Grian hatte ihr die Nachricht bringen müssen. Sie war in die Herberge gekommen, in der Fidelma wohnte, und hatte ihr Zimmer betreten, ohne anzuklopfen. Fidelma lag auf ihrem Bett und starrte an die Decke. Sie zog ärgerlich die Brauen zusammen, als sie Grian erblickte.
»Ich hoffe, du willst mir nicht wieder was vorpredigen«, sagte sie streitlustig, bevor ihre Freundin zu Wort kam.
Grian setzte sich auf das Bett. »Wir vermissen dich alle, Fidelma. Wir möchten dich nicht in dieser Lage sehen.«
Fidelma verzog das Gesicht, ihr Ärger nahm zu.
»Es liegt nicht an mir, daß ich nicht im Unterricht bin«, entgegnete sie. »Es war Morann, der sich in mein Leben einmischte. Er war es, der mich ausgeschlossen hat.«
»Er tat es zu deinem Besten.«
»Es ging ihn nichts an.«
»Er meint, doch.«
»Ich mische mich auch nicht in sein Privatleben ein. Also sollte er mich ebenfalls damit verschonen.«
Grian war sichtlich unglücklich.
»Fidelma, ich fühle mich für das verantwortlich, was geschehen ist. Es war meine Dummheit .«
»Tu bloß nicht so, als hättest du mir was zu sagen, nur weil du mich mit Cian bekannt gemacht hast«, erwiderte Fidelma scharf.
»Das mache ich auch nicht. Ich habe gesagt, ich fühle mich verantwortlich. Was ich getan habe, hat vielleicht dein Leben zerstört. Das kann ich nicht ertragen.«
»Morann hat mein Studium unterbrochen, nicht du.«
»Aber Cian .«
»Erzähl mir nichts von Cian. Ich weiß, er benimmt sich manchmal unreif, aber seine Absichten sind gut. Er wird sich ändern.«
Grian schwieg einen Moment, dann sagte sie leise: »Du zitierst doch gerne aus Publilius Syrus. Hat er nicht geschrieben, daß ein zorniger Liebhaber sich viele Lügen einredet? Dasselbe gilt wohl auch für Frauen, wenn sie verliebt sind. Liebende wissen, was sie wollen, aber nicht, was sie brauchen. Du brauchst Cian nicht, und er will dich nicht.«
Fidelma wollte zornig aus dem Bett auffahren, doch Grian drückte sie zurück in die Kissen. Fidelma wußte gar nicht, daß ihre Freundin solche Kraft besaß.
»Du hörst mir jetzt zu, auch wenn es das letzte Mal sein sollte, daß wir miteinander reden. Ich tue das zu deinem eigenen Besten, Fidelma. Heute morgen hat Cian Una geheiratet, die Tochter des Verwalters des Großkönigs, und sie werden in Aileach bei den Cenel Eoghain leben.«
Grian sprach so rasch, daß Fidelma keine Gelegenheit hatte, sie zu unterbrechen.
Fidelma sah ihre Freundin mehrere lange Augenblicke verständnislos an. Es war totenstill, während ihr langsam die Bedeutung der Worte Grians aufging. Dann erstarrte ihr Gesicht, als sei es zu Stein geworden.
Grian wartete auf eine Reaktion ihrer Freundin, und als keine kam, setzte sie hinzu: »Ich hab schon vorher versucht, dich zu warnen. Du mußt doch gewußt oder wenigstens geahnt haben ...?«
Fidelma hatte das Gefühl, sie wäre aus der Wirklichkeit herausgeschleudert und in kaltes Wasser geworfen worden. Sie war wie betäubt und vollkommen sprachlos. Grian hatte sie gewarnt, und ehrlich gesagt, sie selbst hatte vermutet - und gefürchtet -, daß sie recht hatte. Sie hatte versucht, sich selbst zu täuschen und es abzuleugnen. Schließlich vermochte sie einen der vielen Gedanken, die ihr im Kopf herumwirbelten, in Worte zu fassen.
»Geh weg und laß mich allein«, rief sie mit vor Erregung brüchiger Stimme.
