Kapitel 12

Es war am späten Nachmittag. Der Himmel hatte sich aufgehellt, und die Sonne wärmte zwar nicht, überschüttete aber die See mit funkelnden, tanzenden Lichtpunkten. Fidelma stand am Bug, an die Reling gelehnt, und dachte über das nach, was sie bisher über das seltsame Verschwinden Schwester Muirgels gehört hatte. Es ergab ein eigenartiges Bild. Manche der Pilger hatten anscheinend ausgeprägte Meinungen über Schwester Muirgel. Bruder Guss behauptete, er habe sie geliebt, war aber merkwürdigerweise von ihrem Tod nicht sehr erschüttert. Zweifellos sagte Guss nicht die Wahrheit - doch worüber nicht? Über sein Verhältnis zu Muirgel? Oder über etwas anderes?

Ein Ruf aus dem Mastkorb unterbrach ihr Nachsinnen. Am Heck, wo Murchad wie üblich seinen Platz am Steuerruder eingenommen hatte, entstand ungewohnte Unruhe. Fidelma wanderte über das Hauptdeck nach hinten und bemerkte, daß der Kapitän und mehrere seiner Leute nach Nordosten spähten. Sie folgte ihren Blicken, sah aber nichts als glitzernde graue Wogen.

»Was gibt’s?« fragte sie Murchad. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

Der Kapitän schien stark beschäftigt. »Der Ausguck im Mastkorb hat ein Schiff gesichtet«, antwortete er.

»Ich sehe nichts.« Fidelma schaute wieder in die Richtung, in die alle wie gebannt starrten.

»Der Rumpf ist noch unter der Kimm im Nordosten, aber es hat alle Segel gesetzt.«

Fidelma war sich nicht sicher, was diese seemännischen Ausdrücke bedeuteten, und sagte es auch.

»Der Schiffsrumpf wird noch von der See verdeckt«, erläuterte Murchad. »Bei solchem Wetter wie heute kann man etwa drei bis vier Meilen bis zum Horizont sehen. Das Schiff ist noch außer unserer Sichtweite, aber die Segel sind vom Mastkorb aus zu erkennen, weil er entsprechend höher ist.«

»Ist das ein Grund zur Sorge?« fragte Fidelma.

»Solange ich nicht weiß, was es ist, macht mir ein fremdes Schiff immer Sorgen«, erwiderte Murchad.

Gurvan stand am Ruder mit einem Matrosen, von dem Fidelma inzwischen wußte, daß er Drogan hieß. Er rief Murchad zu: »Was für ein Schiff es auch ist, Kapitän, es hat den Wind im Rücken. In einer Stunde haben wir es voll in Sicht.«

Murchad antwortete nachdenklich: »Wir sollten uns in Luv halten, bis wir wissen, um wen es sich handelt. Wer hat die schärfsten Augen?«

»Hoel, Kapitän.«

Murchad wandte sich um und schrie ins Schiff hinunter: »Hoel!«

Ein untersetzter Matrose mit langen, muskulösen Armen kam in dem wiegenden Schritt herauf, den Fidelma seit langem mit Seeleuten verband.

»In den Mastkorb, Hoel, und sag uns laufend Bescheid, was das Schiff macht.«

Der Mann nickte und sprang mit einer Behendigkeit in die Wanten, die Fidelma nicht für möglich gehalten hätte. Nach wenigen Sekunden war er an den Tauen hochgeklettert und löste den Mann im Mastkorb ab, der das Schiff zuerst gesichtet hatte.

Fidelma spürte eine eigenartige Spannung auf dem Schiff.

»Der Ozean ist doch so groß, warum wirkt da der Anblick eines einzigen anderen Schiffes so beunruhigend?« fragte sie.

Der Kapitän lächelte verkniffen.

»Wie ich schon sagte, bis man weiß, wer der andere ist, muß man vorsichtig sein. Erinnerst du dich noch, wovor ich neulich warnte? Diese nördlichen Gewässer sind voll von angelsächsischen Sklavenjägerschiffen, und wenn es keine Angelsachsen sind, dann eben Franken oder sogar Goten. Die treiben sich alle in diesen Gewässern herum.«

Fidelma schaute zu dem Horizont, der ein Schiff verbarg, das so bedrohlich schien.

»Du meinst, es ist ein Piratenschiff?«

Murchad zuckte die Achseln.

»Es ist besser, zu vorsichtig zu sein, als zu leichtsinnig: Erst in ungefähr einer Stunde werden wir wissen, woran wir sind.«

Fidelma war enttäuscht.

Ihr schien, die Seefahrt bestehe aus langen Zeiten langweiliger Untätigkeit, unterbrochen von plötzlichen Ausbrüchen rasender Aktivität. Es war eine seltsame Lebensweise. Sosehr sie die See faszinierte, sie zog ein Leben an Land doch vor. Im Augenblick konnte man zur Lösung des neuen Problems gar nichts tun, sondern mußte abwarten, und in diesem Fall konnte sie die Zeit am besten nutzen, indem sie weitere Erkenntnisse über Schwester Muirgel sammelte.

Sie sah den großen, abweisend aussehenden Bruder Tola auf dem Deck sitzen, mit dem Rücken an das Wasserfaß neben dem Großmast gelehnt. Er las in einem kleinen Buch in einer Tasche von der Art, wie sie die meisten Pilger heutzutage bei sich führten, und schien die Spannung unter den Seeleuten überhaupt nicht wahrzunehmen. Sie ging zu ihm hin. Als ihr Schatten über ihn glitt, schaute Bruder Tola auf, und ein Ausdruck der Verärgerung trat auf sein langes, kantiges Gesicht.

