Endlich wurde es hell. Zitronengelb ging die Sonne über den Dächern der großen Stadt London auf. Nicht lange, und Sophiechen verspürte schon etwas Sonnenwärme auf dem Rücken und war froh darüber. Aus der Ferne hörte sie die Glocke einer Kirchturmuhr schlagen. Sie zählte die Schläge. Es waren sieben. Sie konnte und konnte es einfach nicht fassen, daß sie, die arme kleine Sophia, ein Waisenkind ohne die geringste Bedeutung, jetzt in diesem Moment höchstpersönlich auf dem Fensterbrett des Schlafgemachs der Königin von England saß und daß die Königin ebenfalls höchstpersönlich da drinnen hinter den Vorhängen schlief, keine fünf Meter entfernt.
Allein die Vorstellung war schon der reinste Wahnsinn. So etwas hatte bis dahin noch keiner gemacht. Man brauchte schon sehr viel Mut, um so etwas zu machen.
Was würde wohl passieren, wenn das mit dem Traum nicht richtig funktionierte?
Kein Mensch, und schon gar nicht die Königin, würde ihr auch nur ein einziges Wörtchen glauben. Immerhin schien es denkbar, daß vorher überhaupt noch nie jemand aufgewacht war und hinter dem Vorhang auf der Fensterbank seines Schlafzimmers ein einsames kleines Kind angetroffen hatte.
Die Königin würde zweifellos einen Schock kriegen. Das würde wohl jeder.
So geduldig, wie nur kleine Mädchen es fertigbringen, die auf etwas Wichtiges warten, saß Sophiechen auf der Fensterbank: regungslos.
Wie lange dauert das denn noch, fragte sie sich. Um welche Uhrzeit werden wohl Königinnen wach? Tief aus dem Inneren des Königspalastes drang schwaches Rumoren und allerlei gedämpftes Geräusch an ihr Ohr. Doch dann, urplötzlich, passierte etwas hinter dem Vorhang: Sie hörte die Stimme der Dame, die in dem Schlafzimmer schlief. Die Stimme klang unklar, wie das so ist bei Leuten, die im Schlaf reden. «Nein! Nicht! - Man soll doch endlich einschreiten! - Das dürfen sie nicht! - Ich dulde das nicht! - Bitte, verhindern Sie das! - Wie schrecklich! - Oh, wie entsetzlich! - Nein! Nein! Nein ...!» Jetzt träumt sie den Traum, sagte sich Sophiechen. Das muß wirklich ein Schreckenstraum sein. Sie tut mir ja so leid. Aber wir mußten es tun.
Nun war Seufzen und Stöhnen zu hören. Dann herrschte lange Zeit Schweigen.
Sophiechen wartete ab. Sie schaute über ihre Schulter nach draußen. Es war ihr ein fürchterlicher Gedanke, jetzt würde da unten im Garten der Mann mit dem Hund stehen und zu ihr heraufblicken. Doch der Garten war leer. Ein fahler sommerlicher Morgendunst schwebte in der Luft wie zarter Rauch. Der Garten war riesig groß, wunderschön und hatte am Ende ganz hinten einen großen, komisch geformten See. In diesem See lag eine Insel, und auf dem Wasser paddelten Enten herum. Im Inneren des Schlafgemachs, hinter dem Vorhang, hörte Sophiechen plötzlich so etwas wie Anklopfen. Dann hörte sie, wie die Türklinke bewegt wurde. Und schließlich hörte sie, wie jemand in das Zimmer trat. «Guten Morgen, Euer Majestät», sagte eine Frauenstimme. Es war die Stimme einer schon etwas älteren Frau.
Danach kam eine Pause, bis leises Geklapper von Geschirr und Besteck zu vernehmen war.
«Wohin darf ich Ihnen das Tablett stellen, Madam? Aufs Bett oder auf den Tisch?»
«Ach, Mary! Gerade eben ist etwas Furchtbares passiert!»
Die Stimme der Königin! Der Königin von England! Sophiechen hatte diese Stimme schon im Radio gehört und im Fernsehen. So also hörte sich die Stimme einer Königin an!
«Was war denn los, Madam?»
«Ich habe gerade einen äußerst grausigen Traum geträumt! Ein wahrer Alptraum war das. Wirklich schauderhaft!»
