«Aber wenn du kein Menschenfresser bist wie die anderen Riesen alle», sagte Sophiechen, «wovon ernährst du dich dann?»
«Das ist ein Problem in dieser Gegend», antwortete der GuRie. «In diesem verflixten Malefizland der Riesen wachsen all die guten Sachen nicht: keine Heidelbeeren, keine Stachelbeeren, keine Erd-, keine Brom- und keine Himbeeren, einfach nichts wächst hier, gar nichts - außer einem einzigen widerlichen Gemüse. Dieses Igittigittge-müse heißt - Kotzgurke!»
«Kotzgurke?» rief Sophiechen. «So was gibt's doch gar nicht!»
Der Riese schaute lächelnd auf Sophiechen herunter und zeigte dabei mindestens zwanzig von seinen Toastbrotscheibenzähnen. «Gestern», sagte er, «gestern hast du noch geglaubt, so was wie Riesen gibt's doch gar nicht, nicht wahr? Heute glaubst du, es gibt keine Kotzgurken. Nur weil du zufällig so ein Ding noch nie gesehen hast mit deinen kleinen blanken Augelchen, meinst du, so was gibt's doch gar nicht. Und was ist zum Beispiel mit dem großen Gaspedalhüpfer?» «Mit dem wie bitte?» fragte Sophiechen. «Und mit dem Kugelschreiberfisch?» «Was ist das denn?» fragte Sophiechen. «Und mit dem Plastiktütenkänguruh?» «Wo gibt's denn so was?» «Und mit dem Marmeladenmaulwurf?» «Sollen das Tiere sein?» fragte Sophiechen. «Das sind doch ganz gewöhnliche Tiere, die überalle vorkommen», sagte der GuRie herablassend. «Ich bin bestimmt kein Geistesriese, der alles weiß, aber du bist, glaube ich, ein menschliches Leberwesen, das überhaupt nichts weiß. Du bist ein richtiger Kohlkopf.» «Hohlkopf, meinst du», sagte Sophiechen. «Was ich meine und was ich sage, sind zwei verschiedene Dinge», verkündete der GuRie stolz. «Und jetzt zeige ich dir eine Kotzgurke.»
Der GuRie öffnete einen hohen Schrank und holte daraus das scheußlichste Ding hervor, das Sophiechen jemals gesehen hatte. Es war etwa halb so lang wie ein ausgewachsener Mann, aber viel dicker. In der Mitte war es so dick wie eine Mülltonne. Das Ding war schwarz mit weißen Längs-streifen. Und was am schlimmsten war: von oben bis unten und rundherum war das Ding übersät mit garstigen Warzen.
«Das hier ist also eine solche ekelerregende Kotzgurke!» rief der GuRie und schwenkte das scheußliche Ding durch die Luft. «Sie ekelt mich an! Ich kann sie nicht ausstehen! Sie dreht mir den Magen um! Aber weil ich es ablehne, menschliche Leberwesen zu essen wie die anderen Riesen, muß ich mich leider von diesen Igittigittdingern von Kotzgurken ernähren. Wenn ich die nicht hätte, wäre ich nur noch Kraut und Rüben.»
«Du meinst: Haut und Knochen», sagte Sophiechen. «Ja, ich weiß: es muß Haut und Knochen heißen», sagte der GuRie. «Aber du mußt bitte Geduld mit mir haben. Ich kann nichts dafür, wenn ich manchmal ein bißchen schief und krumm daherrede: Ich gebe mir immer die allergrößte Mühle.» Der Riese sah mit einemmal so arm und traurig aus, daß Sophiechen Mitleid bekam. «Es tut mir ja so leid», sagte sie. «Ich wollte nicht unhöflich sein.»
«Es gibt hier keine Schule im Riesenland, wo ich richtig reden lernen konnte», sagte der GuRie bekümmert. «Aber hättest du das nicht von deiner Mutter lernen können?» fragte Sophiechen.
«Von meiner Mutter?» schrie der GuRie. «Riesen haben doch keine Mutter! Sag bloß, das weißt du nicht.» «Das wußte ich wirklich noch nicht», sagte Sophiechen.
«Es heißt doch
Sophiechen begriff jetzt gar nichts mehr. «Wenn das so ist», sagte sie, «wer hat dich dann geboren?» «Riesen werden nicht geboren», erwiderte der GuRie. «Riesen gehen auf. Sie gehen einfach so auf, wie die Sonne aufgeht oder die Sterne.» «Und wann bist du aufgegangen?» fragte Sophiechen. «Woher soll ich das wissen?» sagte der GuRie. «Das ist so lange her, daß ich es gar nicht zählen kann.» «Willst du damit sagen, daß du nicht einmal weißt, wie alt du bist?»