»Ach, die dalaigh.« Sein Ton war bewußt respektlos. Dann schloß er sorgfältig das Buch und steckte es in seine Tasche, die neben ihm lag. »Ich weiß, was du willst, Schwester. Ich bin vorgewarnt, von Schwester Ainder.«

»Mußtest du vorgewarnt werden?« Fidelmas Entgegnung kam automatisch.

Bruder Tola lächelte dünn.

»Nur eine Redensart. In diese Worte ist nichts hineinzulesen, das versichere ich dir.«

»Oft kann man aus der Wahl der Worte, die wir gebrauchen, viel herauslesen, Bruder Tola.«

»Aber nicht in diesem Fall.« Er wies auf die Decksplanken neben ihm. »Möchtest du nicht Platz nehmen, wenn du mir Fragen stellen willst?«

Fidelma ließ sich auf dem Deck neben ihm nieder und kreuzte die Beine. Es war recht angenehm, in der Sonne zu sitzen, während eine leichte Brise ihr das Gesicht kühlte und durch das rötliche Haar fuhr.

Bruder Tola verschränkte die Arme vor der Brust und schaute hinaus auf die jetzt ruhige See.

»Ein recht schöner Tag«, seufzte er. »Unter anderen Umständen könnte diese Reise ganz anregend und lohnend sein.«

Fidelma sah ihn fragend an.

»Und warum ist sie es nicht?«

Bruder Tola lehnte sich mit dem Kopf an den Mast und schloß die Augen.

»Meine Gefährten lassen viel zu wünschen übrig auf einer Pilgerfahrt, die eigentlich religiösen Zwecken dienen sollte. Ich könnte schwören, daß nicht einer unter ihnen ein wirklich ergebener Diener Gottes ist.«

»Du meinst, nicht einer?«

Die Miene des Mönchs war streng.

»Nicht einer. Auch du nicht, Fidelma von Cashel. Würdest du behaupten, daß du zu allererst eine Dienerin Christi bist?« Seine Augen öffneten sich, und sein scharfer Blick bohrte sich unbeirrt in ihr Gesicht. Sie erschauerte leicht.

»Ich hoffe doch sehr, daß ich eine Dienerin des Glaubens bin«, entgegnete sie.

Zu ihrer Überraschung schüttelte er den Kopf.

»Das glaube ich nicht. Du bist eine Dienerin des Gesetzes, nicht der Religion.«

Fidelma erwog die Anschuldigung gründlich.

»Ist das beides unvereinbar?« fragte sie.

»Das kann es sein«, erwiderte Bruder Tola. »In vielen Fällen trifft der alte Spruch zu, daß die Religion eines Menschen das ist, woran sein Herz hängt.«

»Der Meinung bin ich nicht.«

Bruder Tola lächelte spöttisch.

»Ich denke, dein Herz hängt mehr am Gesetz als an der Religion.«

Fidelma schwieg, denn die Worte Tolas hatten sie getroffen wie ein Pfeil. War das nicht genau der Grund, aus dem sie auf diese Pilgerfahrt gegangen war? Wollte sie nicht gerade darüber ihre Gedanken ordnen? Tola bemerkte die Verwirrung in ihrem Gesicht und lächelte befriedigt, ehe er sich wieder mit geschlossenen Augen zurücklehnte.

»Sei nicht verblüfft, Fidelma von Cashel. Du bist nur eine von Tausenden in der gleichen Lage. In der Zeit, bevor der Glaube in die fünf Königreiche kam, wärst du dalaigh oder Brehon geworden, ohne das Gewand einer Nonne tragen zu müssen. Unsere Gesellschaft verwechselt Wissen mit Religion und hat die beiden so fest miteinander verbunden, als ob sie eins wären.«

»Es gibt immer noch weltliche Hochschulen«, widersprach Fidelma. »Ich besuchte die des Brehon Mo-rann in Tara. Erst nach Erlangung meines akademischen Grades bin ich ins Kloster eingetreten.«

»Morann von Tara? Das war ein guter Mann, ein guter Richter und ein guter Rechtslehrer.« Darin pflichtete ihr Bruder Tola bei. »Doch als er starb, was wurde aus seiner Hochschule?«

Fidelma wußte es nicht und gab das auch zu.

»Auf Anweisung des Comarb von Patrick wurde sie von der Kirche übernommen.« Der Comarb war der Nachfolger des heiligen Patrick und zugleich Bischof von Armagh, einer der beiden höchsten Geistlichen in den fünf Königreichen. Der andere war der Comarb von Ailbe und Bischof von Emly in Fidelmas heimatlichem Königreich. »Moranns Hochschule hätte außerhalb der Kirche verbleiben sollen. Weltliche und kirchliche Bildung gehen oft widersprüchliche Wege.«

»Das sehe ich nicht so«, entgegnete sie fest. Sie machte sich Vorwürfe, weil sie nicht gewußt hatte, daß ihre alte Hochschule geschlossen worden war.