«Oh, das tut mir aber leid, Madam. Doch machen Sie sich keine Sorgen. Nun sind Sie ja aufgewacht, und alles ist wieder gut. Es war halt nur ein Traum, Madam.» «Weißt du, was ich geträumt habe, Mary? Ich habe geträumt, in Kinderheimen würden kleine Mädchen und Jungen aus ihren Betten geholt und aufgefressen von greulichen Riesen! Diese Riesen streckten den Arm durch das Schlafsaalfenster und zupften sich die Kinder mit den Fingern heraus! Einen Happen aus einem Mädchenheim, und einen Happen aus einem Knabenheim! Alles war täuschend echt, Mary! Genau wie im wirklichen Leben!» Schweigen herrschte jetzt. Sophiechen wartete gespannt. Sie zitterte am ganzen Körper. Warum wurde da drinnen geschwiegen? Warum sagte die andere, die Kammerzofe, warum sagte die keinen Ton? «Mary, was hast du?» sagte die königliche Stimme. Wieder herrschte Schweigen.
«Mary! Du bist ja ganz weiß geworden! Geht's dir nicht gut?»
In diesem Augenblick gab es ein schrilles Geklapper, Geklimper und Geklirr von Geschirr, was nur bedeuten konnte: der Zofe war das Tablett mit dem Frühstück aus den Händen gefallen.
«Aber Mary!» rief die königliche Stimme tadelnd. «Ich glaube, du solltest dich lieber erst einmal setzen! Du siehst aus, als ob du gleich ohnmächtig wirst. Du brauchst es dir wirklich nicht so zu Herzen zu nehmen, wenn ich einmal einen schlimmen Traum gehabt habe.» «Aber . aber . das ist nicht der Grund, Madam.» Die Zofe sprach mit einer vor Angst zitternden Stimme. «Um Himmels willen, was ist denn sonst der Grund?» «Das mit dem Tablett tut mir sehr leid, Madam.» «Ach, laß doch das Tablett! Aber sag mal, warum hast du es denn bloß fallen lassen? Warum bist du mit einemmal schneeweiß geworden im Gesicht?» «Haben Sie schon gesehen, Madam, was heute in der Zeitung steht?»
«Nein, was steht da denn?»
Sophiechen hörte das Papier rascheln, als die Zeitung gereicht wurde.
«Da steht wörtlich dasselbe, was Sie vergangene Nacht geträumt haben, Madam.»
«Aber Mary, das ist doch Unsinn. Wo steht das?» «Gleich auf der ersten Seite, Madam. In der Schlagzeile.» «Allmächtiger Himmel!» rief die königliche Stimme. «Achtzehn Schülerinnen auf rätselhafte Weise aus Schlafsaalbetten verschwunden! Vierzehn Knaben in Internat vermißt! Knochenreste unter den Fenstern gefunden!» Die folgende Pause wurde hin und wieder von Seufzern der königlichen Stimme unterbrochen.
«Nein, wie grauenvoll!» rief die königliche Stimme. «Das ist ja ent-setz-lich! Knochenreste unter den Fenstern! Wie ist das nur möglich? Ach, diese armen, armen Kinder!» «Aber Madam ... merken Sie nicht, Madam ...» «Was soll ich merken, Mary?»
«Diese Kinder sind haargenau so umgekommen, wie Sie es geträumt haben, Madam!» «Aber nicht durch Riesen, Mary.»
«Das nicht, Madam. Aber die Sache mit den Mädchen und Jungs, die aus ihrem Schlafsaal verschwinden, davon haben Sie erst ganz deutlich geträumt, und dann ist es in Wirklichkeit passiert. Deswegen, Madam, ist mir mit einemmal so komisch geworden.» «Mir ist ja selber ein bißchen komisch zumute, Mary.» «Es macht mich ganz fertig, Madam, wenn so was passiert, völlig fertig.»
«Das kann ich nachfühlen, Mary.»
«Ich hole Ihnen jetzt ein neues Frühstück, Madam, und laß den Schlamassel wegräumen.»
«Nein. Geh nicht weg, Mary! Bleib noch einen Moment!»
Sophiechen hätte jetzt zu gerne in das Zimmer hineingeschaut, aber sie wagte nicht, die Vorhänge auch nur zu berühren. Da war auch schon wieder die königliche Stimme zu hören. «Ich habe ja tatsächlich von diesen Kindern geträumt, Mary. Und zwar kristallklar.» «Ja, Madam, das haben Sie, ich weiß.» «Ich weiß nur nicht, wie die Riesen ins Spiel gekommen sind. Das war natürlich Unsinn.»
«Soll ich den Vorhang aufziehen, Madam? Dann schaut alles gleich viel besser aus. Heut ist nämlich schönes Wetter.»
«Ja, bitte.»
