Das endlos weite gelbe Wüstenland dehnte sich düster und dunstig im Mondenschein, als GuRie, der Gute Riese, seinen nächtlichen Lauf über Stock und Stein antrat. Sophiechen, die immer noch nichts anderes anhatte als nur
ihr dünnes Nachthemdchen, lag schön gemütlich in einer Rille von GuRies rechtem Ohr. Genaugenommen befand sie sich am Außenrand des Ohres in der Nähe der oberen Biegung, wo die Ohrmuschel einwärts gekrümmt ist. Diese Krümmung bildete für sie so etwas wie ein Dach oder eine Windschutzscheibe gegen den sausenden Fahrtwind. Und außerdem lag sie auf Haut, und das fühlte sich weich an und warm wie kuscheliger Samt. Sie fand, so schön und gemütlich wie sie war noch kein Mensch jemals gereist.
Sophiechen lugte über die Ohrenkante hinweg und sah die öden Wüsten des Riesenlandes vorüberhuschen. GuRies Reisetempo war demnach sehr hoch. In gewaltigen weiten und hohen Sprüngen rannte der GuRie, als hätte er Raketen in den Zehen, und bei jedem Schritt schnellte er über dreißig Meter durch die Luft. Aber noch hatte er nicht seinen allerschnellsten Gang eingelegt, bei dem die Land-schaft wegen der hohen Geschwindigkeit zu verschwimmen beginnt und der Fahrtwind saust und braust und die Füße keine Bodenberührung mehr zu haben scheinen. Das sollte erst später kommen.
Sophiechen hatte schon lange, lange kein Auge mehr zugemacht. Nun fühlte sie sich aber wirklich sehr müde. Und während sie so schön gemütlich in ihrer warmen Ohrmuschelmulde lag, schlummerte sie langsam ein. Wie lange sie geschlafen hatte, wußte sie nicht, als sie erwachte und über die Ohrenkante hinweg Ausschau hielt. Auf jeden Fall hatte die Landschaft sich inzwischen völlig verändert. Das Land war jetzt grün, voller Berge und Wälder. Noch war es Nacht, doch schimmerte der Mond so hell und klar wie bei der Abreise.
Plötzlich, ohne sein Tempo zu drosseln, drehte der GuRie seinen Kopf nach links. Zum erstenmal auf der ganzen bisherigen Reise sprach er ein paar Worte: «Guck mal da drüben fixfix», sagte er und zeigte mit der langen Trompete die Richtung.
Sophiechen blickte sofort nach links: In der nächtlichen Gegend konnte sie zunächst nichts anderes erkennen als eine große Wolke aus Staub in einem Abstand von hundert Metern.
«Das sind die andern Riesen, die nach Hause galoppieren mit prallen Bäuchen», sagte der GuRie. Jetzt konnte sie Sophiechen auch erkennen. Im gleißenden Mondlicht sah sie die monsterhaften, halbnackten Ungetüme alle neune in einer Horde durch die Landschaft donnern. Sie galoppierten in einem geschlossenen Rudel, den Kopf vorgereckt, die Arme angewinkelt und - das war das Widerlichste - den Bauch zum Platzen voll. Sie machten unwahrscheinlich große Schritte, ihr Tempo war einfach sagenhaft. Ihre Füße polterten und stampften mit Donnergetöse über den Erdboden hin und wirbelten eine Unmenge Staub auf. Nach zehn Sekunden war alles vorbei. «Viele kleine Mädchen und Jungchen schlafen nun nicht mehr in ihren Bettchen», sagte der GuRie. Bei diesem Gedanken wurde es dem Sophiechen ganz schlecht.
Aber die grausige Begegnung bestärkte sie um so mehr in dem Entschluß, ihren großen Plan in die Tat umzusetzen.
Es verging ungefähr noch eine Stunde, bis der GuRie plötzlich langsamer wurde. «Wir sind jetzt in England», sagte er.
Obwohl es noch dunkel war, konnte Sophiechen sehen, daß sie in ein Land mit grünen Feldern und Wiesen gekommen waren, mit ordentlichen Hecken dazwischen. Hügel gab es da mit Bäumen und Büschen. Und Straßen durchzogen das Land, auf denen die Lichter der Autos ihre Bahnen zogen. Immer wenn sie an eine Straße kamen, setzte der GuRie spornstreichs über sie hinweg, und zwar so schnell, daß kein Autofahrer etwas davon mitbekam, es sei denn, er hätte gesehen, wie ein blitzschneller schwarzer Schatten über ihn hinweghuschte.
Mit einemmal tauchte ein seltsamer gelblich-rötlicher Schimmer am Nachthimmel vor ihnen auf. «London», sagte der GuRie.
Er fiel jetzt in Laufschritt. Vorsichtig schaute er sich nach allen Seiten um.
Nun tauchten auch mehr und mehr Häuser auf. Allerdings waren alle Fenster noch dunkel. Denn um diese Zeit mußte noch kein Mensch aufstehen.
«Aber irgend jemand sieht uns bestimmt», sagte Sophiechen.
«Niemals keiner nix», sagte der GuRie mit fester Stimme. «Du hast vergessen, ich mach solche Sachen seit Jahren und Aberjahren. Von mir hat kein einziges menschliches Leberwesen auch nur das winzigste Fizzelchen gesehen.»
«Nur ich», flüsterte Sophiechen.
«Naja», sagte er. «Stimmt. Aber du warst die allerersteste.»
