«Aber wenn du so lieb und freundlich bist», sagte Sophiechen, «warum hast du mich dann aus dem Bett geholt und bist mit mir hierhergelaufen?»
«Der Grund war: Du hast mich geseht!» antwortete der Gute Riese. «Wenn jemand einen Riesen sieht, dann muß er sofort mitgenommen werden.» «Und warum?» fragte Sophiechen.
«Erstens», erklärte der GuRie, «menschliche Leberwesen glauben nicht an Riesen, nicht so richtig, verstehst du? Die menschlichen Leberwesen glauben einfach nicht, daß es uns gibt.»
«Aber ich glaube das», sagte Sophiechen. «Du ja! Aber nur, weil du mich hast geseht!» rief der GuRie. «Niemand darf mich sehen und trotzdem zu Hause bleiben, auch ein kleines Mädchen nicht. Du würdest ja sofort hierhin rennen und dahin und überall die große Neuigkeit herumposaunen, daß du wirklich mit deinen eigenen Augen einen Riesen gesehen hast. Und dann würde es eine riesige Riesenjagd geben auf der ganzen Welt. Die menschlichen Leberwesen würden überall herumwühlen und herumschnüffeln nach dem großen Riesen, den du gesehen hast, und alle werden dann ganz verrückt nach mir. Sie jagen mich, sie fangen mich, sie sperren mich in einen Käfer und zeigen mich den neugierigen Zuschraubern. In einen Zirkus tun sie mich oder in einen Tierpark, wo es all diese Wabbelfettklumpen von Nilpferden gibt und diese widerlichen Krokodilleriche.»
Sophiechen mußte dem Riesen recht geben: Wenn jemand daherkäme und würde sagen, er hätte wahr und wahrhaftig mit eigenen Augen gesehen, wie da draußen auf der Straße mitten in der Nacht ein richtiger Riese herumspukte, dann würde es ganz bestimmt einen Riesenspektakel geben auf der ganzen Welt.
«Ich wette», sagte der GuRie, «du hättest diese tolle Neuigkeit in der ganzen Welt herumerzählt, das wette ich, wenn ich dich nicht ruckzuck gepackt und weggebracht hätte.»
«Ja, wahrscheinlich», mußte Sophiechen zugeben. «Und das darf nieniemals passieren», sagte der GuRie. «Und was passiert jetzt mit mir?» fragte Sophiechen. «Wenn du nach Hause zurückgehst, dann verrätst du ja doch alles und redest darüber im Fernsehen und im Radio. Darum mußt du hier bei mir bleiben dein ganzes Leben lang.»
«Nein!» rief Sophiechen mit tränenerstickter Stimme. «Doch!» sagte der GuRie. «Aber ich warne dich: Geh nieniemals alleine aus dieser Höhle nach draußen, ohne daß ich dabei bin. Denn sonst ist es aus und vorbei mit dir! Ich
zeige dir jetzt, wer dich auffressen wird, wenn er auch nur das allerkleinste Fitzelchen von dir zu sehen kriegt.»
Der Gute Riese nahm Sophiechen vom Tisch und trug sie zum Eingang der Höhle. Den großen Stein rollte er auf die Seite und sprach: «Schau mal da drüben hin, meine Kleine, und sag mir, was du da siehst.»
Sophiechen hockte auf der Hand des GuRie und guckte nach draußen. Die Sonne war inzwischen aufgegangen und strahlte heiß und weiß auf das weite wüste Land herab mit all den blauen Felsen und den abgestorbenen Bäumen. «Kannst du sie sehen?» fragte der GuRie. Sophiechen schielte durch das grelle Sonnenlicht und erkannte schließlich mehrere ungeheuer große Gestalten, die ein paar hundert Meter entfernt zwischen den Felsen umherliefen. Drei oder vier hatten sich auf einen Stein gesetzt, und da hockten sie nun - regungslos. «Das hier ist das Riesenland», erklärte der GuRie. «Das sind alles Riesen, die du da siehst.» Der Anblick war einfach umwerfend. Die Riesen hatten nichts an außer einem kurzen Lendenschurz. Ihre Haut war von der Sonne schwärzlich verbrannt. Aber was Sophiechen am meisten verblüffte, war ihre unwahrscheinliche Größe. Sie waren einfach riesig groß, viel riesiger noch als der Gute Riese, in dessen Hand sie hockte. Und häßlich waren sie! Viele hatten einen feisten Wanst. Bei allen waren die Arme elend lang und die Füße elend groß. Sie waren so weit weg, daß man ihre Gesichter nicht klar erkennen konnte. Und das war vielleicht auch besser so.
«Was machen die denn da?» fragte Sophiechen. «Gar nichts machen die», antwortete der GuRie. «Die schlurfen und schnarchen da herum und warten, bis es dunkel wird. Dann machen sie sich auf und sausen los dahin, wo die menschlichen Leberwesen wohnen, und suchen sich ihr Armbrot.»
