«Sie schlafen immer fünfzig Schnarcher lang, bevor sie sich aufraffen zum Leberwesenjagen, wenn's Nacht wird», sagte der GuRie. Für ein paar Augenblicke machte er halt, damit Sophiechen sich alles genau anschauen konnte. «Riesen schlafen wenig», sagte er. «Längst nicht soviel wie die menschlichen Leberwesen. Die menschlichen Leberwesen sind ganz verrückt nach Schlafen. Hast du schon gewußt, daß ein menschliches Leberwesen, das fünfzig Jahre alt ist, zwanzig Jahre davon im Bett gelegen und geschlafen hat?»
«Ich muß zugeben, das habe ich mir noch nie überlegt», sagte Sophiechen.
«Dann leg es dir jetzt bitte mal über», sagte der GuRie. «Stell dir vor, da ist ein menschliches Leberwesen und sagt, es ist fünfzig Jahre alt, und hat zwanzig Jahre davon im Bett gelegen und geschlafen und nicht einmal gewußt, wo es liegt. Und dabei hat es nicht das geringste getan! Nicht mal gedenkt!»
«Eine komische Vorstellung ist das», sagte Sophiechen. «Ja, komisch», sagte der GuRie. «Was ich sagen wollte: Ein menschliches Leberwesen mit fünfzig ist gar nicht fünfzig, sondern nur dreißig.»
«Und wie ist das bei mir?» fragte Sophiechen. «Ich bin acht.»
«Du bist überhaupt nicht acht», sagte der GuRie. «Leberwesenbabies und Leberwesenkinder schlafen die halbe Zeit. Also bist du erst vier.»
«Ich bin aber acht», sagte Sophiechen.
«Du denkst, du bist acht», sagte der GuRie. «Aber du hast nur vier Jahre gelebt mit Augen auf. Du bist erst vier. Und nun laß mich bitte damit in Truhe! So eine grünschnabelige Schnatterbacke wie du darf doch nicht nervensegeln mit einem weisen Greisen, der hundert und aberhundert Jahre älter ist als du.» «Wie lange schlafen denn die Riesen?» fragte Sophiechen. «Die verplempern nicht soviel Zeit für Schnorcheln», sagte der GuRie. «Zwei oder drei Stunden höchstens.» «Und wann schläfst du?» fragte Sophiechen. «Noch weniger», antwortete der GuRie. «Ich schlafe im Monat nur ein einziges Mal.»
Sophiechen linste aus ihrer Westentasche vorsichtig nach draußen und betrachtete neugierig die schlafenden Riesen. So sahen sie noch seltsamer aus als im wachen Zustand. Hingelümmelt auf die gelbe Fläche, bedeckten ihre ungeschlachten Leiber ein Feld so groß wie ein Fußballplatz. Die meisten lagen auf dem Rücken, das Maul sperrangelweit aufgerissen, und schnarchten wie die Wildschweine. Der Lärm war einfach ohrenbetäubend. Urplötzlich hüpfte der GuRie in die Höhe. «Hoppla!» rief er. «Da kommt mir grade eine ganz obertolle Jux-Idee!» «Was denn für eine?» fragte Sophiechen. «Abwarten!» rief er. «Hab doch ein bißchen Gedudel! Immer mit der Truhe! Paß mal auf, was ich jetzt mache!» Rasch galoppierte er zu seiner Höhle hinüber, während Sophiechen sich an die Oberkante seiner Westentasche klammerte. Er rollte den Eingangsstein auf die Seite und stürmte in die Höhle. Er war ganz aufgeregt und bewegte sich hastig. «Du bleibst schön in meiner Tasche, ja?» sagte er. «Diesen herrlichen Streich machen wir beide zusammen.» Dabei stellte er die Stange mit dem Traumfangnetz in die Ecke, behielt seinen Koffer aber in der Hand, eilte ans andere Ende der Höhle und holte sich das längliche Trompetendings, das er bei sich gehabt hatte, als Sophie-chen ihn zum erstenmal auf der Dorfstraße sah. Den Koffer in der einen, die Trompete in der andern Hand, fegte er aus der Höhle nach draußen. Was will er denn bloß, fragte sich Sophiechen. «Mach einen Giraffenhals und Stielaugen», sagte der Gu-Rie. «Dann kriegst du alles mit, was passiert.» Sobald der GuRie in die Nähe der schlafenden Riesen kam, verlangsamte er seine Schritte. Er begann zu schleichen. Auf Zehenspitzen tastete er sich näher und näher an die scheußlichen Scheusale heran. Die schnarchten noch immer nach Kräften. Abstoßend sahen sie aus, völlig verdreckt und durch und durch böse. Der GuRie schlich sich auf leisen Sohlen zwischen ihnen hindurch, vorbei am Klumpenwürger, vorbei am Blutschlucker, am Hackepeter, am Kinderkauer. Aber dann blieb er stehen: Jetzt hatte er den Fleischfetzenfresser erreicht. Er zeigte mit dem Finger auf ihn, neigte den Kopf zu Sophiechen herab und zwinkerte ihr mit den Augen ein heimliches Zeichen zu. Ganz langsam und vorsichtig ließ er sich auf die Knie nieder. Ganz langsam und vorsichtig öffnete er seinen Koffer. Ganz langsam und vorsichtig holte er das Glasgefäß heraus, in dem der schreckliche Borstenbuckler eingesperrt war. In dem Augenblick konnte Sophiechen sich denken, was nun geschehen würde.