Grian schaute sie besorgt an. »Fidelma, du mußt verstehen .«
Im nächsten Moment fuhr Fidelma schreiend, schlagend und kratzend auf ihre Freundin los. Wäre Grian nicht erfahren in der Kunst der troid-sciathaigid, der Selbstverteidigung, gewesen, hätte sie ernste Verletzungen erlitten. Aber Grian beherrschte diese Technik, die vor Jahrhunderten entwickelt worden war, als die Gelehrten der fünf Königreiche sich gegen Angriffe von Dieben und Banditen schützen mußten. Da sie es für Unrecht hielten, Waffen zu tragen, mußten sie eine andere Art der Selbstverteidigung erfinden. Jetzt wurden viele Missionare, die in andere Länder gingen, darin ausgebildet.
Grian fiel es nicht schwer, Fidelmas unbeherrschte Wut zu bezwingen, denn ungesteuerte körperliche Kraftanstrengung führt zu nichts. Grian hatte sie schnell mit einem ihrer Griffe wehrlos gemacht und mit dem Gesicht nach unten in die Kissen gedrückt.
In diesem Moment platzte der Herbergswirt herein und wollte wissen, was das für ein Lärm sei, der seine Gäste störte. Seine entsetzten Blicke blieben sofort an den Töpfen und dem Stuhl hängen, die zu Bruch gegangen waren, bevor Fidelma von ihrer Freundin überwältigt worden war.
Grian schrie ihn nur an, er solle verschwinden, der Schaden werde bezahlt.
Eine lange, lange Zeit hielt sie ihre Freundin fest, bis die Wut und die Erregung aus ihrem Körper wichen, die Spannung verebbte und ihre Muskeln sich lockerten.
Schließlich sagte Fidelma in ruhigem und vernünftigem Ton: »Ich bin wieder in Ordnung, Grian. Du kannst mich loslassen.«
Widerstrebend gab Grian nach, und Fidelma richtete sich auf.
»Es wäre mir lieb, wenn du mich eine Weile allein läßt.«
Grian warf ihr einen forschenden Blick zu.
»Du brauchst dich nicht zu sorgen«, sagte Fidelma leise. »Ich mach keinen Unsinn mehr. Du kannst zur Hochschule zurückkehren.«
Grian zögerte noch, sie zu verlassen.
»Geh schon«, beharrte Fidelma, die ihr Schluchzen kaum noch zurückhalten konnte. »Ich hab’s versprochen - reicht dir das nicht?«
Nun glaubte Grian, daß der Anfall von Wahnsinn vorbei war, und erhob sich.
»Denk daran, Fidelma, daß du Freunde in der Nähe hast«, sagte sie.
Es dauerte noch mehr als einen Monat, bis Fidelma in Brehon Moranns Unterricht zurückkehrte. Der Alte bemerkte sofort die feinen Linien um die Winkel ihrer Augen und ihres Mundes. Sie verrieten eine Härte, die vorher nicht dagewesen war.
»Kennst du Aischylos, Fidelma?« fragte der Bre-hon ohne weitere Vorrede, als sie sein Zimmer betrat.
Sie schaute ihn verständnislos an und antwortete nicht.
»>Wer, außer Göttern, bleibt denn sein ganzes Leben lang von Leid verschont?««
Sie schwieg einen Moment. Dann sagte sie, ohne auf seine Worte einzugehen: »Ich möchte mein Studium wieder aufnehmen.«
»Ich für mein Teil würde mich freuen, wenn du das tust.«
»Darf ich mein Studium wieder aufnehmen?« fragte sie ihn ruhig.
»Hindert dich etwas daran, Fidelma?«
Fidelma hob mit ihrer alten trotzigen Geste das Kinn. Nach einigen Sekunden antwortete sie entschieden: »Nichts.«
Der Alte seufzte traurig, kaum vernehmbar.
»Wenn du Bitterkeit in deinem Herzen trägst, ist das Studium kein Zucker, der sie versüßt.«
»Haben die alten Barden nicht gesagt, daß wir durch Leid lernen?« erwiderte sie.
