Der Riese schnappte sich mit einer Hand die bibbernde kleine Sophie, trug sie quer durch die Höhle und legte sie auf den Tisch.
Jetzt ist es soweit, jetzt frißt er mich auf, dachte Sophiechen. Der Riese setzte sich auf den Stuhl und besah sich Sophiechen ganz genau.
Er hatte wirklich wahnsinnig große Ohren. So groß wie das Rad eines Lastwagens. Und anscheinend konnte er sie nach vorne und nach hinten klappen, wenn er wollte. «Hunger!» brüllte der Riese. Ein Grinsen verzog sein Gesicht und ließ starke breite Zähne aufblitzen. Diese Zähne waren sehr weiß und sehr breit und bevölkerten seinen Mund wie riesengroße Toastbrotscheiben. «B... b... bitte, bitte, friß mich nicht auf!» stotterte Sophiechen.
Der Riese brach in krachendes Lachen aus. «Weil ich ein Riese bin, denkst du, ich bin ein Menschenfresser, ich bin ein Kanniballer, denkst du», schrie er. «Hast recht! Riesen sind alle Kanniballer, sind alle richtige Totmacher! Ja, sie fressen würglich menschliche Leberwesen. Wir sind jetzt im Riesenland! Hier ist alles voll von Riesen! Draußen da ist ein Riese mit dem bekannten Namen Knochenknackerriese! Der Knochenknackerriese knackt jeden Abend zwei leckrige schleckrige menschliche Leberwesen. Das Krachen tut weh in den Ohren! Das Krachen vom Knochenknacken, immer kchch, kchch, kannst du von ganz weit weg hören!»
«Ojemine!» sagte Sophiechen.
«Der Knochenknackerriese mag nur menschliche Leberwesen aus Spanien», sagte der Riese. «Jede Nacht geht der Knochenknackerriese galoppgalopp nach Spanien und holt sich Spanier.»
Sophiechen fühlte sich plötzlich in ihrer Ehre gekränkt durch diese Worte. Beleidigt platzte sie heraus: «Wieso Spanier? Und warum nicht wir?»
«Der Knochenknackerriese sagt, Spanier schmecken immer viel mehr saftig und delikateßbar. Der Knochenknacker sagt, spanische Leberwesen haben einen ersteklas-se Geschmack. Er sagt, Spanier schmecken nach Spanferkel.»
«Sehr wahrscheinlich schmecken sie wirklich so», sagte Sophiechen.
«Na klar tun sie das!» brüllte der Riese. «Alle menschlichen Leberwesen sind verschieden. Manche sind schlek-kerlecker, und manche sind igittigitt. Griechische Leberwesen sind voll mit Igittigitt. Kein Riese mag griechische Leberwesen fressen. Niemals.» «Und warum nicht?» fragte Sophiechen. «Griechische Leberwesen aus Griechenland schmecken gräßlich nach Griebenschmalz», sagte der Riese. «Ja, das könnte wohl so sein», sagte Sophiechen. Insgeheim fragte sie sich (und zitterte dabei), warum der Riese soviel über Menschenfresserei redete und was er damit am Ende im Sinn hatte. Aber egal, was kam - sie mußte einfach mitmachen bei allem, was dieser komische Riese tat, und mußte seine Witze witzig finden.
Aber waren seine Witze denn überhaupt witzig gemeint? Und was, wenn der große Kerl andauernd vom Essen redete, um Appetit zu kriegen?
«Das sage ich dir», fuhr der Riese fort, «alle menschlichen Leberwesen haben verschiedene Geschmäcker. Zum Beispiel schmecken menschliche Leberwesen aus Panama ganz doll nach Strohhut.» «Warum das denn?» fragte Sophiechen. «Du bist aber nicht sehr viel klug», sagte der Riese und wedelte dabei mit seinen gewaltigen Ohren. «Ich hab immer gedenkt, alle menschlichen Leberwesen sind voll Grips. Aber dein Kopf ist leer wie ein Luftballon.» «Magst du Kinder gern?» fragte Sophiechen und wollte ganz vorsichtig das Gespräch auf weniger gefährliche Dinge bringen.
«Du willst ja nur von was anderem reden», sagte der Riese tadelnd. «Wir diskutieren jetzt das interessante Thema: Wie schmecken menschliche Leberwesen? Ob ich Kinder gern mag, hat doch damit nichts zu tun, wie menschliche Leberwesen schmecken!»
«Aber Kinder sind doch auch menschliche Lebewesen», sagte Sophiechen.
«Aber nie im Leben sind Kinder menschliche Leberwesen!» sagte der Riese. «Menschliche Leberwesen sind doch viel größer als Kinder.»
