«Donnerschmetterling!» hauchte der Gute Riese. «Sind wir jetzt wirklich hinter der Königin?» «Da ist ihr Palast», hauchte Sophiechen zurück. Keine dreißig Meter entfernt, hinter hohen Bäumen, gepflegten Rasenflächen und schmucken Blumenrabatten zeichnete sich der wuchtige Bau des königlichen Palastes in der Dunkelheit ab. Er bestand aus weißlichen Steinen und war von so gewaltigen Ausmaßen, daß der GuRie platt war vor Staunen.
«Das Haus hat aber mindestens hundert Schlafzimmer, wenn nicht sogar aberhundert», sagte er. «Mindestens», flüsterte Sophiechen. «Das halte ich nicht aus», stöhnte der GuRie. «Wie soll ich denn das Zimmer finden, wo die Königin schläft?» «Komm, wir gehen etwas dichter ran und gucken mal», flüsterte Sophiechen.
Der GuRie glitt schwebend vorwärts durch die Bäume. Plötzlich blieb er ruckartig stehen. Das große Ohr, in dem Sophiechen saß, begann sich zu drehen. «Hey!» flüsterte Sophiechen. «Du kippst mich gleich runter!» «Pschscht!» flüsterte der GuRie zurück. «Ich hör was!» Hinter einem dichten Gebüsch ging er in Deckung und wartete ab. Das Ohr drehte sich noch immer, erst so herum, dann andersherum. Sophiechen mußte sich ganz fest am Ohrenrand anklammern, um nicht herauszukullern.
Der GuRie zeigte durch eine Lücke zwischen den Bü-schen, und was sah sie da? Keine zwanzig Meter entfernt sah sie einen Mann leise über den Rasen trotten mit einem großen scharfen Hund an der Leine. Der GuRie erstarrte zu Stein. Sophiechen auch. Der Mann und der Hund gingen weiter und verschwanden im Dunkel der Nacht.
«Du hast mir aber erzählt, es gibt keine Soldaten im Garten hinter dem Ballast», flüsterte der GuRie. «Das war auch kein Soldat», flüsterte Sophiechen. «Das war so etwas Ähnliches wie ein Nachtwächter. Wir müssen uns in acht nehmen.»
«Lieber in neun oder zehn nehmen», meinte der GuRie. «Aber zuviel Angst hab ich nicht. Meine tollen Ohren hören sogar, wenn am anderen Ende des Gartens ein Mann auch nur atmet!»
«Wie lange wohl noch, bis es hell wird?» flüsterte Sophiechen.
«Sehr kurz wohl noch», sagte der GuRie leise. «Wir müssen jetzt dalli machen!»
Damit glitt er weiter durch den großen Garten, und dem kleinen Sophiechen fiel es wieder auf, wie er beim Gehen scheinbar mit den Schatten verschmolz. Seine Füße bewegten sich vollkommen geräuschlos, sogar wenn er auf den Kieswegen lief.
Unversehens standen sie ganz dicht vor der Rückseite des großen Palastgebäudes. GuRies Kopf reichte bis zu den Fenstern der ersten Etage, und Sophiechen, die ja in seinem Ohr kauerte, hatte natürlich dieselbe Augenhöhe. Sämtliche Fenster hatten zugezogene Vorhänge. Nir-gendwo war Licht zu sehen. Aus der Ferne konnten sie das gedämpfte Rauschen des Verkehrs an der Hyde Park Corner hören.
Der GuRie blieb stehen und hielt sein anderes Ohr - das ohne Sophiechen - gegen das erste Fenster. «Nein», flüsterte er.
«Wonach horchst du denn?» flüsterte Sophiechen. «Nach Atmen», wisperte der GuRie. «Ich kann an der Atemstimme hören, ob es ein Männchen ist oder ein Weibchen. Das hier ist ein Männchen. Er grunzelt ein bißchen.»
Der GuRie glitt weiter, indem er seine lange dünne, schwarzumhüllte Gestalt an die Palastwand schmiegte.
Jetzt stand er vor dem nächsten Fenster und lauschte.
«Nein», flüsterte er.
Und weiter ging's.
«Dies Zimmer ist leer», flüsterte er.
Er horchte an einem Fenster nach dem anderen, aber jedesmal schüttelte er den Kopf und schlich weiter. Als er zu dem Fenster genau in der Mitte des Palastes kam, horchte er auch dort, ging aber nicht weiter. «Ahaa!» flüsterte er. «Hier haben wir eine Dame drin schlafen.» Sophiechen fühlte, wie ihr ein kleiner Schauder über den Rücken lief. «Aber was für eine Dame?» fragte sie flüsternd.