»Ich bin Mönch«, fuhr Bruder Tola fort. »In der Kirche ist sicherlich auch Raum für Wissen, aber nicht unter Ausschluß der Religion.«

Fidelma ärgerte sich über seine versteckte Kritik an ihrer Rolle als dalaigh. »Ich habe nicht die Religion aus meinem Leben ausgeschlossen. Ich habe studiert und ...«

»Studiert?« Bruder Tola machte ein Geräusch, das Fidelma erst nach einigen Augenblicken als ein ironisches Kichern erkannte. »Wer glaubt, durch Buchstabengelehrsamkeit etwas zu erreichen, würde viel besser daran tun, einfach nur auf Gott zu hören.«

»Der Himmel und die Bäume und die Flüsse sagen mir wenig über die Welt des Menschen«, erwiderte Fidelma. »Mein Wissen erwächst aus den Erfahrungen von Männern und Frauen.«

»Ach ja, darin liegt der Unterschied zwischen dem Streben nach einem religiösen Leben und dem Streben nach Wissen.«

»Die Wahrheit ist das Ziel unseres Lebens«, ent-gegnete Fidelma. »Man findet die Wahrheit nicht ohne Wissen, und wie Brehon Morann immer sagte: >Liebe zum Wissen bringt uns der Erkenntnis näher.<«

»Welcher Erkenntnis? Menschlicher Erkenntnis, menschlichem Gesetz. Du sprichst sehr beredt, Fidelma. Aber denke an die Worte des heiligen Jakobus: >Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst vor Gott dem Vater ist der: sich von der Welt unbefleckt erhal-ten.<«

»Du hast aber einen wichtigen Teil dieses Verses ausgelassen, nämlich die Worte über das Besuchen von Waisen und Witwen in ihrer Trübsal«, ergänzte Fidelma bissig. »Ich glaube, ich helfe wirklich denen, die in Trübsal sind.«

»Aber du besudelst dich, indem du menschliches Gesetz über die Gebote Gottes stellst.«

»Ich sehe keinen Widerspruch zwischen den zehn Geboten und menschlichem Gesetz. Da du so gern den Brief des Jakobus zitierst, solltest du auch diese Verse kennen: >Wer aber durchschaut in das vollkommene Gesetz der Freiheit und darin beharrt und ist nicht ein vergeßlicher Hörer, sondern ein Täter, der wird selig sein in seiner Tat.< Ich habe gehört und nicht vergessen, und ich handle nach dem Gesetz, und deswegen bin ich zu dir gekommen, Bruder Tola, um mit dir zu reden, nicht aber, um über unsere verschiedenen theologischen Meinungen zu debattieren.«

Ihr Ton war scharf geworden. Trotzdem fühlte sie sich unsicher, denn sie wußte, daß Tola ihre Schwäche erkannt hatte: ihren Stolz darauf, daß sie eine dalaigh war und nicht einfach nur eine Nonne.

»Ich höre, Schwester Fidelma«, antwortete er. Sein Gesicht blieb ernst, doch Fidelma hatte den Verdacht, er lache im stillen über ihre Verlegenheit. Dann rezitierte er leise:

». achte nicht gering die Züchtigung des Herrn

Und verzage nicht, wenn du von ihm gestraft wirst.

Denn welchen der Herr lieb hat, den züchtigt er;

Und er stäupt einen jeglichen Sohn und eine jegliche

Tochter, die er aufnimmt.«

Fidelma unterdrückte ihren Ärger.

»Hebräer zwölf«, stellte sie mit einem dünnen Lächeln fest, um ihm zu zeigen, daß er ihr mit seiner Bibelkenntnis nicht imponieren konnte. »Aber jetzt habe ich ein paar Fragen, die ich dir im Auftrag von Kapitän Murchad stellen muß.«

»Ich weiß schon, wie ich bereits sagte. Schwester Ainder hat mir von deinen Nachforschungen berichtet.«

»Gut. Du bist älter als die meisten Mitglieder der Gruppe, Bruder. Was hat dich veranlaßt, auf diese Pilgerfahrt zu gehen?«

»Muß ich darauf antworten?«

»Ich kann dich nicht dazu zwingen.«

»So meinte ich das nicht. Ich meinte, das sei offenkundig.«

»Ich verstehe dich so, daß du diese Pilgerfahrt aus religiöser Überzeugung unternommen hast? Das ist sicherlich offenkundig. Aber warum hast du dich gerade Schwester Canairs Gruppe angeschlossen? Mit Ausnahme von Schwester Ainder sind alle ganz jung. Und deiner Ansicht nach geht es deinen Mitreisenden nicht wirklich um die Religion.«

»Schwester Canairs Gruppe war die einzige, die zum Schrein des heiligen Jakobus wollte. Wäre ich nicht mit ihnen gereist, hätte ich mindestens ein Jahr auf die nächste Gruppe warten müssen. Es gab noch Platz für mich, also schloß ich mich ihnen an.«

»Kanntest du Schwester Canair und die anderen, bevor du zu ihnen kamst?«

»Ich kannte niemanden außer denen aus meiner eigenen Abtei Bangor.«

»Nämlich die Brüder Cian, Dathal und Adamrae?«

»Genau.«

»Du hast angedeutet, daß du die Gruppe für schlecht zusammengestellt hältst.«

»Sicherlich.«

»Schließt dieses Urteil auch Schwester Muirgel ein?«

Bruder Tola riß die Augen weit auf und verzog das Gesicht wie im Krampf.

»Eine höchst abscheuliche junge Frau! Sie mochte ich am wenigsten von allen!«

Die Heftigkeit seiner Äußerung überraschte Fidelma.

»Warum das?«

»Ich weiß noch, wie sie gleich anfangs versuchte, unsere Reisegesellschaft zu beherrschen mit der Begründung, ihr Vater sei Fürst der Dal Fiatach gewesen. Mit dem Fürsten war nicht viel Staat zu machen -er war ein übler Halunke, der nur auf Macht und Selbstverherrlichung aus war. Schwester Muirgel kam nach ihrem Vater.«

»Wenn du dieser Meinung warst, hast du da nicht gezögert, dich Schwester Canairs Gruppe anzuschließen?«

»Ich erfuhr erst beim Aufbruch, daß Schwester Mu-irgel der Gruppe angehörte. Ich glaubte, ich könnte auf der Fahrt eine enge Berührung mit ihr vermeiden.«

»Kanntest du sie persönlich oder nur als Tochter eines Fürsten, den du verabscheutest?«

»Ich kannte sie aus den Geschichten, die in unserer Abtei über sie umliefen.«

»Was für Geschichten?« Fidelma war neugierig.