Auweia, dachte sie. Das konnte gefährlich werden. Sie schmiegte sich gleich etwas tiefer in die Tasche hinein, so daß von ihr nur Augen und Stirn zu sehen waren. Sie wollte sofort untertauchen können, falls etwas schiefgehen sollte.
Vom Gesicht des Fleischfetzenfressers waren sie nur etwa drei Meter entfernt. Das Geröchel und Geschnorchel, das er beim Atmen produzierte, war zum Davonlaufen. Alle paar Augenblicke sammelte sich ein Klumpen Spucke zwischen seinen beiden offenstehenden Wulstlippen, und der platzte dann auseinander und bekleckerte sein ganzes Gesicht mit schleimigem Schlamm.
Ganz langsam und vorsichtig schraubte der GuRie das Glasgefäß auf und kippte den ruckenden, zuckenden glutroten Borstenbuckler in den weiten Trichter seiner langen Trompete. Das dünne Ende der Trompete steckte er sich in den Mund. Jetzt zielte er mit dem Ding genau auf das Gesicht des Fleischfetzenfressers. Schließlich holte er ganz tief Luft, blähte die Backen auf und - pfffff - pustete mit aller Kraft durch das Rohr.
Sophiechen sah etwas Rotes, das wie der Blitz auf das Gesicht des Riesen zuschoß. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb das rote Ding über dem Gesicht stehen. Dann war es weg. Vielleicht hatten es die Nasenlöcher des Riesen aufgesaugt. Aber alles war so schnell gegangen, daß Sophiechen gar nicht recht mitkam.
«Wir machen uns lieber sofort aus dem Staubsauger», flüsterte der GuRie. Und schon zog er sich ungefähr dreißig Meter zurück, blieb stehen und ging am Boden in Dekkung. « Also », murmelte er. «Abwarten und Teer trinken. Mal sehen, was passiert.» Lange mußten sie nicht warten.
Ein Schrei, so grauenvoll, wie ihn Sophiechen noch nie gehört hatte, zerriß die Mittagsschlafstille der Riesen. Sie sah, wie der Körper des Fleischfetzenfressers in seiner ganzen gewaltigen Länge von sechzehn Meter dreiundzwanzig vom Boden in die Luft gehoben wurde und dann mit dumpfem Poltern wieder auf die Erde krachte. Dort wälzte und wand und verdrehte sich dieser riesige Leib in rasenden Krämpfen. Dieser Anblick konnte einem schon angst machen.
«Auuuaaah!» brüllte der Fleischfetzenfresser. «Iiiioooh! Uuuuau!»
«Der schläft noch», flüsterte der GuRie. «Der grauenhafte borstenbucklige Todesangst-Schocker fängt jetzt an zu wirken.»
«Geschieht ihm recht», sagte Sophiechen. Mitleid konnte sie für diesen brutalen Koloß überhaupt nicht empfinden, der immerhin kleine Kinder fraß, als wären sie Würfelzucker.
«Hilfe!» schrie der Fleischfetzenfresser und schlug wie wahnsinnig um sich. «Er rennt hinter mir her! Gleich hat er mich! Gleich hat er mich!»
Das Um-sich-Schlagen und Trampeln und Zucken und Herumfuchteln wurde von Sekunde zu Sekunde immer wilder und wüster. Es sah einfach umwerfend aus, wie eine so hünenhafte Gestalt von so übermächtigen Krämpfen geschüttelt wurde.
«Das Schneiderlein! Das Schneiderlein!» stieß der Fleischfetzenfresser gurgelnd hervor. «Der schreckliche Schneider! Dieser scheußliche Schuft von Schneider! Jetzt schleicht er sich an! Jetzt schlitzt er mich auf! Das Schneiderlein kommt! Das Schneiderlein!» Dabei krümmte und ringelte sich der Fleischfetzenfresser am Boden wie eine gepeinigte Schlange von gewaltigen Ausmaßen. «Nein, Schneider, nein!» schrie er flehentlich. «Nicht weh tun, Schneider, bitte nicht weh tun», winselte er gequält. «Was für einen Schneider meint er denn?» wisperte Sophiechen.