Sophiechen sagte jetzt lieber nichts mehr. Denn in Wut bringen wollte sie den Riesen auf gar keinen Fall. «Menschliche Leberwesen», fuhr der Riese fort, «die gibt es in Tausendmillionen Geschmäckern, und alle sind verschieden. Zum Beispiel sind menschliche Leberwesen aus Berlin schön weich und fett und haben innen drinnen einen Klacks rote Mammilade. Berliner sind ganz was Süßes.» «Ach, du meinst Berliner Pfannkuchen!» sagte Sophiechen. «Die Berliner sind aber doch nicht dasselbe wie die Leute aus Berlin!»
«Berlin bleibt Berlin, und Berliner bleibt Berliner», sagte der Riese. «Du redest Quatsch und Quark. Jetzt gebe ich dir aber ein anderes Beispiel. Menschliche Leberwesen aus Salzburg sind nicht süß wie Berliner, sondern schmecken entsalzlich nach Setz.»
«Entsetzlich nach Salz, meinst du», sagte Sophiechen. «Die Salzburger schmecken salzig.»
«Wieder Quatsch und Quark, was du da redest!» rief der Riese aus. «Das darfst du nicht! Dieses Thema ist sehr, sehr ernst und sehr, sehr wichtig. Darf ich vielleicht mal zu Ende reden?»
«Oh, aber bitte!» sagte Sophiechen.
«Hamburger aus Hamburg schmecken nach Frikadelle», sprach der Riese.
«Das mußte ja kommen», seufzte Sophiechen. «Hämbör-ger schmecken nach Buletten, natürlich.» «Falsch!» brüllte der Riese und klatschte sich auf die Schenkel. «Hamburger aus Hamburg schmecken nach Frikadelle, Schluß, aus, basta, Punkt!»
«Und wonach schmecken die Frikadellen?» fragte Sophiechen.
«Hack!» rief der Riese. «Nach Hackfleisch!» «Genau wie Buletten», sagte Sophiechen.
«Nein, gar nicht wie Toletten!» sagte der Riese. «Hamburger schmecken gar nicht wie Briketten, sondern wie Fregatten!»
«Bringst du da nicht etwas durcheinander?» fragte Sophiechen.
«Ja, ich bin ein ganz durcheinanderer Riese», sagte der Riese. «Aber ich gebe mir die größte Mühle. Die anderen Riesen sind noch viel, viel durcheinanderer als ich. Einen Riesen kenne ich, der rennt jeden Tag sogar bis nach Tunisch zum Armbrot.»
«Tunisch?» fragte Sophiechen. «Wo liegt Tunisch?» «Du hast aber im Kopf keinen Grips, sondern Gips!» sagte der Riese. «Tunisch liegt doch in Afrika. Und die Leberwesen in Tunisch schmecken ganz warmsinnig schleckerlecker, sagt der Tunischesser-Riese.» «Und wonach schmecken die Menschen aus Tunisch?» fragte Sophiechen. «Nach Thunfisch», sagte der Riese.
«Natürlich», sagte Sophiechen. «Hätte ich mir wirklich selber denken können. Aus Tunis - also nach Thunfisch. Aus Frankfurt - also nach Frankfurter Würstchen. Aus Wien - also nach Wiener Würstchen. Aus Linz nach Linsen. Aus Rumänien nach Rum. Aus Bern nach Himbeern. Aus Sylt nach Sülze. Aus der Schweiz nach Käse. Und aus Leipzig nach allerlei.»
Sophiechen wollte den Bogen nicht überspannen und hörte lieber auf. Das Gespräch mit dem Riesen zog sich schon lange genug hin. Wenn sie unbedingt aufgefressen werden sollte, dann sollte das nicht mehr auf die lange
Bank geschoben werden, sondern möglichst sofort geschehen. So etwas sollte man immer ruckzuck hinter sich bringen und nicht erst lange drum herumreden. «Welche Sorte ißt du denn am liebsten?» fragte sie und zitterte dabei.
«Ich?» brüllte der Riese so laut, daß die Gläser auf den Regalen klirrten und klingelten. «Ich und Leberwesen essen? Das tue ich nie! Die andern: ja! Die anderen Riesen fressen jede Nacht menschliche Leberwesen. Aber ich nie und nimmer nicht! Ich bin ein komischer Riese. Ich bin ein lieber und freundlicher Riese. Ich bin der einzige liebe und freundliche Riese in Riesenland. Ich bin der GUTE RIESE. Ich heiße GuRie. Und wie heiß bist du?» «Ich heiße Sophiechen», sagte Sophiechen und konnte kaum glauben, was sie soeben vernommen hatte, so freute sie sich darüber.