»Von ihrer Promiskuität, von ihren unkeuschen Beziehungen zu anderen Brüdern. Von der Art, wie sie andere Leute für ihre eigenen Zwecke ausnutzte.

Sie war das Gegenteil eines wirklich religiösen Menschen.«

»Das ist ein hartes Urteil über eine Schwester«, meinte Fidelma.

»Ein Größerer als ich wird über sie richten. >Daß ihr wartet und eilet zu der Zukunft des Tages des Herrn, an welchem die Himmel vom Feuer zergehen und die Elemente vor Hitze zerschmelzen werden! Wir warten aber eines neuen Himmels und einer neuen Erde nach Seiner Verheißung, in welchen Gerechtigkeit wohnt.<«

Fidelma war nicht beeindruckt von diesem Bibelzitat und überhörte es.

»Wie kommt es, daß solche Geschichten in deiner Abtei Bangor verbreitet wurden, während Muirgel doch Nonne in Moville war?«

»Es gab einen regen Austausch zwischen unseren Gemeinschaften. Unser Abt hatte oft Anlaß, dem Abt von Moville etwas auszurichten. Einmal mußte er ihm mitteilen, daß er solche Geschichten gehört hatte und daß sein Amtsbruder seine Gemeinschaft nicht zu einer Lasterhöhle hinabsinken lassen dürfe.«

»Wie hat der Abt von Moville darauf reagiert?«

»Überhaupt nicht.«

»Vielleicht meinte er, es sei nicht Sache des Abts von Bangor, ihm zu sagen, wie er seine Gemeinschaft zu führen habe?« lächelte Fidelma freudlos. »Jedenfalls hast du dir eine schlechte Meinung von Schwester Muirgel gebildet.«

Bruder Tola nickte und intonierte:

»Denn eine Hure ist eine tiefe Grube,

Und eine Ehebrecherin ist ein enger Brunnen.

Auch lauert sie wie ein Räuber ...«

Fidelma unterbrach ihn scharf.

»Abgesehen davon, daß Christus, wie ich mich erinnere, gesagt hat, Huren würden eher in den Himmel kommen als manche religiösen Führer, willst du jetzt behaupten, Schwester Muirgel sei eine Hure gewesen?«

Tola fuhr einfach fort in seinem Zitat aus den Sprüchen Salomos.

»Denn am Fenster meines Hauses guckte ich durchs Gitter

Und sah unter den Unverständigen und ward gewahr

Unter den Kindern eines törichten Jünglings,

Der ging auf der Gasse an einer Ecke

Und trat daher auf dem Wege bei ihrem Hause,

In der Dämmerung, am Abend des Tages,

Da es Nacht ward und dunkel war.

Und siehe, da begegnete ihm ein Weib,

Im Hurenschmuck, listig,

Wild und unbändig,

Daß ihre Füße in ihrem Hause nicht bleiben können.

Jetzt ist sie draußen, jetzt auf der Gasse,

Und lauert an allen Ecken.

Und erwischte ihn und küßte ihn unverschämt Und sprach zu ihm:

Ich habe Dankopfer für mich heute bezahlt Für meine Gelübde .«

Fidelma hob die Hand, um seinen volltönenden Vortrag zu unterbrechen. Schließlich fuhr sie heftig dazwischen.

»Die Verse aus den Sprüchen Salomos, Kapitel sieben, kenne ich auch. Was meinst du damit, wenn du diesen Abschnitt zitierst? Hast du es Schwester Muirgel verübelt, daß sie Beziehungen zu Männern hatte oder daß sie ihren Körper jedem verkaufte, der dafür zahlte? In dieser Sache müssen wir uns genau ausdrücken. Was verstehst du unter einer Hure?«

»Du bist rechtskundig, du kannst das auslegen, wie du willst. Ich sage nur, sollen ihr doch die törichten Jünglinge folgen wie die Ochsen auf dem Wege zur Schlachtbank.«

Dieselben engstirnigen Ansichten hatte sie schon mehrfach von Mönchen gehört, die für eine Reform der irischen Kirche nach den Grundsätzen der römischen Kirche eintraten. Sie wollte seine Einstellung eindeutig klären.

»Sag mir, Bruder Tola, gehörst du zu denen, die glauben, daß Mönche und Nonnen im Zölibat leben sollten? Diese Meinung habe ich oft in Rom vernommen.«

»Heißt es nicht bei Matthäus, daß Christus, unser Herr, Seinen Anhängern das Zölibat vorgeschrieben hat?«

Das war ein beliebtes Argument derer, die von allen Mönchen und Nonnen ein Gelübde der Keuschheit verlangten. Fidelma hatte es oft gehört und die Antwort parat.

»Als der Jünger Christus fragte, ob es besser sei, nicht zu heiraten, antwortete Er, daß das Zölibat nicht für alle annehmbar sei; es sei nur für die bestimmt, denen Gott es zugedacht habe. Seine Worte lauteten, einige seien von Geburt her unfähig zum Heiraten oder weil sie von Menschen dazu gemacht wurden, während andere in der Tat um des himmlischen Königreichs willen auf die Heirat verzichteten. Er überließ die Entscheidung dem einzelnen. Die es können, mögen es annehmen. Bisher haben die christlichen Kirchen an dieser freien Entscheidung festgehalten .«

Tolas Miene verriet seinen Ärger. Er ließ sich offensichtlich nicht gern mit Bibelzitaten übertreffen.

