In diesem Moment brach draußen vor der Höhle ein ungeheures Getöse los, und eine Stimme wie Donnergepolter war zu hören: «He, Ferkel! Bist du zu Hause, Ferkel? Ich hör dich doch brabbeln. Mit wem brabbelst du, Ferkel?»
«Achtung!» warnte der GuRie. «Der Blutschlucker!» Aber noch bevor er mit dem Wort Blutschlucker zu Ende gekommen war, wurde der Stein vom Höhleneingang beiseite geschleudert und ein wahrhaft riesiger Riese stampfte in die Höhle herein. Er war wohl mindestens doppelt so groß und zweimal so dick wie der GuRie - über fünfzehn Meter hoch! Er hatte nichts an außer einem verdreckten Lappen, der unter seinem Hängebauch herumschlabberte.
Sophiechen befand sich oben auf der Tischplatte. Direkt neben ihr lag die kolossal große angebissene Kotzgurke. Hinter der ging sie sofort in Deckung. Der Unhold trampelte in die Höhlenmitte und blieb drohend vor dem sehr viel kleineren GuRie stehen. «Mit wem hast du eben gebrabbelt hier drinnen?» brüllte er los. «Mit mir selber hab ich gebrabbelt», antwortete der GuRie.
«Quatschematsche!» grölte der Blutschlucker. «Bli-bla-blödsinn!» johlte er. «Du hast mit einem menschlichen Leberwesen gesprecht, das hab icht sofort gemorkt!» «Nein, hab ich nicht!» schrie der GuRie. «Hast du doch!» grunzte der Blutschlucker. «Ich glaub, du hast dir ein menschliches Leberwesen geklaut und hierher-gebringt in deine Hölle als Haustier! Das fang ich mir jetzt und freß es auf. Ha, lecker, lecker Ahmbrot!» Der arme GuRie zuckte zusammen. «In m-m-meiner Hö-Hö-Höhle ist kein leberliches Menschenwesen», stotterte er sich zusammen. «Warum läßt du mich nicht in Frihieden?»
Da zeigte der Blutschlucker mit seinem Finger, der so groß war wie ein Baumstamm, auf den GuRie. «Du kleines dreckiges Schweineferkel!» rief er. «Du elender kleiner Lügenverzapfer! Du ekliger kleiner Warzenbürzel! Du stinkiger kleiner Mistklumpen! Ich geh jetzt und suche mir den Leberwesenhapps!» Dabei packte er den GuRie am Arm und brüllte: «Und du wirst mir helfen! Du und ich, wir beide zusammen, wir finden ganz bestimmt dieses gut-schmeckerliche kleine Menschenleberwesen.» Der GuRie hatte den Plan gehabt, Sophiechen so schnell wie möglich von der Tischplatte wegzunehmen und hinter seinem Rücken zu verstecken. Aber dafür war es jetzt zu spät. Sophiechen linste vorsichtig um die Ecke der abgebissenen Kotzgurke herum und sah, wie die beiden Riesen weiter in die Höhle hineingingen. Der Blutschlucker sah schauerlich aus. Seine Haut war braun verbrannt. Schwarze Haare wucherten bei ihm auf Brust, Armen und Bauch. Die Haare auf seinem Schädel waren lang und schwärzlich und völlig verstruwwelt. Sein fieses Gesicht war rund und glitschig glänzend. Die Augen waren bei ihm nur winzige schwarze Löcher. Seine Nase war kurz und platt. Dafür war sein Maul gewaltig groß: Es reichte quer über das Gesicht vom einen Ohr zum andern, und die Lippen waren rosig, wulstig und prall wie zwei aufeinandergepreßte überdimensionale Frankfurter Würstchen. Hauerartige gelbe Zähne ragten zwischen diesen rosigen Frankfurtern hervor, und über das Kinn rannen Bäche von Spucke.
Man konnte sich wirklich ganz leicht vorstellen, daß dieser scheußliche Wüterich jeden Abend Menschen verspeiste: Männer, Frauen, Kinder.
Der Blutschlucker hielt den armen GuRie immer noch am Arm gepackt, als er sich die langen Reihen der Traumo-theksgläser beschaute. «Du mit deinen blödsinnigen Glasdingern!» schimpfte er. «Was tust du da bloß rein?»
«Nix, was du haben willst», sagte der GuRie. «Du willst ja immer nur menschliche Leberwesen haben.» «Und du bist ein Knallkopp mit deiner Flaschensammlung», erwiderte der Blutschlucker.
