«Da gibt's gar nichts: Wir müssen sie einfach aufhalten!» sagte Sophiechen. «Steck mich schnell wieder in deine Westentasche, und dann rasen wir hinter ihnen her und warnen alle, was für gräßliche Kerle da nach England kommen.»
«Völlig witzlos und einfach geht nicht», sagte der GuRie. «Die rennen doch lässig doppelt so schnell wie ich und haben schon längst ausgegessen, wenn wir erst den halben Weg hinter uns haben.»
«Aber wir können hier doch nicht bloß herumsitzen und nichts tun!» rief Sophiechen. «Wie viele Mädchen und Jungen fressen die denn heute nacht noch auf?» «Viele», antwortete der GuRie. «Der Fleischfetzenfresser hat immer einen Riesenhunger.» «Holt er sie sich aus dem Bett, während sie schlafen?» «Wie die Ostereier hinterm Sofakissen», sagte der GuRie.
«Ich mag gar nicht daran denken», stöhnte Sophiechen. «Dann tu's auch nicht», sagte der GuRie. «Seit Jahren und Aberjahren sitze ich hier genau auf diesem Stein jeden Abend, wenn sie losgaloppieren, und ich fühl mich so traurig wegen all der menschlichen Leberwesen, die sie nun wieder wegputzen. Aber ich habe mich daran gewöhnen müssen. Ich kann da nichts machen. Wenn ich nicht so ein mickeriger kleiner Ferkelwutzriese wäre und wenn ich nicht nur acht Meter groß wäre, dann würde ich sie schon daran hindern. Aber so ist das völlig schlußausgeschlossen.»
«Weißt du jedesmal, wo sie hingehen?» fragte Sophiechen.
«Ja, jedesmal», sagte der GuRie. «Jeden Abend rufen sie mir das zu, wenn sie hier vorbeibrettern. Vor ein paar Tagen haben sie gerufen:
«Doch! Das müssen wir einfach!» schrie Sophiechen. «Warum willst du nicht mitmachen?» Der GuRie seufzte und schüttelte mit Entschiedenheit den Kopf. «Ich hab's dir doch schon fünf- oder sechsmal gesagt», sagte er. «Und jetzt sag ich's dir zum dritten- und letztenmal: Ich zeige mich den Leberwesen nie!»
«Und warum nicht?»
«Wenn ich das täte, dann täten sie mich in den Zoogarten einsperren zu all den zähen Braten, gierigen Affen und elenden Fanten.»
«Bestimmt nicht», sagte Sophiechen. «Und dich schicken sie sofortissimo wieder in das Weiße Haus zu Frau Hauerbatz», fuhr er fort. «Die Erwachsenen bei den menschlichen Leberwesen sind nicht gerade berühmt für ihre Liebenswürdigkeit. Das sind doch alles Stinkstiefel und Matschbirnen.»
«Das stimmt aber nicht», rief Sophiechen. «Ein paar von ihnen sind lieb.»
«Wer denn?» fragte der GuRie. «Nenn mir einen.» «Die Königin von England», sagte Sophiechen. «Du kannst doch die Königin nicht Stinkstiefel oder Matschbirne nennen.»
«Na jaa ...» murmelte der GuRie.
«Und Summkopf oder Piepstiesel kannst du die Königin auch nicht nennen», sagte Sophiechen und ärgerte sich ein bißchen.
«Nach der leckt der Fleischfetzenfresser sich schon lange die Lippen», sagte der GuRie mit einem Lächeln.
«Nach wem? Der Königin etwa?» schrie Sophiechen erschrocken auf.
«Ja», antwortete der GuRie. «Fleischfetzenfresser sagt, er hat noch nie Königin gegessen, und er meint, daß die vielleicht extrasuper edelnobel schmeckt.» «Was fällt dem denn ein!» sagte Sophiechen. «Aber Fleischfetzenfresser sagt, bei ihrem Königsballast, da stehen viele Soldaten herum, und da traut er sich nicht.»
«Das ist auch viel besser so», sagte Sophiechen. «Fleischfetzenfresser sagt auch immer, daß er so gerne mal einen von den Soldaten verspachteln würde mit seiner schönen roten Unniform. Aber er hat Angst vor ihren großen schwarzen Pelzmützen, die sie auf dem Kopf haben. Er denkt, nachher bleiben die bei ihm im Hals stecken.»
«Dem wünsch ich, daß er erstickt», sagte Sophiechen. «Fleischfetzenfresser ist ein ganz vorsichtiger Riese», sagte der GuRie.
Sophiechen schwieg eine Weile.