»Ich folge darin der Lehre des Paulus. Ehelosigkeit ist das Ideal des christlichen Sieges über das Böse in der Welt und muß zur Grundlage des religiösen Lebens gemacht werden.«

»Es gibt eine Fraktion in Rom, die an dieses Zölibat glaubt«, gab Fidelma zu, doch ihr Ton ließ erkennen, daß sie nicht viel davon hielt. »Aber wenn Rom das als Dogma des Glaubens anerkennt, dann heißt das, daß sich der Glaube gegen das stellt, was Gott geschaffen hat. Wenn Gott uns ehelos gewollt hätte, dann hätte er uns so gemacht. Doch ich möchte von der Theologie jetzt wieder auf den vorliegenden Fall zurückkommen. Du hast offensichtlich Schwester Muirgel nicht gemocht.«

»Ich habe nichts getan, um das zu verbergen.«

»Nun gut. Abgesehen davon, daß sie in deinen Augen zu wahllosen geschlechtlichen Beziehungen neigte, verstehe ich trotzdem nicht die Tiefe deiner Abneigung.«

»Sie verführte und verdarb junge Männer.«

»Kannst du mir ein Beispiel nennen?«

»Bruder Guss zum Beispiel.«

»Du wußtest also, daß Bruder Guss behauptet, er habe Schwester Muirgel geliebt?«

»Sie hat ihn mit ihren Ränken umgarnt, wie ich dir klarzumachen versuchte.«

»Ein hartes Urteil. Hatte Bruder Guss keinen freien Willen?«

»Ich habe den Jungen gewarnt«, fuhr Bruder Tola fort. Er verdrehte die Augen und suchte in seinem Gedächtnis nach einem weiteren Bibelzitat.

»So gehorchet mir nun, meine Kinder,

Und merket auf die Rede meines Mundes.

Laß dein Herz nicht weichen auf ihren Weg

Und laß dich nicht verführen auf ihrer Bahn.

Denn sie hat viele verwundet und gefällt,

Und sind allerlei Mächtige von ihr erwürgt.

Ihr Haus sind Wege zum Grab,

Da man hinunterfährt in des Todes Kammern.«

»Die Sprüche Salomos, Kapitel sieben, haben es dir wohl angetan«, spottete Fidelma. »Zitierst du oft daraus?«

»Ich tat mein Bestes, um den armen Bruder Guss zu warnen.« Tola ging nicht auf ihren Ton ein. »Ich preise die Hand Gottes, die die Hure über Bord fegte.«

Fidelma schwieg eine Weile. Ihr war klargeworden, daß Bruder Tola ein Mann von einer so starken religiösen Überzeugung war, daß es an äußerste Intoleranz grenzte. Sie wußte, daß Menschen schon aus religiöser Intoleranz getötet hatten.

»Wann hast du erfahren, daß Schwester Muirgel über Bord gespült wurde?« erkundigte sich Fidelma.

»Zur gleichen Zeit wie alle anderen«, antwortete er. »Heute morgen.«

»Wann hast du Schwester Muirgel zuletzt gesehen?«

»Als wir an Bord gingen. Ich glaube, sie war seekrank von dem Moment an, als wir zum Schiff hinübergerudert wurden. Nein, das stimmt nicht. Es ging ihr gut, bis wir an Bord kamen. In Abwesenheit von Schwester Canair, die auch sehr freizügig war mit ihren Liebesbeweisen, übernahm Muirgel die Führung und teilte die Kajüten zu. Wir gingen alle in unsere Kajüten, und die meisten von uns blieben unter Deck, bis wir ausliefen. Danach bekam ich sie nicht mehr zu Gesicht, und es hieß, sie sei seekrank. Vielleicht war das eine Warnung, daß die Strafe Gottes bevorstand.«

»Hast du während des Sturms geschlafen?«

»Vorige Nacht? Wie konnte man da schlafen? Das war kein angenehmes Erlebnis. Nach einer Weile habe ich aber etwas Schlaf gefunden, rein aus Erschöpfung.«

»Ich nehme an, Bruder Guss wurde auch gestört?«

»Vermutlich. Du kannst ihn ja fragen.«

»Warst du wach, als er die Kajüte verließ?«

Bruder Tola dachte über die Frage nach.

»Hat er denn die Kajüte verlassen?« stellte er die Gegenfrage.

»Das sagt er.«

»Dann muß es wohl so sein. Ach ja, ich erinnere mich, er ging hinaus. Aber nicht lange.«

»Weißt du, wohin er ging?«

»Ich nehme an, er ging auf den Abort. Wo sonst auf dem Schiff sollte man hingehen?«

Fidelma sah ihn einen Moment fest an, denn sie wußte, daß Bruder Tola gemerkt haben mußte, daß Guss vor Mitternacht Schwester Muirgel aufgesucht hatte. Wollte Tola nur Guss beschützen oder gab es einen anderen Grund, weshalb er versuchte, den jungen Mann zu decken?

Innerlich seufzte sie, denn ihr war klar, daß sie aus Bruder Tola nichts weiter herausbekommen würde. Vorsichtig stand sie auf.

»Einen Punkt möchte ich noch näher erläutert haben«, sagte sie. »Du hältst offensichtlich sehr wenig von Nonnen, die sich verlieben oder Liebesverhältnisse haben. Huren und Dirnen nennst du sie. Aber ich habe noch nicht von dir gehört, daß du auch die Mönche verurteilst, die oft diese jungen Frauen verführen. Meinst du nicht, daß du sehr einseitig urteilst?«

Bruder Tola ließ sich davon in keiner Weise beeindrucken.

