiechen. «Den Traum würde ich wirklich nicht gern träumen in einer dunkelhaftigen Schauernacht», sagte der GuRie. «Ich auch nicht», sagte Sophiechen.

Der GuRie fing an, seine Glasgefäße in den Koffer zu packen.

«Schon Schluß?» fragte Sophiechen. «Kehren wir um?» «Ich bin fix und fertig von diesem borstenbuckligen, todesangstschockerhaften Folterkreischquäler», sagte der GuRie. «Ich hab keine Lust mehr. Schluß für heute mit dem Träumefangen.»

Wenig später saß Sophiechen wieder in der Westentasche, und der GuRie rannte so schnell er konnte nach Hause. Als sie endlich die neblige Gegend hinter sich hatten und wieder in das heiße, gelbe Wüstenland kamen, lagen die anderen Riesen alle auf dem Boden ausgestreckt und schliefen tief.

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