Kapitel 7

Fidelma war aufgestanden, hatte sich gewaschen und angezogen und machte sich gerade das Haar, als an die Kajütentür geklopft wurde.

Es war Gurvan, der bretonische Steuermann.

»Ich bitte um Entschuldigung, Lady.« Mit einem stillen Seufzer registrierte Fidelma die Anrede. Zweifellos hatte es sich auf dem ganzen Schiff herumgesprochen, daß ihr Bruder der König von Muman war. Gurvan fiel ihre ärgerliche Miene nicht auf, und er fuhr fort: »Ich wollte nur sehen, ob du dich von dem Sturm erholt hast oder ob es Probleme gibt.«

»Vielen Dank, mir geht es gut«, erklärte Fidelma. Dann zögerte sie. Sie erinnerte sich dunkel, daß sie beim Abebben des Sturms gegen Morgen kurz gestört worden war. Sie hatte den Eindruck, jemand habe die Tür ihrer Kajüte geöffnet, hereingeschaut und sie wieder geschlossen. Sie war so müde gewesen, daß sie die Augen nicht auf bekam und sofort weiterschlief. »Hast du schon einmal versucht, mich zu wecken?«

»Ich nicht, Lady«, versicherte ihr der Steuermann.

»Die anderen werden bald frühstücken, falls du dich ihnen anschließen willst.« Er wollte schon gehen, wandte sich aber noch einmal um. »Ich hoffe, ich war nicht unhöflich, als ich dich während des Sturms in deine Kajüte zurückschickte.«

Also war es Gurvan gewesen, der vor ihrer Tür stand, als sie in plötzlicher Panik aufs Deck wollte.

»Überhaupt nicht. Ich wäre auch nicht aufs Deck gegangen, aber ich war beunruhigt.«

Gurvan lächelte scheu und grüßte.

»Das Frühstück wird gleich serviert, Lady«, wiederholte er.

Fidelma merkte, daß sie wohl etwas verschlafen hatte.

»Sehr gut. Ich komme gleich.«

Der Steuermann ging in seine Kajüte gegenüber und schloß die Tür hinter sich.

Als sie ihre Kajüte verließ, war sie verblüfft von dem Anblick, der sich ihr bot. Es war, als wären sie in eine Wolke geraten, denn dichter Nebel hüllte die »Ringelgans« ein. Fidelma konnte kaum die Mastspitze erkennen, geschweige denn das Heck des Schiffes. So etwas war ihr schon manchmal hoch in den Bergen begegnet, da bildete sich des öfteren plötzlich ein solcher Nebel. Dann war es besser, stehenzubleiben und zu warten, bis er sich lichtete, wenn man nicht einen sicheren Pfad nach unten kannte.

Es herrschte eine seltsame, widerhallende Stille. Leise klatschten die Wellen an alle Seiten des Schiffes. Der Nebel wirbelte und strudelte wie Rauch, löste sich aber nicht auf, und das fand Fidelma eigenartig. Sie spürte den unwiderstehlichen Drang, den Nebel wegzublasen, denn er bewegte sich leicht, wenn sie mit der Hand wedelte.

Plötzlich trat Gurvan wieder aus seiner Kajüte.

»Das ist Seenebel«, erklärte er unnötigerweise. »Er hat sich im Gefolge des Sturms gebildet. Ich glaube, er hat was mit der Wärme der See und der Kälte des Sturms zu tun. Man braucht sich nicht davor zu fürchten.«

»Ich habe keine Angst«, versicherte ihm Fidelma. »Ich habe solchen Nebel schon erlebt. Er kommt nur unerwartet nach dem Sturm letzte Nacht.«

»Die Sonne vertreibt ihn, sobald sie höher steigt und den Himmel erwärmt.«

Er wandte sich ab und sprach mit einigen Matrosen, die in dem Nebel kaum zu erkennen waren. Sie saßen mit gekreuzten Beinen auf dem Deck und nähten anscheinend an einem Stück Segelleinwand.

Fidelma schritt über das diesige Deck zum Heck des Schiffes. Nach dem Sturm der vorigen Nacht spürte sie überrascht auf ihren Wangen den leisen Luftzug, der das Großsegel leicht klatschen ließ wie Vogelschwingen in der hallenden Stille. Das Schiff lag ruhig, und das bedeutete, daß die See unter dieser Nebeldecke still und glatt war. Sie sah keine Anzeichen von Sturmschäden, alles schien in bester Ordnung.

Da sie kaum einen Schritt weit sehen konnte und zu schnell ging, prallte Fidelma gegen eine Gestalt, die in eine Kutte gehüllt war und die Kapuze über den Kopf gezogen hatte. Die Gestalt knurrte etwas, als Fidelma mit ihr zusammenstieß.