»War es nicht eine Frau, die zuerst der Versuchung erlag, von der verbotenen Frucht aß und dann den Mann verführte, weshalb wir alle aus dem Garten Eden vertrieben wurden? Die Frauen sind für alle unsere Leiden verantwortlich. Denke an das, was Paulus an die Korinther schrieb: >Denn ich eifere um euch mit göttlichem Eifer; denn ich habe euch vertraut einem Manne, daß ich eine reine Jungfrau Christo zubrächte. Ich fürchte aber, daß, wie der Böse Eva verführte mit seiner Schlauheit, also auch eure Sinne abgewendet werden von der Einfalt in Christo.<«

»Ich kenne den Abschnitt«, erwiderte Fidelma. »Aber da der Böse in seiner Schlauheit Eva verführte, muß er wohl männlichen Geschlechts gewesen sein. Ich überlasse dich wieder deinen Betrachtungen, Bruder Tola. Vielen Dank, daß du dir die Zeit genommen hast, meine Fragen zu beantworten. Du hast mir sehr geholfen.«

Bruder Tolas Augen zogen sich mißtrauisch zusammen, als Fidelma bewußt den letzten Satz hinzufügte. Sie hatte den leisen Verdacht, daß Bruder Tola nichts ferner lag, als ihr bei der Aufklärung von Schwester Muirgels Verschwinden zu helfen.

Sie wandte sich gerade ab, als ein neuer Ruf vom Mastkorb sie aufblicken ließ.

Da war das rätselhafte Fahrzeug, nun deutlich zu sehen! Sie war so mit Bruder Tola beschäftigt gewesen, daß sie nicht bemerkt hatte, wie dicht es herangekommen war.

Im Sonnenlicht des Nachmittags konnte sie manche Einzelheiten des sich nähernden Schiffes ausmachen: das niedrige viereckige Segel mit einem Zeichen darauf, etwas wie ein Blitzstrahl, eine Reihe von Rudern, die sich rhythmisch hoben und senkten, und in der Sonne glitzernde Gegenstände an der ihr zugekehrten Seite des Schiffes.

Sie eilte nach hinten zu Murchad, der das Fahrzeug mit finsterem Gesicht beobachtete.

»Bitte geh mit den Pilgern unter Deck, Lady«, begrüßte er sie.

»Was ist das für ein Schiff?«

»Ein angelsächsisches, nach der Bauart zu urteilen. Siehst du den Blitzstrahl auf dem Segel?«

Fidelma nickte kurz.

»Zweifellos Heiden«, fuhr Murchad fort. »Das ist das Symbol ihres Donnergottes Thunor.«

»Haben sie feindliche Absichten?« fragte Fidelma.

»Jedenfalls keine freundlichen«, erwiderte Murchad grimmig. »Siehst du die Reihe von Schilden über den Rudern und wie die Sonne auf ihren Waffen funkelt? Ich nehme an, sie wollen uns zur Prise machen, und wen sie nicht umbringen, der wird als Sklave verkauft.«

Fidelma spürte, wie ihr Mund trocken wurde.

Sie wußte, daß einige der angelsächsischen Königreiche noch immer heidnisch waren, trotz aller Anstrengungen der Missionare aus Eireann und aus Rom. Insbesondere die südlichen Angelsachsen hielten noch an ihren alten Göttern und Göttinnen fest und trotzten selbst den Missionaren aus den angelsächsischen Königreichen des Ostens und Nordens. Sie schluckte heftig, um den trockenen Geschmack loszuwerden.

»Geh nach unten, Lady«, wiederholte Murchad. »Dort bist du sicherer, wenn sie uns entern.«

»Ich bleibe hier und schaue zu«, erwiderte sie entschlossen. Sie konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als in der Dunkelheit unter Deck zu hocken und nicht zu wissen, was vorging.

Murchad wollte protestieren, aber als er den entschiedenen Zug um ihren Mund und ihr vorgeschobenes Kinn sah, gab er es auf.

»Na gut, aber bleib aus dem Wege, und wenn das Schiff dicht herankommt, dann geh unter Deck, ohne daß ich es dir noch einmal sagen muß. Beim ersten Angriff trübt ihnen die Mordlust den Blick, dann ist es ihnen gleich, ob Mann oder Frau.«

Ohne ein weiteres Wort wandte er sich zu Gurvan um und blickte zum Segel hoch.

»Wir halten den Kurs, bis ich es sage.«

Gurvan nickte nur kurz.

Fidelma stellte sich in die hinterste Ecke des Achterdecks und beobachtete das sich entwickelnde Schauspiel.

»Deck!« kam der Ruf vom Mastkorb. »Sie schließt heran.«

Das näher kommende Schiff drehte den Bug auf sie zu. Der Bug war hochgezogen und schnitt durch das Wasser, das nach beiden Seiten wegspritzte. Die Ruder hoben und senkten sich, das von ihnen abtropfende Wasser funkelte wie Silber. Sie konnte etwas wie eine Trommel schlagen hören. Aus der Erfahrung ihrer früheren Reise nach Rom wußte sie, daß auf Galeeren oft ein Mann mit einer Trommel den Rhythmus der Ruderer angab.