Dann plötzlich rief sie voller Begeisterung: «Ich hab's! Juhu, ich glaub, ich hab's!» «Was hab's?» fragte der GuRie.
«Die Lösung!» jubelte Sophiechen. «Wir gehen zur Königin! Das ist eine tolle Idee, eine obertolle sogar! Wenn ich zur Königin gehe und ihr von diesen ekelhaften Menschenfresserriesen erzähle, dann wird sie bestimmt etwas dagegen tun!»
Der GuRie sah traurig zu ihr hinunter und schüttelte den Kopf. «Sie glaubt dir kein Wort», sagte er. «Nie im Lehm tut sie das.»
«Ich glaub, doch.»
«Nieniemals», sagte der GuRie. «Das ist eine so irre verrückte Geschichte, daß die Königin dich nur auslacht und sagt:
«Also
«Natüllich wird sie das!» sagte der GuRie. «Ich hab dir doch schon mal gesagt, die menschlichen Leberwesen glauben einfach nicht an Riesen.»
«Dann müssen wir eben dafür sorgen, daß sie dran glauben», sagte Sophiechen.
«Und wie kommst du hin zu der Königin?» fragte der GuRie.
«Sekündchen, Sekündchen!» sagte Sophiechen. «Bitte, sei mal ein Sekündchen still, ich komm da auf noch eine Idee.»
«Deine Ideen sind bis oben hin voll Schnickschnack», sagte der GuRie.
«Aber die hier nicht», sagte Sophiechen. «Du meinst, die Königin wird uns nicht glauben, wenn wir ihr diese Sachen erzählen?»
«Auf gar keinen Knall und Fall», sagte der GuRie. «Aber wir erzählen ihr das gar nicht!» sagte Sophiechen wie elektrisiert. «Wir brauchen ihr das doch gar nicht zu erzählen! Wir lassen sie das alles träumen!» «Das ist eine noch verrücktere Idee», sagte der GuRie. «Träume sind was sehr Schönes, aber an Träume glaubt doch erst recht keiner. Du glaubst doch nur so lange an einen Traum, wie du träumst. Aber sofort wenn du aufwachst, sagst du:
«Darum mach dir mal keine Sorgen», sagte Sophiechen. «Das bring ich in Ordnung.»
«Das kannst du gar nicht schaffen», sagte der GuRie.
«Und ob ich das kann. Verlaß dich darauf. Aber zuallererst muß ich dir eine wahnsinnig wichtige Frage stellen, und zwar folgende: Kannst du jemand dazu zwingen, daß er eine ganz bestimmte Sache träumt?»
«Alles was du willst», sagte der GuRie voller Stolz.
«Wenn ich dir zum Beispiel sagen würde, ich will träumen, wie ich in der Badewanne sitze und damit durch die Luft fliege, und die Badewanne hat silberne Flügel - könntest du mich genau das träumen lassen?»
«Ja, das könnte ich», sagte der GuRie.
«Und wie?» fragte Sophiechen. «Denn vielleicht hast du ja ausgerechnet diesen Traum nicht in deiner Traumothek.»
«Den hab ich vielleicht wirklich nicht auf Lager», sagte der GuRie. «Aber ich könnte ihn in Nullkommanix zusammenmixen.»
«Zusammenmixen? Und wie machst du das?» «Etwa so, wie man einen Kuchenteich anrührt», sagte der GuRie. «Wenn du von allen Zutaten die richtige Menge zusammenmixt, dann kriegst du jeden Kuchen hin, wie du ihn haben willst: zuckrig, hefig, rosinig, weinachtig, tortig oder keksig. Genauso ist das mit den Träumen.»
«Und weiter?» fragte Sophiechen.
«In meiner Traumothek hab ich doch Millionen von Träumen, stimmt's oder hab ich recht?» «Genau», sagte Sophiechen.
«Ich hab Träume von Badewannen - jede Menge. Ich hab Träume von silbernen Flügeln. Und ich hab Träume vom Fliegen. Ich brauch also nur diese Träume fein säuberlich zusammenzumixen, und schon haben wir den Salat. Ich kann dir also im Hansumdrehen einen Traum anrühren, wo du in einer Badewanne mit silbernen Flügeln durch die Gegend düst.»
«Ich verstehe, was du meinst», sagte Sophiechen. «Ich hatte nur keine Ahnung, daß du Träume miteinander mischen kannst.»
«Oh, die Träume mögen sogar gerne zusammengemixt werden», sagte der GuRie. «So ganz allein in ihrer gläsernen Flasche fühlen sie sich sehr einsam.» «Ach so», sagte Sophiechen. «Hast du denn in deiner Traumothek auch Träume über die Königin von England?»