»Das ist richtig, aber nach meiner Erfahrung denkt der Leidende entweder zuviel oder zuwenig über seinen Schmerz nach. Ich fürchte, du denkst zuviel darüber nach, Fidelma. Wenn du zurückkommst, mußt du dich auf das Studium konzentrieren und nicht auf das Unrecht, das du deiner Meinung nach erlitten hast.«
Ihre Mundwinkel verengten sich.
»Mach dir keine Sorgen um mich, Brehon Morann. Ich werde mich jetzt meinem Studium widmen.«
Das tat sie dann auch. Die Jahre vergingen wie im Fluge. Sie erwarb ihren Grad nach acht Studienjahren und wurde die beste Schülerin, die Brehon Morann je hervorgebracht hatte. Das gestand der Alte selbst ein, und er war sparsam mit Lob. Aber das unschuldige junge Mädchen, das in seine Schule gekommen war, gab es nicht mehr. Unschuld und Jugend dauern nicht ewig, doch diese leichte Veränderung ihres Charakters stimmte den alten Morann traurig. Eine Bitterkeit war an die Stelle getreten, an der die Freude wohnen sollte.
Fidelma hatte ihr unbefangenes Wesen niemals wiedererlangt. Die Abweisung durch Cian hatte sie enttäuscht und verletzt, wenn auch mit den Jahren die Wunden vernarbten. Aber sie hatte es niemals vergessen und auch nicht wirklich überwunden. Die Bitterkeit hinterließ tiefes Mißtrauen. Vielleicht hatte sie das zu einer guten dalaigh gemacht, dieses Gespür für Verdächtiges, dieser Zweifel an Motiven. Sie durchschaute Täuschung so gut wie ein Wünschelrutengänger unfehlbar Wasser findet.
Fidelmas Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück.
»Na gut, Cian«, sagte sie knapp. »Wir können reden, wenn du es willst.«
Sie machte keine Bewegung und unternahm nichts, um ihm den Anfang zu erleichtern. Cian versuchte die Lage zu meistern, indem er die Treppe herunterkam, als wolle er sie zum Messedeck hinschieben, damit sie sich setzen könnten, aber sie blieb stehen und gab den Weg nicht frei. Sie standen in dem kleinen Durchgang zwischen den Kajüten, und Fidelma blockierte den Niedergang.
»Es sind viele Jahre vergangen, seit wir uns zuletzt gesehen haben, Fidelma«, begann Cian.
»Zehn Jahre, genau«, unterbrach sie ihn kurz.
»Zehn Jahre? Und jetzt verbindet sich mit deinem Namen ein gewisser Ruf. Ich habe gehört, du hast dann bei Brehon Morann weiterstudiert.«
»Klar. Ich hatte Glück, daß er mich wieder annahm, nachdem ich mir meine Chancen beinahe verdorben hatte.«
»Ich dachte, du wolltest eher ins Lehrfach als ins Rechtswesen.«
»Ich wollte viel, als ich noch jung war. Ich änderte meine Pläne und stellte fest, daß ich ein Talent dafür besaß, die Wahrheit aus Leuten herauszubekommen, die sie verbergen wollten. Es war ein Talent, das ich aus bitterer Erfahrung gewonnen hatte.«
Cian ging nicht auf ihren scharfen Ton ein. Er lächelte einfach wie gedankenverloren und tat so, als habe er ihre Anspielung nicht verstanden.
»Ich freue mich, daß du in deinem Leben Erfolg hast, Fidelma. Das ist mehr, als ich von mir sagen kann.«
Sie wartete einen Moment auf eine nähere Erklärung, dann meinte sie mürrisch: »Es überrascht mich, daß du deinen Beruf aufgegeben hast und Mönch geworden bist. Von allen denkbaren Berufen paßt der des Mönchs doch am wenigsten zu deinem Temperament?«
Cian lachte, doch mit einem unangenehm trüben Unterton.
»Du hast sofort den Nagel auf den Kopf getroffen, Fidelma. Dieser Berufswechsel lag auch nicht in meiner Absicht.«
Sie wartete ruhig auf eine Erklärung.