In der nächsten halben Stunde ging alles so schnell und so leise, daß Sophiechen von ihrem Bettchen im Ohr des Riesen aus nicht so recht mitbekam, was eigentlich geschah. Sie liefen durch Straßen. Überall waren Häuser. Hier und da gab es Läden. Helle Laternen erleuchteten die Straßen. Es waren doch noch eine ganze Menge Leute unterwegs, und Autos fuhren auch noch hinter ihren Scheinwerferkegeln her. Aber den GuRie bemerkte kein Mensch. Man konnte eigentlich gar nicht begreifen, wie das möglich war. In seinen Bewegungen mußte ein geheimnisvoller Zauber liegen. Es war, als ob er mit den Schatten verschmolz. Am besten könnte man es vielleicht als ein schwebendes Gleiten oder gleitendes Schweben bezeichnen, wie er geräuschlos von einem dunklen Winkel zum nächsten flutschte, wie er gleichmäßig und ohne Stop vorwärts glitt durch Londons Straßen, wobei sein schwarzer Mantel mit den Schatten der Nacht eins wurde.
Immerhin könnte es eventuell möglich sein, daß der eine oder andere späte Fußgänger dachte, er hätte da vielleicht doch einen hochaufgeschossenen schwarzen Schatten gesehen, wie er eine finstere Gasse hinunterhuschte. Aber wenn überhaupt einer so etwas gesehen haben sollte, hätte er seinen eigenen Augen nicht getraut. Er hätte das für eine bloße Einbildung gehalten, für ein Hirngespinst, und hätte sich selber vorgeworfen, Dinge zu sehen, die gar nicht da waren. Sophiechen und der GuRie landeten schließlich in einer Gegend mit vielen, vielen Bäumen. Mitten hindurch führte eine Straße. Und einen See gab es da auch. Menschen waren hier zum Glück nicht zu sehen, deswegen konnte der GuRie zum erstenmal eine Pause einlegen, seit er von seiner Höhle aufgebrochen war. Und das war vor vielen Stunden gewesen.
«Was ist los?» wisperte Sophiechen so leise, wie sie nur konnte.
«Ich bin ein bißchen durcheinanderlich», sagte er. «Du machst das doch ganz prima», flüsterte Sophiechen.
«O nein, ganz unprima», sagte er. «Nun bin ich völlig ver-dattelt. Ich hab mich verlauft.» «Wieso denn?»
«Weil eigentlich müßten wir jetzt mitten im Magen von London sein, aber nun sind wir plötzlich wieder mitten im Grünen.»
«Aber sei doch nicht so dumm», säuselte Sophiechen. «Wir sind hier im Herzen von London. Das ist doch der Hyde Park! Ich weiß jetzt genau, wo wir sind.» «Mach keine Witze!»
«Mach ich doch auch gar nicht: Ehrenwort. Gleich sind wir da.»
«Du meinst, wir sind fast da beim Ballast der Königin?» fragte der GuRie.
«Nur noch über diese eine Straße», wisperte Sophiechen. «Jetzt sag ich, wie wir laufen müssen.» « Also wie?» «Geradeaus.»
Der GuRie trabte durch den menschenleeren Park. «Halt!»
Der GuRie hielt an.
«Siehst du da vorne direkt neben dem Park diese große Kreuzung?» flüsterte Sophiechen. «Ja, seh ich da vorne direkt.» «Das nennt sich Hyde Park Corner.» Sogar um diese nachtschlafende Zeit, eine volle Stunde vor Tagesanbruch, herrschte auf der Kreuzung Hyde Park Corner ein lebhafter Kreisverkehr.
Als nächstes flüsterte Sophiechen: «In der Mitte der Kreuzung steht ein riesiges steinernes Tor mit einem Pferd und Reiter obendrauf. Kannst du das sehen?» Der GuRie peilte durch die Baumkronen. «Ja, seh ich», sagte er.
«Wenn du einen sehr großen Anlauf nimmst, meinst du, daß du dann mit einem Satz über die ganze Kreuzung wegspringen kannst? Über das steinerne Tor und das Pferd und den Reiter? Und landest dann auf dem Gehweg drüben auf der anderen Seite?» «Aber locker», sagte der GuRie. «Bist du sicher? Bist du dir absolut sicher?» «Garantierchen», sagte der GuRie.
«Denn auf keinen Fall darfst du mitten auf der Kreuzung runterkrachen.»
«Keine Wange!» sagte der GuRie. «Für mich ist das ein kleiner Hopser. Ist doch ein Klacks mit der Wichsbürste.»
«Dann los!» flüsterte Sophiechen.
Der GuRie rannte los. Sofort schnellstes Tempo. Mit einem Affenzahn preschte er durch den Park, und erst direkt vor dem Gitter am Straßenrand hob er ab. Ein Wahnsinnssprung war das! Er flog haushoch über die ganze Kreuzung hinweg und landete so weich wie eine Katze auf dem Gehweg drüben auf der anderen Seite.
«Klasse!» flüsterte Sophiechen. «Und jetzt schnell noch über die Mauer!»
Unmittelbar vor ihnen, gleich neben dem Gehweg, ragte eine rote Mauer empor mit angsterregenden Spießen und Stacheln obendrauf. Kurze Kniebeuge - schwups - und schon war der GuRie drüben.
«Geschafft!» flüsterte Sophiechen ganz aufgeregt. «Jetzt sind wir im Hintergarten der Königin!»