Ritsch, ratsch wurden die langen Vorhänge beiseite gezogen.
Die Kammerzofe kreischte auf.
Sophiechen saß starr vor Entsetzen auf ihrer Fensterbank.
Die Königin saß, die Zeitung auf dem Schoß, aufrecht im Bett und blickte höchst erschrocken drein. Jetzt wurde sie starr vor Staunen. Sie kreischte aber nicht auf, wie die Zofe es getan hatte. Königinnen sind viel zu vornehm für dergleichen. Sondern sie saß einfach da und starrte mit aufgerissenen Augen und weiß gewordenem Gesicht auf das kleine Mädchen, das da auf ihrer Fensterbank hockte in einem Nachthemdchen. Sophiechen war wie versteinert.
Merkwürdigerweise sah auch die Königin aus wie versteinert. Eigentlich hätte sie eher überrascht aussehen müssen wie wohl jeder von uns, der eines Morgens als erstes ein kleines Mädchen auf seinem Fensterbrett entdeckt. Aber überrascht sah die Königin nicht aus, sondern zutiefst erschrocken.
Die Kammerzofe - eine gesetzte Person mit einer drolligen Haube auf dem Kopf - kam als erste wieder zu Verstand. «Um Himmels willen, was fällt dir denn ein?» schimpfte sie wütend Sophiechen an.
Sophiechen warf der Königin einen hilfeflehenden Blick zu.
Die Königin starrte Sophiechen immer noch an. Genauer gesagt: sie glotzte sie an. Ihr Mund stand ein bißchen offen, die Augen waren tellergroß aufgerissen, und das ganze königliche Antlitz war gezeichnet von abgrundtiefem Unglauben.
«Nun sag mir bloß mal, kleines Fräulein, wie um alles in der Welt bist du in dieses Zimmer hier gekommen?» schimpfte die Zofe voller Entrüstung. «Ich kann's nicht glauben», murmelte die Königin. «Ich kann's einfach nicht glauben.»
«Ich schaff sie raus, Madam, und zwar auf der Stelle», ließ die Kammerzofe sich vernehmen.
«Nein, Mary! Das wirst du nicht tun!» Das rief die Königin so streng, daß die Kammerzofe völlig verdattert innehielt.
Sie wandte sich um und starrte die Königin an. Was war denn plötzlich mit ihr los? Es sah so aus, als ob sie unter Schock stand.
«Ist bei Ihnen alles in Ordnung, Madam?» fragte die Zofe.
Als die Königin wieder sprechen konnte, war ihre Stimme völlig verändert. Mit einem erstickten Flüstern sagte sie: «Sag mal, Mary, sag mal ganz ehrlich: Sitzt da wirklich ein kleines Mädchen auf meiner Fensterbank, oder träume ich noch immer?»
«Die sitzt da wirklich, Madam, das ist sonnenklar. Aber wie die da hingekommen ist, weiß der Himmel. Euer Majestät träumen diesmal bestimmt nicht.» «Aber das ist genau das, was ich geträumt habe!» rief die Königin. «Das habe ich nämlich auch noch geträumt! Ich habe geträumt, ein kleines Mädchen sitzt bei mir auf der Fensterbank nur mit einem Nachthemd an und will mit mir sprechen!»
Die Kammerzofe hatte jetzt die Arme vor der weißgestärkten Brust gekreuzt und sah ihre Herrin fassungslos an. Das war ihr entschieden zu hoch. Da kam sie einfach nicht mehr mit. Niemand hatte ihr beigebracht, wie man mit einer solchen verrückten Situation fertig werden sollte.
«Bist du etwas Wirkliches?» sagte die Königin zu Sophiechen.
«Jjjjaja, Euer Majestät», murmelte Sophiechen. «Wie heißt du denn?» «Sophiechen, Euer Majestät.»
«Und wie bist du da oben auf meine Fensterbank gekommen? Oder nein, sag's noch nicht! Warte mal! Das habe ich doch auch geträumt! Ich habe geträumt, daß ein Riese dich da hingesetzt hat!»
«Das hat er auch, Euer Majestät», sagte Sophiechen.
Verzweifelt heulte die Kammerzofe auf und hielt sich die Hände vors Gesicht.
«Beherrschung, Mary», sagte die Königin streng. Dann sprach sie wieder zu Sophiechen. «Das mit dem Riesen meinst du doch wohl nicht ernst, oder?» «O doch, Euer Majestät. Er ist da draußen im Garten.» «Aha, so ist das also», sagte die Königin. Gerade weil alles so irrsinnig war, fand die Königin rasch wieder zu ihrer gewohnten Haltung zurück. «Er ist also da draußen im Garten, sagst du?» Bei dieser Frage ging ein feines Lächeln über das Gesicht der Königin.