Da packte Cian seinen rechten Arm mit der linken Hand und hob ihn an, als habe der Arm selbst keine Kraft dazu. Dann ließ er ihn los, und er fiel schlaff herunter. Er lachte wieder.
»Wozu braucht man einen einarmigen Krieger in der Leibgarde des Großkönigs?«
Zum erstenmal, seit sie Cian wiedergesehen hatte, erkannte Fidelma, daß sein rechter Arm immer lose an seiner Seite hing und er alles mit der linken Hand tat. Wie konnte sie nur so blind gewesen sein, daß ihr das nicht aufgefallen war? Sie tat sich so viel auf ihre Beobachtungsgabe zugute, und dabei merkte sie jetzt erst, daß Cian nur einen Arm voll gebrauchen konnte. Eine schöne dalaigh war sie! Ein solcher Haß auf ihn hatte sie erfüllt, daß sie ihn nur so sah, wie er vor zehn Jahren in Tara gewesen war, und nicht so, wie er jetzt war. Ihr fiel ein, daß Cian den rechten Arm immer in der Kleidung zu verbergen schien. In einer Aufwallung instinktiven Mitleids berührte sie leicht seinen Arm.
»Es tut mir ...«
»Leid?« unterbrach er sie fast knurrend. »Ich will von niemandem Mitleid!«
Sie schwieg und hielt den Blick gesenkt. Ihre Haltung schien Cian zu ärgern. »Willst du mir nicht erzählen, daß ein Krieger damit rechnen muß, verwundet zu werden? Daß das sein Berufsrisiko ist?« höhnte er.
Sie war überrascht, daß ein leises Winseln von Selbstmitleid in seiner Stimme mitschwang. Es stieß sie ab, und ihr spontanes Mitgefühl verging so schnell, wie es gekommen war.
»Warum? Ist es das, was du hören willst?« konterte sie.
Ihr Ton machte Cian noch zorniger.
»Ich habe es oft genug von Leuten gehört, die gern ihre schmutzige Arbeit von solchen wie mir machen lassen und sie hinterher nicht mehr kennen.«
»Wurdest du im Kampf verwundet?« Sie ging nicht auf seinen Anwurf ein.
»Ein Pfeil im rechten Oberarm, der die Muskeln zerriß und den Arm unbrauchbar machte.«
»Wann passierte das?«
»Vor ungefähr fünf Jahren. Es war im Grenzkrieg zwischen dem Großkönig und dem König von Laigin. Meine Kameraden brachten mich in das Krankenhaus in Armagh und ließen mich pflegen. Es stellte sich bald heraus, daß ich zum Krieger nicht mehr taugte, und als ich mich erholt hatte, war ich gezwungen, in die Abtei Bangor einzutreten.« Offensichtlich meinte Cian, daß man ihm ein Unrecht angetan hatte.
»Gezwungen?« forschte Fidelma.
»Wo sollte ich sonst hin? Ein Einarmiger - wozu war ich sonst noch nütze?«
»Ist die Verletzung unheilbar? Es gibt sehr gute Ärzte in Tuam Brecain.«
Cian schüttelte mürrisch den Kopf.
»Sie sind nicht gut genug, damals wie jetzt. Ein paar Jahre habe ich in der Abtei einfache Arbeiten verrichtet, wie ich sie eben mit meinem einen Arm tun konnte.«
»Hast du andere Ärzte konsultiert?«
»Das ist der Zweck meiner jetzigen Reise«, gestand er. »Ich habe von einem Arzt in Iberia gehört, der Mormohec heißt und in der Nähe des Schreins des heiligen Jakobus wohnt.«
»Und diesen Mormohec willst du aufsuchen?«
»Es gibt genug Schreine und Grabmale von Heiligen in den fünf Königreichen, so daß ich keine Fahrt über See unternehmen würde, bloß um einen weiteren zu sehen. Ja, ich will zu diesem Mormohec. Es ist meine letzte Chance, wieder zu einem richtigen Leben zu kommen.«
Fidelma zog leicht die Brauen hoch. »Zu einem richtigen Leben? Anscheinend betrachtest du deinen jetzigen geistlichen Beruf nicht als ein richtiges Leben?«
Cian stieß ein kurzes spöttisches Lachen aus.