«Massig», sagte der GuRie.
«Und auch über Riesen?»
«Natüllich», sagte der GuRie.
«Und auch über Riesen, die Menschen fressen?»
«Aber immer», sagte der GuRie.
«Und auch über kleine Mädchen?»
«Das sind sogar die häufigsten», sagte der GuRie. «Träume über Mädchen - davon hab ich ganze Regale voll.» «Und könntest du die nun miteinander mischen? Genau nach meinem Rezept?» fragte Sophiechen und glühte vor Begeisterung.
«Natüllich könnte ich das», sagte der GuRie. «Und was bringt das? Ich glaub, du bist auf dem Holzweg.» «Abwarten, abwarten», sagte Sophiechen. «Paß mal auf. Ich möchte gern, daß du einen bestimmten Traum zubereitest, den du dann in das Schlafzimmer der Königin von England pustest, während sie schläft. Und zwar soll der Traum folgendermaßen gehen ...»
«Nicht so schnell, nicht so schnell!» bat der GuRie. «Und wie soll ich so nah an das Schlafzimmer der Königin von England herankommen, daß ich den Traum da reinpusten kann? Du redest Schnickschnack.»
«Später, später», sagte Sophiechen. «Jetzt mußt du bitte erst einmal gut aufpassen. Ich sage dir jetzt, was in dem Traum, den du zusammenbraust, vorkommen soll. Hörst du auch gut zu?»
«Auch sehr gut zu», sagte der GuRie. «Ich möchte, daß die Königin von England träumt, wie neun ekelhafte Riesen - jeder ungefähr sechzehn Meter dreiundzwanzig lang - bei Dunkelwerden nach England galoppieren. Sie soll auch ihre Namen träumen. Wie waren noch gleich die Namen?»
«Fleischfetzenfresser», sagte der GuRie. «Menschenpres-ser. Knochenknacker. Kinderkauer. Hackepeter. Klumpenwürger. Mädchenmanscher. Blutschlucker. Und Metzgerhetzer.»
«Laß sie alle diese Namen träumen», sagte Sophiechen. «Und laß sie träumen, wie diese Typen sich einschleichen nach England mitten in der Nacht, zur Geisterstunde, und wie sie sich kleine Jungen und Mädchen aus den Betten grapschen. Laß sie träumen, wie die Riesen durch die Schlafzimmerfenster greifen, wie sie die kleinen Jungen und Mädchen aus den warmen Betten zerren und sie dann . » Sophiechen mußte abbrechen. Aber dann kam sie doch mit der Frage heraus: «Wie ist das eigentlich? Werden sie gleich an Ort und Stelle verspeist oder erst einmal woandershin gebracht?»
«Die schmeißen sie sich immer direkt ins Maul wie Kartoffelchips», sagte der GuRie.
«Das muß also vorkommen in dem Traum», sagte Sophiechen. «Und dann . dann muß der Traum zeigen, wie sie knallvolle Bäuche haben und nun zurücktrampeln nach Riesenland, wo kein Mensch sie jemals finden kann.» «Alles?» fragte der GuRie.
«Noch lange nicht», sagte Sophiechen. «Du mußt dann der Königin doch noch im Traum erklären, daß es einen GuRie gibt, einen Guten Riesen, der ihr verraten kann, wo diese gräßlichen Unholde wohnen, damit sie ihre ganzen Soldatenarmeen da hinschicken kann, um sie ein für allemal gefangenzunehmen. Und dann laß sie noch eine letzte Sache träumen, die aber sehr wichtig ist. Nämlich laß sie träumen, daß bei ihr auf der Fensterbank ein kleines Mädchen sitzt, das heißt Sophiechen, und die kann ihr sagen, wo sich der Gute Riese versteckt hat.» «Versteckt hat? Wer? Wo?» fragte der GuRie. «Darüber reden wir später», sagte Sophiechen. «Also: die Königin träumt jetzt diesen Traum, nicht wahr?»
«Doch, nicht wahr», sagte der GuRie.
«Und dann wacht sie auf und denkt sofort:
«Und was sieht sie da?» fragte der GuRie.
«Sie sieht ein Mädchen mit Namen Sophiechen auf der Fensterbank sitzen, ganz echt und wirklich sieht sie das mit ihren eigenen Augen.»