»Was schätzt du, Gurvan?« Murchad spähte hinüber. »Fünfundzwanzig Ruder je Seite?«

»Scheint so.«

»Ruder. Die verschaffen den Angelsachsen einen Vorteil uns gegenüber ...« Murchad schien laut zu denken. »Andererseits könnte es auch bedeuten, daß sie sich beim Manövrieren auf kurze Entfernung nicht auf ihre Segelkunst verlassen. Vielleicht haben wir da einen Vorteil.«

Er blickte hoch zum Großsegel.

»Die Steuerbordfallen anziehen!« schrie er. »Sie sind zu locker.«

Je straffer das Segel, desto höher die Fahrt, doch der Wind konnte das Schiff auf die Seite drücken und kreuzenden Wellen aussetzen. Auch belastete es den Großmast.

»Kapitän, wenn der Wind nachläßt, sind wir ohne Ruder hilflos«, meinte Gurvan beunruhigt.

Da tauchte Wenbrit neben Fidelma auf.

»Gehst du nicht nach unten, Lady?« fragte er besorgt. »Die anderen sind alle unter Deck, und ich habe ihnen gesagt, sie sollen da bleiben. Hier wird es gefährlich.«

Fidelma schüttelte rasch den Kopf.

»Unten würde ich sterben, wenn ich nicht weiß, was passiert.«

»Hoffentlich stirbt keiner von uns«, murmelte der Junge und starrte zu dem herankommenden Schiff hinüber. »Beten wir zu Gott, daß er uns einen starken Wind schickt.«

»Backbordschoten fieren! Backbordleinen locker!« schrie Murchad.

Rasch führten die Matrosen seine Befehle aus, und das Großsegel veränderte seinen Winkel zum Schiff.

Murchad hatte den Wechsel der Windrichtung so genau berechnet, daß sich das Segel sofort füllte, und Fidelma spürte, wie das Schiff schneller durch die Wogen glitt.

Aufgeregt zeigte Wenbrit auf das angelsächsische Schiff, denn der Abstand zwischen beiden Fahrzeugen vergrößerte sich. Das Segel des anderen Schiffes hing schlaff. Murchad hatte recht behalten: Der Kapitän des anderen Schiffes hatte sich auf seine Ruderer verlassen und nicht auf Wind und Segel geachtet. Mehrere wertvolle Augenblicke lang lag der Angelsachse ohne Fahrt still.

Durch das Zischen der See und das Pfeifen des Windes in der Takelage hindurch hörte Fidelma ein Rufen schwach herübertönen.

»Was ist das?« fragte sie verwundert.

Wenbrit verzog das Gesicht.

»Sie flehen ihren Kriegsgott um Hilfe an. Hörst du das Rufen? >Woden! Woden!< Solches Geschrei aus angelsächsischen Kehlen kenne ich von früher.«

Mit stummer Frage schaute ihn Fidelma an.

»Das Land meines Volkes grenzt im Osten an das Gebiet der Westsachsen«, erklärte er. »Die fielen immer wieder in unser Land ein und riefen dabei Woden um Hilfe an. Sie glauben, das Größte, was ihnen passieren kann, ist, daß sie mit dem Schwert in der Hand und dem Namen Woden auf den Lippen sterben. Es heißt, daß dann dieser Gott sie hinaufträgt in eine große Halle der Helden und sie dort ewig leben.«

Wenbrit drehte sich um und spuckte über die Reling, um seinen Abscheu zu zeigen.

»Die Angelsachsen sind doch nicht alle gleich«, wandte Fidelma ein, als ihr Eadulf plötzlich vor Augen stand. »Die meisten von ihnen sind jetzt Christen.«

»Aber nicht die auf dem Schiff da drüben«, verbesserte sie Wenbrit spöttisch.

Das andere Schiff hatte nun in den Wind gedreht, die Ruder waren eingezogen, und das Segel füllte sich. Jetzt erkannte Fidelma deutlich die Zeichnung des Blitzstrahls auf dem Segel. Wenbrit sah, wie sie die Augen zusammenkniff.

»Sie haben einen anderen Gott namens Thunor, der einen mächtigen Hammer schwingt. Wenn er damit zuschlägt, erzeugt er den Donner, und die Funken, die dabei sprühen, sind die Blitze«, erläuterte er ihr voller Ernst. »Sie haben sogar einen Wochentag, der diesem Gott heilig ist und Thunors Tag heißt. Es ist der Tag, den wir Christen Dies Jovis nennen.«

Fidelma versagte es sich, dem Jungen zu erklären, daß dies der lateinische Name eines anderen heidnischen Gottes war, nur diesmal eines römischen. Sie hielt das für zwecklose Pedanterie. Von Thunor hatte sie schon in ihren langen Unterhaltungen mit Bruder Eadulf über den alten Glauben seines Volkes erfahren. Sie konnte sich kaum vorstellen, daß es Angelsachsen gab, die nach zwei Jahrhunderten Kontakt mit den christlichen Briten und den irischen Missionaren immer noch an die alten Götter glaubten, während die nördlichen Königreiche bereits von ihrem wilden Aberglauben an Krieg und Mordlust bekehrt waren. Sie beobachtete weiter das angelsächsische Schiff, das nun wieder aufholte.

»Jetzt nutzt er den Wind, Kapitän«, hörte sie Gurvan rufen. »Es ist ein schnelles Schiff, und ihr Kapitän weiß, wie er es mit dem Wind von achtern zu segeln hat.«

Das war noch untertrieben. Selbst Fidelma merkte, daß ihr Verfolger schneller durchs Wasser glitt als die »Ringelgans«. Schließlich war es ein Kriegsschiff und nicht wie Murchads Schiff für den friedlichen Handel gebaut.

Murchad blickte abwechselnd auf die Segel und auf das herannahende Fahrzeug. Er fluchte. So einen Fluch hatte Fidelma noch nie gehört, es war ein vollgewichtiger Seemannsfluch.