»Du kennst mich doch, Fidelma. Du kennst mich sehr gut. Kannst du dir vorstellen, daß ich den Rest meines Lebens als fetter Pater hinter den Mauern einer Abtei verbringe und fromme Psalmen singe?«
»Was sagt deine Frau dazu?«
Cian schaute verdutzt drein.
»Meine Frau?«
»Wie ich mich erinnere, hast du die Tochter des Verwalters des Königs in Aileach geheiratet. Sie hieß Una. Hast du mich nicht deswegen in Tara ohne ein Wort verlassen?«
»Una?« Cian zog ein Gesicht, als hätte er etwas Unangenehmes im Mund. »Una ließ sich sofort von mir scheiden, als die Ärzte meine Verwundung für unheilbar befunden und erklärt hatten, ich werde mein Leben lang ein Krüppel bleiben.«
Fidelma bemühte sich, ihre Schadenfreude nicht offen zu zeigen. Im stillen tadelte sie sich für das, was sie empfand, aber sie wurde noch von dem beherrscht, was vor zehn Jahren geschehen war.
»Das muß ein großer Schock für dich gewesen sein - mit deinen eigenen Waffen geschlagen zu werden.« Die Worte fuhren ihr heraus, ehe sie es sich versah.
Cian war in Gedanken und überhörte den zweiten Teil des Satzes, den Fidelma mit solcher Befriedigung ausgesprochen hatte.
»Schock. Ja, das war einer! Dieses selbstsüchtige kleine Luder!«
Fidelma mißbilligte seine heftige Reaktion.
»Wärst du nicht schon geschieden, Cian, hättest du jetzt einen der triftigsten Gründe geliefert, aus denen eine Ehefrau sich nach den Gesetzen des Cdin Ldnam-na scheiden lassen kann«, erklärte sie ihm vorsichtig.
Cian ließ sich nicht beirren.
»Ich könnte noch Schlimmeres von ihr sagen, aber es lohnt sich nicht.«
»Hattet ihr Kinder?«
»Nein!« Das Wort kam wie ein Peitschenschlag. »Sie behauptete, das läge an mir, und führte das als Scheidungsgrund an, statt zuzugeben, daß sie nicht länger mit einem Mann zusammenleben wollte, der ihr keinen Luxus mehr bieten konnte.«
»Sie hat dir Sterilität vorgeworfen?«
Fidelma wußte wohl, daß sexuelles Versagen des Ehemannes als Scheidungsgrund galt. Sterilität des Mannes wurde im Gesetz als einer der Scheidungsgründe genannt. Fidelma konnte kaum glauben, daß Cian, das Urbild eines kräftigen Mannes, der ständig darauf aus war, seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen, in diesen Verdacht geraten konnte. Ihr erschien es wie Ironie, daß ausgerechnet er mit dieser Begründung geschieden worden war.
»Ich war nicht steril. Sie wollte keine Kinder«, protestierte Cian grollend.
»Aber das Gericht hat doch sicher Beweise für ihre Anschuldigung verlangt und geprüft?«
Fidelma wußte, daß das Gesetz sehr streng mit Frauen verfuhr, die ihre Ehemänner ohne triftigen Grund verließen, genau so wie mit Männern, die ihre Ehefrauen ohne rechtlichen Grund verließen. Eine Frau, die keinen triftigen Grund vorweisen konnte, wurde als »flüchtig nach dem Ehegesetz« bezeichnet und verlor ihre Rechte in der Gesellschaft, bis sie sich besserte.
Cian stieß Luft zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er senkte kurz den Blick, und dieser Geste entnahm Fidelma, daß das Gericht sein Urteil nicht ohne Beweise gefällt hatte. Es sah aus, als sei Cian schließlich von der Strafe der Natur ereilt worden. Was hatte doch ihr Lehrer, Brehon Morann, immer gesagt: »Die Schuldigen können Gerechtigkeit schwerer ertragen als Ungerechtigkeit.«
»Jedenfalls«, fuhr Cian fort und schüttelte sich, als wollte er sich von den Geistern der Vergangenheit befreien, »bin ich froh, laß uns das Schicksal wieder zusammengeführt hat, Fidelma.«
Sie verzog spöttisch den Mund.