«Nach Spanien, nicht wahr?» sagte Sophiechen. «Der Knochenknackerriese galoppiert natürlich nach Spanien», sagte der GuRie. «Aber die anderen gehen nach überallhin - nach Panama wegen Strohhutgeschmack und nach Tunisch wegen Thunfischgeschmack. Jeder Riese hat sein eigenes Gebiet.»
«Kommen sie auch in unser Land?» fragte Sophiechen. «Aber ja, ganz oft», sagte der GuRie. «Weil nämlich da die menschlichen Leberwesen ganz warmsinnig lecker nach Mampfdideldidampf schmecken.»
«Es könnte sein, daß ich dich eben nicht so ganz verstanden habe», sagte Sophiechen.
«Ist egal», sagte der GuRie. «Ich kann nicht immer recht haben. So bin ich nun mal: mal recht und mal schlecht.» «Und diese ekligen Riesen da, laufen die heute abend wirklich wieder los und fressen Leute auf?» fragte Sophiechen.
«Jeden Abend knabbern und knacken die menschliche Leberwesen», erwiderte der GuRie. «Alle tun das, nur ich nicht. Aber das sage ich dir: Du bist sofort mausetot, wenn auch nur ein einziger von denen seine Glubschaugen auf dich richtet! Wegputzen würden sie dich wie ein Marzi-panschweinchen - ratzeputz!» «Aber das ist ja etwas Entsetzliches: Menschen aufessen!» schluchzte Sophiechen. «Wie grauenvoll! Und warum verbietet ihnen das keiner?»
«Wer kann denen schon was verbieten?» fragte der GuRie.
«Warum tust du das nicht?» fragte Sophiechen. «Kommt gar nicht in die Tüte!» rief der GuRie. «Diese Menschenfresser-Riesen sind alle warmsinnig groß und warmsinnig böse! Die sind ja mindestens doppelt so breit wie ich und mindestens doppelt so lange Lulatsche wie ich!»
«Doppelt so lang wie du!» rief Sophiechen. «Aber dicke!» sagte der GuRie. «Du siehst sie doch nur von weitem. Aber paß mal auf, wenn du sie aus der Nähe siehst! Diese Riesen sind nämlich mindestens fünfzehn Meter lang und haben jede Menge Muskeln. Dagegen bin ich nur eine halbe Portion. Ein Heinzelmännchen bin ich gegen die. Acht Meter ist gar nichts im Riesenland.» «Deswegen brauchst du dich aber nicht zu schämen mit deinen acht Metern», sagte Sophiechen. «Ich finde, du bist einfach ganz große Klasse. Deine Fußzehen müssen ja so groß wie Bratwürste sein.»
«Größer», sagte der GuRie geschmeichelt. «Wie Salamiwürste!»
«Wie viele Riesen sind das da drüben?» fragte Sophiechen.
«Alle zusammen sind das neun», antwortete der Gu-Rie.
«Das heißt aber doch», sagte Sophiechen, «daß irgendwo auf der Welt jede Nacht neun arme, arme Menschen entführt und aufgegessen werden bei lebendigem Leibe.» «Mehr», sagte der GuRie. «Kommt drauf an, wie groß das menschliche Leberwesen ist. Japanische Leberwesen sind klein. Mindestens sechs Japaner muß ein Riese verdrük-ken, sonst wird er nicht satt. Aber die Norweger und die Amerikaner sind viel, viel größer, und darum brauchen die Riesen von denen auch nur zwei oder drei, und schon sind sie pappsatt.»
«Machen diese widerlichen Riesen das denn in jedem Land der Welt?» fragte Sophiechen.
«Ja, in jedem - außer Griechenland», antwortete der GuRie. «In welches Land der Riese geht, hängt davon ab, wie er sich fühlt. Wenn es heiß ist und der Riese schwitzt wie ein Wildschwein, dann wird er höchstwahrscheinlich in die Gegend vom Nordpol rennen und einen oder zwei Eskimos zu sich nehmen - zur Abkühlung. So ein kugelrunder Eskimo ist für einen Riesen so schön wie für dich eine Kugel Erdbeereis.»
«Das glaube ich dir ohne weiteres», sagte Sophiechen. «Und umgekehrt: Wenn es draußen eisekalt ist und der Riese zittert und bibbert vor Kälte, dann läuft er wahrscheinlich schnurstracks nach Feuerland und verspeist ein paar Feuerländer, damit er wieder warm wird.» «Das ist ja fürchterlich», sagte Sophiechen. «Ein kalter Riese braucht unbedingt einen Feuerländer zum Warmwerden», sagte der GuRie. «Was würde passieren, wenn du mich jetzt absetzt und ich würde dann zu ihnen hinüberspazieren», fragte Sophiechen. «Ob die mich wirklich aufessen würden?» «Totsicher. Ein Haps, und du bist weg!» rief der GuRie. «Und bei dir brauchen sie nicht einmal zu kauen, so klein bist du. Der erste, der dich sieht, würde dich mit den Fingern aufpicken und runterschlucken wie nix!» «Laß uns hineingehen», sagte Sophiechen. «Ich mag sie nicht einmal sehen.»