«Der Schneider, das ist das einzige menschliche Leberwesen, vor dem alle Riesen Angst haben», erklärte ihr der GuRie. «Alle fürchten sich furchtbar vor dem tapferen Schneiderlein. Das tapfere Schneiderlein, haben sie gehört, ist ein berühmter Riesenjäger.»
«Laß mich!» heulte der Fleischfetzenfresser. «Gnade, Gnade für einen armen kleinen Riesen! Der Streich! Jetzt kommt er mit seinem Streich auf mich zu! Weg mit deinem Streich! Liebes, liebes Schneiderlein, ich flehe dich an: Komm mir nicht zu nahe mit deinem Streich!» «Wir Riesen», flüsterte der GuRie, «wir wissen nicht viel über dieses fürchterbare menschliche Leberwesen namens Schneiderlein. Wir wissen nur, daß er ein ganz berühmter Riesenjäger ist und etwas hat, das heißt Streich. Und wir wissen, daß er mit diesem Streich einmal sieben Riesen totgehauen hat: sieben auf einen Streich!» An dieser Stelle konnte Sophiechen sich ein Lächeln nicht verkneifen.
«Worüber lachst du?» fragte der GuRie mißtrauisch. «Erzähl ich dir später», sagte Sophiechen. Der böse Alptraum hatte den riesigen Kerl nun so gepackt, daß er seinen ganzen gigantischen Körper zu Knoten verrenkte. «Nein, Schneiderlein, tu's nicht!» quietschte er schrill. «Ich hab dich doch auch noch nie aufgefressen, Schneiderlein! Ich freß gar keine menschlichen Leberwesen! Ich schwöre, ich hab noch nie in meinem ganzen Riesenleben ein menschliches Leberwesen probiert!»
«Lügner!» sagte der GuRie.
In diesem Augenblick traf der wild um sich schlagende Fleischfetzenfresser mit der Faust den schlafenden Klumpenwürger mit voller Wucht mitten ins Gesicht. Gleichzeitig klatschte eins von seinen wild strampelnden Beinen dem schnarchenden Hackepeter in den Bauch. Blitzartig wachten die beiden getroffenen Riesen auf und sprangen auf die Füße.
«Er hat mir mitten in den Mund gehaut», beklagte sich der Klumpenwürger.
«Und bei mir hat er auf dem Bauch Trampolin geturnt!» schimpfte der Hackepeter.
Alle beide stürzten sich nun auf den Fleischfetzenfresser und bearbeiteten ihn gründlich mit Fäusten und Füßen. Da war der elende Fleischfetzenfresser aber sofort hellwach. Den einen Alptraum ließ er beim Aufwachen hinter sich, und schon erlebte er den nächsten Alptraum. Mit Gebrüll stürzte er sich in die Schlacht, und von dem Geschrei und Getöse der Prügelei wurden nacheinander alle schlafenden Riesen geweckt, weil sie einen Tritt oder Schlag abkriegten. Nicht lange, und alle neune waren aufgesprungen und beteiligten sich nach Herzenslust an der allergrößten Klopperei, die man sich denken kann. Sie boxten und traten und kratzten und bissen und knufften und bufften einander aus Leibeskräften. Es spritzte das Blut. Manche Nase wurde platt. Und lose Zähne flogen durch die Luft wie Hagelkörner. Die Riesen grunzten und kreischten und fluchten, was das Zeug hielt, und minutenlang erbebte die gelbe Ebene vom Schlachtengetümmel. Der GuRie strahlte übers ganze Gesicht vor Vergnügen. «Ich schadenfreue mich so gern, wenn die sich da ordentlich prügeln», sagte er.
«Die bringen sich noch um», sagte Sophiechen. «Niemals», erwiderte der GuRie. «Die Ungetüme mögen sich gern verdreschen und verbimsen. Aber wenn es nachher dunkel wird, hören sie auf und galoppieren los, um sich den Wanst vollzuschlagen.»
«Die sind eklig und stinkig und fies», sagte Sophiechen. «Ich finde sie scheußlich!»
Als der GuRie zu seiner Höhle heimkehrte, sagte er befriedigt: «Mit dem Alptraum haben wir aber etwas Tolles gemacht, oder?»
«Etwas Obertolles», sagte Sophiechen. «Hast du prima hingekriegt.»