»Wozu soll das gut sein, Cian? Willst du versuchen, mich für die Qualen zu entschädigen, die du einem naiven jungen Mädchen bereitet hast?«
Er setzte wieder das alte bezaubernde Lächeln auf, das sie so hassen gelernt hatte.
»Qualen? Du weißt, daß ich mich stets zu dir hingezogen gefühlt und dich bewundert habe, Fidelma. Vergessen wir die Vergangenheit. Ich glaubte damals, ich täte, was für dich am besten war. Wir haben eine lange Seefahrt vor uns und ...«
Fidelma überlief ein eisiger Schauer, als sie merkte, daß er sie entwaffnen wollte. Sie trat einen Schritt zurück.
»Wir haben nun genug Worte gewechselt, Cian«, erwiderte sie kalt.
Sie wollte an ihm vorbei, aber er packte ihren Arm mit der linken Hand. Sie war überrascht von der Stärke seines Griffs.
»Komm, Fidelma«, drängte er sie. »Ich weiß, du magst mich noch, sonst würdest du nicht so leidenschaftlich reagieren. Ich lese dein Gefühl in deinen Augen .«
Er versuchte sie mit seinem gesunden Arm an sich zu ziehen. Sie stellte sich auf einen Fuß und trat ihm kräftig vors Schienbein. Er fuhr zurück und ließ sie mit einem Fluch los.
Ihre Miene verriet ihren Abscheu.
»Du bist eine jämmerliche Gestalt, Cian. Ich könnte mich beim Kapitän des Schiffes über dich beschweren, aber ich gebe dir die Chance, mir für den Rest der Zeit, die wir auf diesem Schiff verbringen müssen, aus dem Wege zu gehen. Bleib mir mit deiner elenden kleinen Existenz aus den Augen.«
Ohne abzuwarten, ob er gehorchte, drängte sie sich an ihm vorbei und machte sich auf die Suche nach Wenbrit. In dem kurzen Gang zwischen den Heckkajüten war niemand. Sie blieb vor der stehen, die Schwester Muirgel bewohnt hatte, denn sie bemerkte, daß die Tür einen Spalt offenstand. Drinnen bewegte sich etwas. Sie schob die Tür weiter auf und rief leise in die Dunkelheit.
»Wenbrit? Bist du hier drin?«
Wieder bewegte sich etwas.
»Bist du das?« zischte Fidelma.
Es gab ein kratzendes Geräusch, und ein flackerndes Licht erhellte die Kajüte. Wenbrit hatte den Docht der Laterne höher gedreht. Fidelma seufzte erleichtert, trat in die Kajüte und schloß die Tür hinter sich.
»Was machst du hier im Dunkeln?« fragte sie.
»Ich warte auf dich.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Beim Frühstück hörte ich, wie sie von dir sprachen und sagten, du könntest Geheimnisse ergründen. Bist du wirklich eine dalaigh bei den Gerichten deines Landes?«
»Das stimmt.«
»Dann gibt’s hier ein Geheimnis, das ergründet werden muß, Lady.« In der Stimme des Jungen lag unterdrückte Erregung und noch etwas - eine seltsame Spannung, beinahe wie Furcht.
»Am besten erklärst du mir, um was es geht, Wen-brit.«
»Na, es geht um die Schwester, die die Kajüte hier bewohnte - Schwester Muirgel.«
»Weiter.«
»Sie war krank, wie du weißt.«
Fidelma wartete geduldig.
»Es heißt, sie ging beim Sturm an Deck und fiel über Bord.«
»Das klingt, als glaubst du das nicht, Wenbrit«, meinte Fidelma, die das aus seinem Ton heraushörte.
Wenbrit beugte sich plötzlich vor und holte unter der Koje eine dunkle Kutte hervor.
»Nach dem Frühstück sollte ich die Kajüte aufräumen und ihre Sachen zusammenpacken. Das hier war ihre Kutte.«
Fidelma schaute sie sich an.