«Er ist ein guter Riese, Euer Majestät», sagte Sophiechen. «Sie brauchen vor ihm keine Angst zu haben.» «Das höre ich aber sehr gerne», sagte, noch immer lächelnd, die Königin.
«Er ist mein bester Freund, Euer Majestät.» «Wie schön», sagte die Königin. «Er ist ein ganz lieber Riese, Euer Majestät.» «Das glaube ich dir», sagte die Königin. «Aber warum bist du mit dem Riesen zu mir gekommen?» «Ich glaube, das haben Sie auch geträumt, Euer Majestät», sagte Sophiechen sanft. Das riß die Königin ruckartig in die Höhe. Das feine Lächeln auf ihrem Gesicht war wie weggeblasen. Kein Zweifel, sie hatte auch das geträumt. Jetzt fiel es ihr wieder ein, daß es am Ende ihres Traums geheißen hatte, ein kleines Mädchen und ein guter Riese würden kommen und ihr sagen, wie man die neun schrecklichen Menschenfresser-Riesen ausfindig machen kann.
Aber Vorsicht, sagte sich die Königin. Ganz ruhig bleiben. Das ist alles hart an der Grenze zum Wahnsinn. «Sie haben das doch geträumt, nicht wahr, Euer Majestät?» fragte Sophiechen.
Die Kammerzofe hatte nun endgültig den Verstand verloren. Sie stand nur noch da und glotzte blöde. «Ja», murmelte die Königin. «Ja, jetzt fällt es mir wieder ein, wo du mich daran erinnerst. Aber woher weißt du, was ich geträumt habe?»
«Ach, das ist eine lange Geschichte, Euer Majestät», sagte Sophiechen. «Darf ich jetzt den Guten Riesen rufen?» Die Königin sah das Kind an. Das Kind sah die Königin an: Aug in Auge, vollkommen ernst, ehrlich und offen. Die Königin wußte nicht, was sie davon halten sollte. Wollte man sie etwa an der Nase herumführen, überlegte sie. «Soll ich ihn zu Ihnen rufen?» fragte Sophiechen nach. «Sie werden ihn sehr nett finden.» Die Königin holte tief Luft.
Sie war froh, daß niemand außer ihrer getreuen alten Mary mitbekam, was hier vor sich ging. «Na schön», sagte sie. «Ruf du nur deinen Riesen herbei. Oder nein, warte mal eben. Mary, reiß dich ein wenig zusammen und gib mir meinen Morgenmantel und die Pantoffeln.» Die Kammerzofe tat wie geheißen. Die Königin erhob sich vom Bett und zog sich einen blaßrosa Morgenmantel und Pantoffeln an.
«Jetzt darfst du ihn rufen», sprach die Königin. Sophiechen drehte den Kopf zur Seite und rief in den Garten: «Guu-Riie! Ihre Majestät, die Königin, erwartet dich!»
Die Königin trat ans Fenster und stellte sich neben Sophiechen.
«Komm mal lieber von der Fensterbank herunter», sagte sie. «Sonst fällst du mir noch nach draußen.» Sophiechen hüpfte auf den Parkettboden und stellte sich neben die Königin an das offene Fenster. Mary, die Kammerzofe, stand hinter ihnen. Sie hatte ihre Hände in die Taille gestemmt und zog ein Gesicht, als wollte sie damit zum Ausdruck bringen: «Das wird eine schöne Bescherung! Aber ich habe damit nichts zu tun!» «Ich sehe aber gar keinen Riesen», sagte die Königin. «Noch ein klein wenig warten, bitte», sagte Sophiechen.
«Soll ich sie jetzt wegbringen, Madam?» fragte die Kammerzofe.
«Ja, bring sie hinunter und gib ihr was zu frühstücken», sagte die Königin.
Genau in diesem Moment raschelte es in den Büschen am See.
Und dann war er da!
Acht Meter groß war er. Seinen schwarzen Umhang trug er so elegant wie ein vornehmer Herr. Die dünne Trompete hatte er immer noch in der Hand. So schritt er würdevoll über den königlichen Parkrasen auf das Fenster zu. Die Zofe kreischte. Die Königin seufzte. Und Sophiechen winkte.