«Das weiß kein einziger Riese», sagte der GuRie. «Ich weiß nur, daß ich sehr alt bin - sehr, sehr alt und sehr, sehr verschrumpelt. Vielleicht bin ich so alt wie die Erde.»
«Und wenn ein Riese stirbt, was passiert dann?» fragte Sophiechen.
«Riesen sterben nie», antwortete der GuRie. «Manchmal verschwindet ganz plötzlich ein Riese, und keiner weiß, wo er abgeblieben ist. Aber meistens leben wir Riesen immer weiter und immer weiter und hören nie auf.» Der GuRie hatte noch immer die gräßliche Kotzgurke in der rechten Hand. Jetzt schob er sich das eine Gurkenende in den Mund und biß ein großes Stück ab. Als er darauf herumkaute, hörte sich das an, als ob er mit den Zähnen dicke Eisbrocken zertrümmerte. «So ein Dreckskram!» sagte er prustend mit vollem Mund und spuckte dabei große Brocken Kotzgurke wie Wurfgeschosse in die Gegend. Sophiechen rannte im Zickzack über die Tischplatte, um nicht getroffen zu werden. «So etwas Widerliches!» stieß der GuRie hervor. «So etwas Magenumdrehendes, so was Schimmelverfaultes, so was Würmerzerfressenes, so was Stinkschleimverwe-stes! Probier selber mal ein Stück von der brechreizerregenden Kotzgurke!»
«O nein, danke vielmals», sagte Sophiechen und tat ein paar Schritte rückwärts.
«Du bekommst aber hier nichts anderes zu essen. Also ist es besser, wenn du dich gleich daran gewöhnst», sagte der GuRie. «Na los, du Fliegengewicht, hau rein!» Sophiechen nahm sich ein klitzekleines Krümelchen und steckte es in den Mund. Sofort schrie und würgte sie: «Iiiii-gittigittigitt! Ah! Äh! Ih! Oh! Uh! Hilfe!» Sofort spuckte sie alles aus. «Das schmeckt ja nach Stinkmorcheln», keuchte sie, «und nach verfaultem Fisch!» «Ich finde, noch schlimmer», rief der GuRie und schüttete sich aus vor Lachen. «Ich finde, das schmeckt nach Kacker-lakacke und nach schleimigen Schnecken.» «Müssen wir das essen? Unbedingt?» fragte Sophiechen. «Ja, das mußt du, oder du wirst so spindeldürr, daß du dich schließlich in eine Grütze voll Grind verwandelst.» «In eine Mütze voll Wind meinst du wohl», sagte Sophiechen. «Eine Grütze voll Grind ist etwas ganz anderes.» Schon wieder kam dieser traurige, rührende Blick in Gu-Ries Augen. «Die Wörter», sagte er, «sind für mich immer eine kitzlige Sache. Deswegen mußt du Geduld haben mit mir und nicht an mir herumverbessern. Ich hab dir ja schon vorhin gesagt, ich weiß genau, was ich sagen will, aber irgendwie gehen bei mir manchmal die Wörter durcheinander.»
«Das passiert doch jedem mal», sagte Sophiechen. «Aber nicht so doll wie mir», sagte der GuRie. «Ich rede andauernd ein bißchen meschugge.» «Ich finde, du redest sehr schön», sagte Sophiechen.
«Ja?» schrie der GuRie und strahlte plötzlich. «Findest du das würglich?»
«Sehr schön redest du, finde ich», wiederholte Sophiechen.
«Oh, das ist das wunderbastelste Geschenk, das ich in meinem Ganselebern bekommt habe!» jubelte der GuRie. «Und du machst dich auch bestimmt nicht lustig über mich?»
« Aber nein», sagte Sophiechen. «Ich hab das sehr gerne, wie du redest.»
«Das ist ja so wunderwunderlich!» rief der GuRie aus und strahlte immer noch. «Das ist ja hopsassa! Ach, ich bin ja so überglucksig, daß ich ganz aus dem Mäuschen bin!» «Aber hör doch mal zu», sagte Sophiechen. «Wir müssen doch keine Kotzgurken essen. Auf den Feldern bei unserem Dorf gibt es die besten Gemüsesorten in rauhen Mengen. Blumenkohl zum Beispiel und Mohrrüben. Warum bringst du dir nicht davon etwas mit, wenn du das nächste Mal in diese Gegend kommst?»
Da reckte der GuRie seinen großen Kopf voller Stolz in die Höhe und sprach: «Ich bin ein ehrlicher Riese. Lieber Kotzgurken kauen als andern was klauen.» «Aber mich hast du doch auch gestohlen», sagte Sophiechen.
«Dich habe ich aber nicht sehr doll gestohlen», sagte der GuRie mit einem feinen Lächeln. «Du bist ja doch nur ein menschlicher Winzling oder ein winziger Menschling.»