»Wenn das so weitergeht, holt sie uns bald ein. Sie ist kleiner und schneller, und außerdem hat sie die Luvposition.«

Fidelma wünschte, sie verstünde die Ausdrücke. Wenbrit kam ihr zu Hilfe.

»Die Windrichtung, Schwester«, erklärte er. »Nicht nur der Wind läßt den Angelsachsen aufholen, sondern durch den Winkel, in dem wir zum Wind liegen, werden wir auch noch auf seinen Kurs herübergedrückt und können keinen seitlichen Abstand von ihm halten.«

Ein Schauer der Furcht überlief sie.

»Dann wird uns der Angelsachse also einholen?«

Wenbrit grinste beruhigend.

»Ihr Kapitän hat bereits einen Fehler gemacht, vielleicht macht er noch einen. Es muß schon ein sehr guter Seemann sein, der besser segeln will als Murchad. Der weiß, was er seinem Namen schuldig ist.«

Fidelma erinnerte sich, daß Murchad »Seekämpfer« bedeutete.

Der Kapitän schritt jetzt hin und her und schlug mit der geballten Faust in die Fläche der anderen Hand. Seine Brauen waren gerunzelt, als suche er nach einer Lösung.

»Wende gegen den Wind!« schrie er plötzlich.

Gurvan fuhr zusammen, dann stemmten er und sein Gefährte sich gegen das Steuerruder.

Die »Ringelgans« drehte herum. Fidelma schwankte und mußte sich an der Reling festhalten. Einige Augenblicke verlor das große Schiff die Fahrt, dann schrie Murchad einen neuen Befehl zum Wenden.

Überrascht von Murchads plötzlichem Wechsel der Taktik mußte sich Fidelma erst nach dem anderen Schiff umsehen.

So fest hatte der gegnerische Kapitän darauf vertraut, seine Beute einzuholen und längsseit zu gehen, daß er mehrere kostbare Augenblicke brauchte, um zu erfassen, was Murchad vorhatte. Das leicht gebaute angelsächsische Kriegsschiff schoß unter vollen Segeln vor dem Wind fast eine Meile weiter, ehe die Segel gerefft waren und das Schiff auf den neuen Kurs der »Ringelgans« einschwenkte.

»Ein gelungenes Manöver«, sagte Fidelma zu Wenbrit, »aber gehen wir jetzt nicht gegen den Wind an? Kann uns der Angelsachse nicht trotzdem einholen?«

Wenbrit wies lächelnd auf den Himmel.

»Wir müssen zwar gegen den Wind segeln, aber der Angelsachse auch. Sieh, wie tief die Sonne am Horizont steht. Vor Einbruch der Nacht erreicht er uns nicht. Ich nehme an, Murchad will sich in der Nacht an ihm vorbeischleichen, vorausgesetzt, die Wolken bleiben und der Mond scheint nicht.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Haben wir den Wind in den Segeln, hat der leichtere und schnellere Angelsachse einen Geschwindigkeitsvorteil. Wir sind schwerer und unhandlicher. Kreuzen wir gegen den Wind, ist das anders. Die Wellen, die uns das Vorwärtskommen erschweren, behindern den Angelsachsen noch stärker. Wir können die hohen Wellen abreiten, während sie das leichtere Fahrzeug noch weiter nach Lee drücken, also haben die es schwerer, an uns heranzukommen.«

Murchad hatte die Erklärung des Jungen gehört und trat mit einem breiten Grinsen zu ihnen. Er schien mit seiner Segelkunst zufrieden und wirkte entspannter, seit das angelsächsische Schiff sich erneut herankämpfen mußte.

»Der Junge hat recht, Lady. Auch reicht unser Kiel tiefer als ihrer. Ein leichtes Schiff spürt jede Welle, während wir besser Kurs halten können, weil uns die unruhige Oberfläche weniger ausmacht. Gegen den Wind segeln wir besser als der Angelsachse.«

Murchad war wieder guter Laune.

»Der Angelsachse hat noch eine Weile zu tun, und inzwischen wird die Nacht anbrechen, und zwar, wie ich hoffe, mit schönen dicken Wolken. Dann steuern wir wieder nach Südsüdwest, und mit etwas Glück kommen wir im Schutz der Dunkelheit an ihnen vorbei.«

Fidelma blickte den stämmigen Seemann mit Bewunderung an. Wie gut Murchad sein Schiff kannte! Irgendwie erinnerte sie das an Roß und Reiter. Sie verstand auch, weshalb ihr dieser Vergleich in den Sinn kam. Murchad empfand für sein Schiff und die Elemente, die es bewegten, die See und den Wind, genau das gleiche, was ein guter Reiter für sein Pferd empfand. Er war eins mit ihm, als sei er mit ihm verwachsen.

Sie spähte zurück zu dem fernen Segelschiff.

»Dann sind wir also in Sicherheit?«

So absolut wollte sich Murchad nicht festlegen.

»Das hängt davon ab, ob ihr Kapitän besser vorausschaut als bisher. Er könnte damit rechnen, daß wir im Schutz der Dunkelheit den Kurs ändern, und dasselbe tun in der Hoffnung, uns im Morgengrauen wieder zu sichten. Ich schätze allerdings, er wird denken, wir kneifen und suchen Schutz in einem Hafen von Cornwall. Das ist die Richtung, in die wir jetzt segeln.«

»Dann ist also die Aufregung für den Augenblick vorbei?«

Murchad grinste.

»Die Aufregung ist vorbei«, bestätigte er. »Bis zum Tagesanbruch!«

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