»Ich verstehe dich nicht.«
Wenbrit nahm ihre Hand und drückte sie gegen die Kutte. Sie war feucht.
»Sieh dir deine Hand genau an. Es ist Blut dran.«
Fidelma hielt ihre Finger gegen das flackernde Licht. Sie konnte den dunklen Fleck auf ihren Fingerspitzen gerade noch erkennen.
Einen Moment starrte sie Wenbrit an. Dann nahm sie die Kutte und hielt sie hoch. Vorn hatte sie einen gezackten Riß.
»Wo hast du die Kutte gefunden?«
»Hier unter der Koje versteckt.«
»Wenn das Blut ist .« Fidelma hielt nachdenklich inne und sah den Jungen an. Jetzt verstand sie die Mischung von Aufregung und Furcht in seinem Gesicht.
»Ich sagte schon, Schwester Muirgel war krank. Bevor ich mich gestern abend schlafen legte, kam ich zu ihr, um zu sehen, ob sie noch etwas brauchte. Es ging ihr nach wie vor schlecht, und sie sagte, ich sollte sie in Ruhe lassen.«
»Und das tatest du auch?«
»Natürlich. Ich ging in meine Koje. Aber mich beunruhigte was.«
»Nämlich?«
»Ich glaube, Schwester Muirgel hatte Angst.«
»Meinst du vor dem Sturm?«
»Nein, nicht vor dem Sturm. Als ich kam und fragte, ob sie was brauchte, hatte sie ihre Kajütentür zugesperrt. Ich mußte rufen und ihr versichern, daß ich es war, ehe sie aufmachte.«
Fidelma wandte sich nach dem Türriegel um.
»Ich dachte nicht, daß diese Türen sich verschließen lassen«, sagte sie.
Der Junge hob die Laterne, damit sie besser sehen konnte.
»Schau dir die Kratzspuren an. Man braucht nur ein Stück Holz oder ein Ende eines Kruzifixes, wie ihr sie tragt, einzuklemmen, dann läßt sich der Riegel nicht anheben, und die Tür ist von außen nicht zu öffnen.«
Fidelma trat zurück.
»Und so hatte Schwester Muirgel ihre Tür blok-kiert?«
»Ja. Sie war krank, und sie hatte Angst. Es ist un-möglich, daß sie in diesem Zustand bei solch einem fürchterlichen Sturm an Deck herumlief.«
»Hast du sie nachher noch gesehen?«
»Nein. Ich ging in meine Koje und schlief ein. Ich bin erst nach dem Morgengrauen aufgestanden.«
»Während des Sturms warst du nicht an Deck?«
»Nein, das brauche ich nicht, wenn mich der Kapitän nicht ausdrücklich holen läßt.«
»Also hast du nichts mehr von Schwester Muirgel gesehen, nachdem du von ihr weggegangen warst?«
»Nein. Ich wurde davon wach, daß einer der Mönche kurz nach dem Morgengrauen das Schiff absuchte. Ich hörte, wie er mit den anderen sprach und sagte, Schwester Muirgel ist verschwunden. Es war der Mann, mit dem du eben geredet hast. Dann hörte ich, wie Murchad sagte, wenn sie nicht auf dem Schiff ist, dann muß sie während der Nacht über Bord gegangen sein. Der Kapitän meinte, das wäre die einzig mögliche Erklärung.«
»Also, Wenbrit«, überlegte Fidelma, »was hältst du davon? Hast du eine andere Erklärung?«
»Ich sage, daß Schwester Muirgel nicht in der Verfassung war, an Deck zu gehen, nicht bei dem Seegang, den wir in der Nacht hatten.«
»In der Verzweiflung machen die Menschen manchmal ganz verzweifelte Sachen«, bemerkte Fidelma.
»Diese Nonne aber nicht«, widersprach Wenbrit.
»Also was meinst du?«
»Ich sage, sie war zu krank, um sich von selbst zu bewegen. Die Kutte, die sie trug, hat ein gezacktes Loch und ist voller Blut. Wenn sie über Bord ging, dann nicht durch einen Unfall.«
»Also was denkst du, was passiert ist?«
»Ich meine, sie wurde getötet und dann über Bord geworfen!«