Der GuRie ließ sich Zeit. Er sah richtig hoheitsvoll aus beim Näherkommen. Unmittelbar vor dem Fenster, an dem die drei standen, blieb er stehen und machte langsam eine höfliche Verbeugung. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, war sein Kopf ziemlich genau auf der Höhe der drei Zuschauerinnen am Fenster.
«Eure Majonese», sagte er. «Ich bin dein verlorsamster Diener.» Dabei verbeugte er sich noch einmal. Dafür, daß sie zum erstenmal in ihrem ganzen Leben einem Riesen begegnete, blieb die Königin erstaunlich gelassen. «Wir sind sehr erfreut, dich zu sehen», sagte sie. Drunten im Garten schob ein Gärtnerbursche seine Schubkarre über den Rasen. Der erblickte links von sich die Beine des GuRie. Entgeistert wanderten seine Augen immer weiter nach oben, den ganzen gewaltigen Körper hinauf. Seine Hände umkrallten krampfhaft die Schubkarrengriffe. Der Mann taumelte. Der Mann stolperte. Und schließlich schlug der Mann der Länge nach hin: bewußtlos. Aber keiner achtete auf ihn.
«Oh, Majonese!» rief der GuRie. «Oh, Königin! Oh, Herrschlerin! Oh, Reichstalerin! Oh, Staatsoberbraut! Oh, getöntes Haupt! Oh, Sultanine! Ich bin mit meiner kleinen Freundin Sophiechen gekommt, und wir wollen dir ein Bein ... eine Bein ...» Der GuRie stockte und suchte nach dem passenden Wort. «Ihr wollt mir ein Bein?» fragte die Königin. «Einen Bein. einen Beinstand leisten», brachte der GuRie dann doch noch heraus und strahlte. Die Königin sah verwirrt aus.
«Manchmal redet er ein bißchen komisch, Euer Majestät», sagte Sophiechen. «Er ist nie zur Schule gegangen.» «Dann müssen wir ihn in eine Schule schicken», sagte die Königin. «Wir haben sehr gute Schulen in unserem Land.»
«Ich muß Eure Majonese ganz riesige Geheimnisse erzählen», sagte der GuRie.
«Ich würde mich sehr freuen, sie zu hören», sagte die Königin. «Aber nicht im Morgenmantel.» «Wünschen Sie angekleidet zu werden, Madam?» fragte die Kammerzofe.
«Habt ihr beiden denn schon gefrühstückt?» fragte die Königin.
« Oh », rief da Sophiechen, «könnten wir etwas kriegen? O ja, bitte, ja! Seit vorgestern habe ich nichts mehr zu essen bekommen!»
«Mein Frühstück», sagte die Königin, «hat leider Mary auf den Boden geworfen.»
Die Kammerzofe mußte schlucken, sagte aber nichts. «Ich denke doch, daß wir hier im Palast noch mehr zu essen haben», sagte die Königin zum GuRie. «Vielleicht würdest du mir gerne Gesellschaft leisten mit deiner kleinen Freundin.»
«Gips etwa Kotzgurke, Majonese?» fragte der GuRie. «Wie bitte?» fragte die Königin. «Stinkige Kotzgurke?» wiederholte der GuRie. «Wovon ist hier bitte die Rede?» fragte die Königin. «Für meine Ohren hört sich das recht unanständig an.» Damit wandte sie sich an die Kammerzofe und sagte ihr: «Mary, laß Frühstück aufdecken für drei Personen, und zwar im ... ich glaube, am besten wohl im Ballsaal. Dort ist die Decke am höchsten.» Zum GuRie sprach sie: «Leider mußt du auf Händen und Knien durch die Tür kriechen. Ich schicke dir jemand, der dir den Weg zeigt.» Der GuRie streckte die Hand aus und holte Sophiechen durchs Fenster nach draußen. «Du und ich lassen jetzt Ma-jonese alleine, damit sie sich ordentlich macht», sagte er. «Nein, laß das kleine Mädchen ruhig bei mir», sagte die Königin. «Wir suchen ihr etwas zum Anziehen. Im Nachthemd kann sie doch nicht frühstücken.» Der GuRie schwenkte Sophiechen wieder zurück in das königliche Schlafgemach.
«Könnten wir wohl Bratwürstchen bekommen, Euer Majestät?» fragte Sophiechen. «Und auch Schinken mit Eiern?»
«Ich denke doch, das läßt sich machen», erwiderte die Königin lächelnd.
«Paß mal auf, wie dir das schmeckt!» sagte Sophiechen zum GuRie. «Von jetzt an gibt es nie wieder Kotzgurke!»