Sophiechen sagte sich, daß der Blutschlucker sehr bald zurückkommen und dann unweigerlich die Tischplatte genauestens absuchen würde. Aber herunterspringen konnte sie unmöglich: der Tisch war nämlich vier Meter hoch. Da würde sie sich ja die Knochen brechen. Die Kotzgurke, die war zwar so dick wie eine Mülltonne, aber dahinter konnte Sophiechen sich nicht verstecken, falls der Blutschlucker sich das Gurkenende grapschen würde. Sie sah sich die angebissene Stelle genauer an. Da waren in der Mitte große Kerne, jeder etwa so groß wie eine Melone. Diese Kerne waren eingebettet in eine glibschige schleimige Fruchtfleischmasse. Um nur ja nicht entdeckt zu werden, angelte Sophiechen ganz, ganz vorsichtig mit dem Arm um die Ecke und holte ein halbes Dutzend von diesen Samenkernen heraus. Auf diese Weise entstand mitten im Fleisch der Kotzgurke ein Loch, das gerade groß genug war, so daß Sophiechen, wenn sie sich ganz eng zusammenrollte, darin Platz fand. Huschhusch krabbelte sie hinein. Das war aber ein matschiges und glitschiges Versteck! Doch das war jetzt egal. Hauptsache, daß sie nicht aufgefressen wurde.
Der Blutschlucker kam jetzt mit dem GuRie an den Tisch zurück. Der GuRie wurde fast ohnmächtig vor Angst, weil ja doch Sophiechen in jeder Sekunde gefunden und dann sofort aufgegessen werden konnte.
Da griff sich der Blutschlucker die angebissene Kotzgurke. Der GuRie starrte entsetzt auf die leere Tischplatte. Wo war Sophiechen geblieben? Sophiechen, dachte er verzweifelt, du kannst doch unmöglich von diesem hohen Tisch heruntergesprungen sein! Wo bist du, Sophiechen?
«Huahhh! Das ist also der eklige faulige Schweinefraß, den du immer in dich reinrüsselst!» krakeelte der Blutschluk-ker und fuchtelte mit der halbgegessenen Kotzgurke durch die Luft. «Du bist ein Schweineferkel, daß du so einen Gammelschleimdreck in den Mund nimmst!» Einen Augenblick schien es so, als ob der Blutschlucker ganz vergessen hätte, weiter nach Sophiechen zu suchen. Der GuRie wollte ihn natürlich sofort noch mehr ablenken. «Oh, das ist meine schleckerleckerste Kotzgurke», sagte er. «Ach, das ist mein Delikatessichgern, den lutsch ich jeden Tag und jede Nacht. Hast du noch nie Kotzgurke gekostet, Blutschlucker?»
«Leberwesen sind viel saftiger, voll mit Blut», sagte der Blutschlucker.
«Du redest Firlefanz», sagte der GuRie, der von Sekunde zu Sekunde mutiger wurde. Er dachte nämlich, wenn er den Blutschlucker dazu bringen könnte, auch nur einen einzigen Bissen von dem widerlichen Gemüsezeug in den Mund zu nehmen, dann würde ihn der magenumstülpende Kotzgurken-Geschmack sofort schreiend aus der Höhle rennen lassen. «Es ist mir ein Vergnügen, dich ein Stückchen probieren zu lassen», sprach der GuRie weiter. «Aber eine Bitte: Wenn du geschmeckt hast, wie umwerfend gut das schmeckt, dann verschling nicht gleich die ganze köstliche Frucht, sondern laß mir noch ein Häppchen übrig.» Der Blutschlucker glotzte mißtrauisch mit seinen kleinen Schweinsäuglein auf die Kotzgurke.
Sophiechen kauerte in dem angebissenen Gurkenstück und zitterte am ganzen Leib.
«Du vergackeierst mich doch nicht, oder?» sagte der Blutschlucker drohend.
«Niemals!» rief der GuRie theatralisch. «Nimm mal einen Happen, und ich bin sicher, du schreist gleich begeistert los, was für ein schleckerlecker Delikatessichgern dieses Zaubergemüse ist.» Der GuRie konnte sehen, wie dem Blutschlucker vor lauter Gier das Wasser im Maul zusammenlief, weil jetzt eine Extramahlzeit in Aussicht stand. «Gemüse ist ja soo gesund», sagte der GuRie. «Es ist nicht gut für dich, wenn du immer nur Fleisch ißt.» «Nur dieses eine Mal», sagte der Blutschlucker, «will ich deinen vergammelten Fraß probieren. Aber ich warne dich: Wenn das Zeug ein Mist ist, dann knall ich dir das Ding mitten auf deine blöde kleine Matschbirne!» Jetzt hob er die Kotzgurke hoch. Es war ein weiter Weg durch die Luft bis hinauf zu seinem Maul - immerhin irgendwo da oben in fünfzehn, sechzehn Meter Höhe. Sophiechen war drauf und dran, «NEIN!!!» zu schreien. Aber das hätte nur noch todsicherer ihren Tod zur Folge gehabt. Zusammengekrümmt zwischen den glitschigen Gurkenkernen fühlte sie, wie sie immer höher und höher gehoben wurde.
Plötzlich machte es KRACH!, und der Blutschlucker hatte ein gewaltiges Stück abgebissen. Sophiechen sah die gelben Hauerzähne direkt neben ihrem Kopf zusammenschlagen. Und dann wurde es stockdunkel ringsherum. Sie war jetzt in seiner Mundhöhle drin und rang nach Atem in dem ekelhaften Gestank, der dort herrschte. Es stank nach verfaultem Fleisch. Gleich mußten die Hauerzähne noch einmal knirschen und krachend alles zermalmen. Darauf wartete Sophiechen jetzt und betete, es möge doch bitte recht schnell mit ihr zu Ende gehen.