«Aber darf ich mal fragen, wie du das machen willst: bei der Königin auf der Fensterbank sitzen?» «Ist doch klar, daß du mich da hinbringst», sagte Sophiechen. «Das ist ja gerade der Witz an der ganze Sache! Wenn jemand träumt, daß bei ihm im Zimmer ein kleines Mädchen auf der Fensterbank sitzt, und wacht auf und sieht das Mädchen wirklich da sitzen, dann ist doch der Traum in Erfüllung gegangen, oder nicht?»
«Ich verstehe allmählich, worauf du hinauswillst», sagte der GuRie. «Wenn die Königin merkt, daß eine Sache, die sie geträumt hat, wahr ist, dann glaubt sie vielleicht, das andere ist auch alles wahr.»
«Na bitte!» lobte Sophiechen. «Aber ich muß sie davon auch selber noch überzeugen.»
«Du hast gesagt, es wäre gut, wenn der Traum ihr erzählen würde, daß es einen Guten Riesen gibt. Soll der auch mit der Königin reden?»
«Unbedingt», sagte Sophiechen. «Du mußt das tun! Du bist doch der einzige, der ihr sagen kann, wo die wilden Kerle wohnen.» «Und wie soll ich zu der Königin hinkommen?» fragte der GuRie. «Ich mag es nicht, wenn ihre Soldaten auf mich schießen.»
«Die Soldaten stehen doch nur auf der Vorderseite des Palastes», sagte Sophiechen. «Hinter dem Königspalast ist aber ein riesiger Garten, in dem gibt es überhaupt keine Soldaten. Der Garten ist eingerahmt von einer sehr hohen Mauer mit Eisenspießen obendrauf, damit keiner hinüberklettert. Aber du als Riese kannst ganz leicht darüber hinwegspazieren.»
«Woher weißt du das alles über den Ballast der Königin?» fragte der GuRie.
«Voriges Jahr habe ich in einem englischen Waisenhaus gelebt», sagte Sophiechen. «Das war in London, und da haben wir immer Ausflüge gemacht in die Gegend vom Königspalast.»
«Kannst du mir denn zeigen, wie ich den Ballast finde?» fragte der GuRie. «Ich hab mich in meinem ganzen Lehm nie getraut, in London heimlich herumzuschleichen.» «Ich zeig dir den Weg», sagte Sophiechen entschlossen. «Ich hab aber Angst vor London», sagte der GuRie. «Das brauchst du doch nicht», sagte Sophiechen. «Da gibt es so viele kleine dunkle Sträßchen, und in der Geisterstunde ist sowieso kaum noch jemand unterwegs.» Der GuRie nahm Sophiechen zwischen Daumen und Zeigefingerspitze und stellte sie auf die Innenseite der anderen Hand. «Ist der Ballast der Königin groß?» fragte er. «Riesengroß», antwortete Sophiechen. «Und wie sollen wir das richtige Schlafzimmer finden?»
«Das ist deine Sache», sagte Sophiechen. «Du bist doch Experte in diesen Dingen, denk ich.»
«Und du bist sicher, die Königin sperrt mich nicht in den Zoogarten zu den gierigen Affen und elenden Fanten?» «Niemals tut sie das», sagte Sophiechen. «Im Gegenteil! Du wirst ein berühmter Held und brauchst nie wieder Kotzgurke zu essen.»
Da sah Sophiechen, wie der GuRie sofort glänzende Augen bekam. Er leckte sich gleich die Lippen. «Im Ernst?» rief er. «Jetzt aber mal ehrlich: nie wieder Kotzgurke?»
«Du könntest gar keine kriegen, selbst wenn du eine haben wolltest», sagte Sophiechen. «Diese Gemüsesorte züchten die Menschen nicht.»
Damit war die Sache klar. Der GuRie sprang auf die Füße.
«Wann soll ich diesen Königintraum zusammenmixen?» fragte er.
«Jetzt», sagte Sophiechen. «Sofortissimo.» «Und wann besuchen wir die Königin?» fragte er. «Noch heute nacht», sagte Sophiechen. «Sobald du den Traum fertig hast.»
«Heute nacht?» rief der GuRie. «Und warum so eine hetzige Hektik?»
«Wenn wir schon die Kinder von heute nacht nicht mehr retten können, dann wenigstens die von morgen nacht», sagte Sophiechen. «Und außerdem sterbe ich vor Hunger. Ich habe nichts mehr zu essen gekriegt seit vierundzwanzig Stunden!»
«Dann wollen wir uns beeilen», sagte der GuRie und machte sich auf in seine Höhle.
Auf die Spitze seines Daumens gab Sophiechen ihm einen Kuß. «Ich wußte, daß du mitmachst», sagte sie. «Jetzt geht es los!»