Der GuRie legte den Finger auf den Mund. Er brauchte jetzt vollkommene Stille. Ganz vorsichtig streckte er eine Hand durch den oberen Fensterspalt und schob mit äußerster Behutsamkeit den Vorhang ein wenig auseinander.
Der rötliche Schimmer des Nachthimmels über London drang in das Zimmer und warf einen Abglanz auf die Wände. Es handelte sich um ein großes Gemach: wunderschön eingerichtet mit üppigen Teppichen, vergoldeten Stühlen, einem Frisiertisch und einem Bett. Und auf dem Kissen in diesem Bett lag der Kopf einer schlummernden Frau.
Sophiechen wurde schlagartig bewußt, daß sie jetzt das Gesicht vor sich hatte, das sie schon vom Fernsehen und von Briefmarken her kannte.
Ein paar Sekunden war sie sprachlos.
«Ist sie das?» flüsterte der GuRie.
«Ja», hauchte Sophiechen.
Sofort machte sich der GuRie an die Arbeit. Zuerst öffnete er geschickt und lautlos die unteren Flügel des großen Fensters. Der GuRie war ja ein Fensterfachmann. Tausende von Fenstern hatte er schon aufgemacht im Laufe der Jahre, um in die Kinderzimmer seine Träume hineinblasen zu können. Manche Fenster klemmten. Einige klirrten. Andere quietschten oder knarrten. Da war es sehr schön, daß das Fenster der Königin perfekt funktionierte. Der GuRie öffnete es gerade so weit, daß Sophiechen auf der Fensterbank Platz nehmen konnte. Als nächstes zog er den Vorhang wieder zu. Dann nahm er Sophiechen zwischen Daumen und Zeigefinger von seiner Ohrmuschel herunter und setzte sie auf das Fensterbrett, so daß ihre Beine gerade noch ins Zimmer baumelten, aber hinter dem Vorhang blieben. «Mach ja keinen Salto nach hintern!» flüsterte der GuRie.
«Immer schön festhalten an dem Brett, und zwar mit beiden Händen.»
Sophiechen tat, was er sagte.
Es war Sommer in London, die Nacht war nicht kalt, aber man darf nicht vergessen, daß Sophiechen nur ihr dünnes Nachthemdchen anhatte. Was hätte sie nicht alles dafür gegeben, wenn sie jetzt ihren Bademantel gehabt hätte - weniger um sich damit zu wärmen, als vielmehr um ihr verräterisch weißes Nachthemd damit zu verhüllen vor den Wächterblicken von unten aus dem Garten.
Der GuRie holte das Glas aus seiner Manteltasche und schraubte den Deckel ab. Ganz, ganz vorsichtig ließ er dann den kostbaren Traum in den Trichter seiner Trompete schlüpfen. Hierauf schob er das lange, dünne Trompetenrohr durch den Schlitz zwischen den Fenstervorhängen, schob es möglichst weit in das Zimmer hinein und zielte dabei in die Richtung, wo, wie er wußte, das Bett stand. Und nun holte er tief Luft, blies seine Backen auf und -pffffustete los.
Gleich zog er die Trompete zurück, so behutsam, wie man zum Beispiel das Thermometer herauszieht. «Sitzt du gut so?» flüsterte er.
«Ja», antwortete Sophiechen. Eigentlich hatte sie ganz schön Angst, aber zeigen wollte sie nichts davon. Sie riskierte einen Blick über die rechte Schulter nach unten: Der Erdboden schien kilometerweit in der Tiefe zu liegen. Das war wirklich verdammt tief!
«Wie lange braucht der Traum, bis er wirkt?» flüsterte Sophiechen.
«Der eine braucht eine Stunde», erklärte der GuRie. «Der andere ist schneller. Wieder der andere ist noch langsamer. Aber der hier findet sie ganz bestimmt zum Schluß.» Sophiechen sagte nichts.
«Ich geh und warte im Garten», flüsterte der GuRie. «Wenn du mich brauchst, ruf meinen GuRie-Namen. Ich komme sehr schnell.»
«Und wenn du mich nicht hörst?» flüsterte Sophiechen. «Ich hab doch die hier», flüsterte der GuRie und zeigte lächelnd auf seine großen Ohren.
«Auf Wiedersehen», flüsterte Sophiechen. In diesem Moment geschah etwas Unerwartetes: Der GuRie beugte sich herunter und gab ihr auf die Backe einen zarten Kuß.
Da wären Sophiechen fast die Tränen gekommen. Als sie sich nach ihm umdrehte, war er schon verschwunden. Als ob er sich einfach in Nichts aufgelöst hätte.