«Uuaachch!» gurgelte der Blutschlucker. «Grroaatsch! Iigittigittigitt! Pfui Teufel!» Und spuckte alles in hohem Bogen wieder aus.
Die Kotzgurkenbrocken, die er im Maul hatte, flogen -zusammen mit der kleinen Sophie - quer durch die ganze Höhle.
Wenn Sophiechen gegen die Felswand geprallt wäre, hätte sie das nicht überlebt. Aber zum Glück wurde sie gegen das weiche Tuch von GuRies schwarzem Mantel geschleudert, der an der Wand hing. So schnell sie konnte, krabbelte sie unter den Saum des Mantels und verkroch sich irgendwo in den dunklen Falten.
«Du Schweinigel, du!» grölte der Blutschlucker. «Du elender kleiner Dreckfresser, du!» Damit sprang er auf den GuRie zu und haute ihm den Rest der Kotzgurke über den Schädel. Die Trümmer der alten Stinkgurke spritzten und flitzten durch die ganze Höhle.
«Schmeckt dir das etwa nicht?» fragte der GuRie scheinheilig und rieb sich den Kopf.
«Schmecken?» kreischte der Blutschlucker. «Das ist der al-lerekelafterlichste Geschmack, der mir jemals zwischen die Zähne gekommen ist. Du hast ja 'ne Ameise, daß du Schweißdreck wie das da runterwürgst. Dabei kannst du jeden Abend losgaloppieren und frank und frei wie Frankenstein die saftigsten Leberwesen vernaschen!» «Menschliche Leberwesen darf man aber nicht essen», sagte der GuRie.
«Das schmeckt doch wunderwunder und ersteklasse-klasse!» schmetterte der Blutschlucker. «Und heute abend galoppiere ich nach Norden und knabber da ein paar menschliche Leberwesen. Willst du wissen, warum ich nach Norden geh?»
«Nein, davon möchte ich gar nichts wissen», sagte der GuRie voller Würde.
«Nach Norden geh ich», sagte der Blutschlucker, «weil ich den Geschmack von Eiskimos satt habe. In diesem Affenhitzewetter muß man möglichst viel kalte Sachen essen. Und wenn man Eiskimos nicht mehr ausstehen kann, dann muß man sich einen von den großen Kühlen aus dem Norden holen, der tut so richtig gut.»
«Pfui Deibel», sagte der GuRie. «Du solltest dich schämen.»
«Die andern Riesen sagen alle, sie galoppieren heute abend nach Schrottland, um da in den Schulen ein paar menschliche Lehrerwesen abzustauben», sagte der Blutschlucker. «Schrottländische Lehrerwesen mag ich ja auch so gerne. Die schmecken so lecker nach Wandtafelkreide - hmm! Vielleicht geh ich doch lieber mit nach Schrottland.»
«Du bist widerlich», sagte der GuRie. «Und du? Du bist eine Schande für das ganze Riesenvolk!» schnauzte der Blutschlucker. «Du schaffst es einfach nicht, ein richtiger Riese zu sein! Ein quietschiges Stinktier! Ein dreckleckerer Schlammschlürfer bist du! Weißt du, was du bist? Du bist ein Schlotz - du bist ein schlotzrotziger Pup-sernickel, das bist du, und wie!»
Mit diesen starken Worten trollte sich der grausliche Blutschluckerriese aus der Höhle hinaus. Der GuRie eilte zum Höhleneingang und wälzte den Stein wieder davor. «Sophiechen?» flüsterte er. «Sophiechen? Wo bist du, Sophiechen?»
Sophiechen wühlte sich unter dem Saum des schwarzen Mantels hervor. «Hier bin ich», sagte sie.
Der GuRie hob sie hoch und trug sie behutsam in der
Hand. «Ach, ich bin ja so glücksig, daß ich dich ganz heil wiedergefindet habe und nicht kaputt», sagte er. «Ich bin in seinem Mund gewesen», sagte Sophiechen. «Wo bist du gewesen?» schrie der GuRie. Da erzählte ihm Sophiechen, was mit ihr passiert war. «Und ich sag ihm auch noch, er soll die olle Kotzgurke essen, wo du die ganze Zeit da drinnen gehockt hast!» stöhnte der GuRie.
«Witzig war das nicht gerade», sagte Sophiechen. «Aber wie siehst du denn aus, du armes Kind!» klagte der GuRie. «Du bist ja von oben bis unten voll Kotzgurke und Riesenspucke.» Und er begann sie sauberzumachen, so gut er es vermochte.
«Jetzt hasse ich die anderen Riesen noch viel mehr als sonst», sagte er. «Weißt du, was ich jetzt gern tun täte?» «Na was?» fragte Sophiechen.
«Ich würde sie am liebsten alle verschwundibus gehen lassen, einen nach dem andern.»
«Dabei würde ich dir aber von Herzen gerne behilflich sein», sagte Sophiechen. «Laß mich mal nachdenken, ob mir nicht etwas einfällt, wie man das hinkriegen könnte.»