Der Dichter

Alle Länder der Welt, die vorher von den bösen Menschenfresser-Riesen heimgesucht worden waren, schickten Glückwunschtelegramme und Dankadressen an den GuRie und Sophiechen.

Könige und Kaiser, Kanzler und Kommandeure, Präsidenten und Ministerpräsidenten und Machthaber aller Art überhäuften den haushohen Riesen und das kleine Mädchen mit Lob und Dank, mit Orden und Geschenken. Der Herrscher von Indien schickte dem GuRie einen wunderschönen Elefanten, wie er ihn sich sein Leben lang so sehr gewünscht hatte.

Der König von Arabien schenkte beiden ein Dromedar.


Der Dalai Lama von Tibet schickte beiden ein Lama. Die Stadt Berlin schickte mehrere Tonnen Berliner Pfannkuchen.

Die Wiener schickten Wiener Würstchen.

Die Frankfurter schickten Frankfurter Würstchen.

Die Prager schickten Prager Schinken.

Die Nürnberger schickten Lebkuchen.

Die Norweger schickten schöne Pullover.

Die Tunesier schickten Thunfisch.

Die Türken schickten Honig.

Die Bayern schickten Bier, aus Genf kam Senf, aus Salzburg Salz, aus Stockholm Spazierstöcke, aus Kastilien Kastanien, aus Peking Enten, aus Kalkutta Butter und aus Sizilien weiße Lilien.

Die Dankbarkeit aller Menschen nahm einfach kein Ende.

Die Königin von England gab den Befehl zum Bau eines besonderen Hauses mit enorm hohen Zimmern und gewaltigen Türen - und zwar im großen Park gleich neben ihrem eigenen Schloß. Darin sollte der GuRie wohnen. Ein niedliches, gemütliches Häuschen wurde direkt nebenan gebaut: für Sophiechen. GuRies Haus bekam eine hervorragend eingerichtete Traumothek mit Hunderten von Regalen, auf denen der Gute Riese seine geliebten Glasgefäße aufbewahren konnte. Obendrein wurde ihm auch noch der Titel eines «Königlichen Oberhofgeheim-rats für das gesamte Traumwesen» verliehen. Auf diese Weise durfte er in jeder beliebigen Nacht an jeden beliebigen Ort galoppieren und seine herrlichen Wunschpunsche von Träumen den schlafenden Kindern einflößen. Nicht lange, und er bekam Millionen und Abermillionen Briefe von Kindern, die ihn um einen Besuch baten. Kein Wunder, daß mit der Zeit immer mehr neugierige Touristen aus allen Teilen der Welt angereist kamen, um endlich mit eigenen Augen die neun entsetzlichen Menschenfresser-Riesen in der abgrundtiefen Grube zu besichtigen. Vor allem kamen sie in Massen, wenn die Riesen gefüttert wurden: wenn der Wärter die neuen Kotzgurken hinunterwarf. Dann freuten sich die Zuschauer über das Wutgeheul und Schmerzgeschrei, das aus der Grube aufstieg, sobald die Riesen ihre häßlichen Mäuler stopften mit dem allerekligsten Zeug, das auf Erden wächst. Einmal kam es zur Katastrophe. Drei Männer waren dumm genug, sich den Bauch mit viel zuviel Bier vollaufen zu lassen. In ihrem Rausch beschlossen sie, über den hohen Bretterzaun am Grubenrand hinwegzuklettern, und stürzten natürlich ab in die Tiefe. Unten bei den Riesen erhob sich schrilles Freudengeschrei, danach war nur noch das Krachen und Splittern von Knochen zu hören. Sofort ließ der Oberwärter ein großes Schild am Zaun anbringen. Darauf war zu lesen: RIESEN FÜTTERN STRENG VERBOTEN. Danach war endlich Schluß mit den Katastrophen.



Der GuRie äußerte den Wunsch, richtig sprechen zu lernen, und Sophiechen, die ihn wie einen Vater liebte, gab ihm jeden Tag Nachhilfestunden im Sprechen. Sie brachte ihm sogar bei, wie man richtig buchstabiert und richtige Sätze formuliert, und er erwies sich als ein glänzend begab-ter Schüler. In seiner Freizeit las er Bücher. Er entwickelte sich zu einer regelrechten Leseratte. Er las alles von Grimmelshausen (den er nun nicht mehr Himmels Grausen nannte). Er las Karl May und Mark Twain und Böll und Busch und Grass und Lenz und Jens und wie sie alle heißen. Natürlich auch Goethe, Schiller und Konsorten. Er las Tausende von Büchern. Bald fing er auch an, selber etwas zu schreiben, kleine Aufsätze über sein Leben früher. Sophiechen las einige davon und meinte: «Das liest sich sehr gut. Ich glaube, eines Tages wirst du noch ein richtiger Schriftsteller.»

«Au ja, das wäre schön!» jubelte der GuRie. «Glaubst du wirklich, ich kann das?»

«Ich weiß genau, daß du das kannst», sagte Sophiechen. «Warum fängst du nicht einfach an und schreibst ein Buch über uns beide?»

«Na schön», sagte der GuRie. «Ich will's versuchen.» Und er versuchte es auch wirklich. Er gab sich große Mühe und wurde auch schließlich damit fertig. Ein bißchen verlegen zeigte er's der Königin. Die Königin las es ihren Enkelkindern vor. Danach sprach die Königin: «Ich finde, dieses Buch muß anständig gedruckt und veröffentlicht werden, damit es alle Kinder lesen können.» Und so geschah es dann. Allerdings war der GuRie ein sehr bescheidener Riese. Deswegen wollte er das Buch nicht unter seinem richtigen Namen veröffentlichen, sondern setzte einen ganz anderen Namen darauf.

Und wenn du jetzt wissen willst, wo das Buch ist, das der GuRie geschrieben hat, dann ist die Antwort ganz einfach: Hier ist es! Du hast es gerade ausgelesen.


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