»Tut mir sehr leid, Schwester«, entschuldigte sich Fidelma, die sie für eine der Nonnen hielt. Irgendwie kam sie ihr bekannt vor.

Zu ihrer Überraschung hielt die Gestalt das Gesicht abgewendet, murmelte etwas Unverständliches und verschwand eilig im Nebel. Verblüfft über solche Unhöflichkeit starrte Fidelma ihr nach und fragte sich, wer das wohl sei, der nicht einmal einen freundlichen Gruß beantwortete.

Dann tauchte Kapitän Murchad selbst vor ihr auf. Er kam die Treppe vom Achterdeck zum Hauptdeck herunter. Als er sie erkannte, hob er die Hand zum Gruß.

»Ein merkwürdiger Morgen, Lady«, sagte er und trat zu ihr. Ihm war seine Verärgerung anzumerken. »Hast du so etwas schon mal gesehen?«

»Manchmal oben in den Bergen«, nickte sie.

»Ach so, da«, pflichtete ihr Murchad bei. »Es sollte aber bald aufklaren. Wenn die Sonne steigt, vertreibt sie den Nebel.« Er machte keine Anstalten, unter Deck zu gehen. »Wie ist es dir bei dem Sturm ergangen?« fragte er plötzlich.

»Am Ende bin ich eingeschlafen, einfach aus Erschöpfung.«

Murchad stieß einen langen Seufzer aus.

»Es war ein schlimmer Sturm. Er hat mich mindestens einen halben Tag von meinem Kurs abgetrieben. Wir wurden nach Südost gedrückt, viel weiter nach Osten, als ich wollte.« Er schien in Gedanken und alles andere als glücklich.

»Ist das ein Problem?« erkundigte sich Fidelma. »Wegen einem Tag länger auf See macht sich doch sicher niemand Sorgen.«

»Das ist es nicht ...« Er zögerte.

Fidelma war verwundert über sein Zaudern und seine Unlust, zu den anderen unter Deck zu gehen.

»Was ist denn los, Murchad?« drang sie in ihn.

»Ich fürchte . Wir haben einen Passagier verloren.«

Fidelma starrte ihn verständnislos an. »Einen Passagier verloren? Du meinst einen der Pilger? Wie denn verloren?«

»Über Bord«, antwortete er lakonisch.

Fidelma war entsetzt.

Nach einer Pause fügte Murchad hinzu: »Du hast recht daran getan, während des Sturms in deiner Kajüte zu bleiben, Lady. Passagiere haben kein Recht, an Deck zu kommen, wenn eine solche See geht. Ich muß das zur strengen Regel machen. Ich hab sonst noch nie jemanden über Bord verloren.«

»Wer war es denn?« fragte Fidelma atemlos. »Wie ist es passiert?«

Murchad hob die Schultern und ließ sie mit einer ausdrucksvollen Geste der Ahnungslosigkeit sinken.

»Wie? Das weiß ich nicht. Keiner hat was gesehen.«

»Woher weißt du dann, daß jemand über Bord gegangen ist?«

»Bruder Cian meinte das.«

Fidelma zog die Brauen zusammen.

»Was hat der denn damit zu tun?«

»Er kam kurz nach Tagesanbruch zu mir. Anscheinend ist er der Meinung, er müßte sich um alle Pilger hier an Bord kümmern - für sie alle sprechen.«

Fidelma schnaubte verächtlich.

»Ich kann dir versichern, daß er kein Recht hat, für mich zu sprechen«, sagte sie spitz.

Murchad ging nicht darauf ein. Er fuhr fort: »Nach dem Sturm machte er sich daran, überall nachzusehen, ob alle heil und gesund seien. Er ging auch zu deiner Kajüte.«

»Bei mir hat er nicht nachgeprüft.«

»Entschuldige, Lady«, widersprach Murchad. »Er sagte, er habe in deine Kajüte geschaut und festgestellt, daß du noch schliefst.«

Davon war sie also wach geworden! Das leise Geräusch, als sich die Tür schloß. Ausgerechnet Cian war in ihre Kajüte gekommen und hatte sie angesehen, als sie schlief. Sie fühlte sich verletzt.

»Sprich weiter.« In Zukunft würde sie dafür sorgen, daß Cian nicht so leicht in ihre Kajüte gelangte.

»Nun, er fand heraus, daß jemand aus der Gruppe verschwunden war. Die Kajüte war leer. Als er zu mir kam und mir seine Befürchtung mitteilte, befahl ich Gurvan, das Schiff gründlich zu durchsuchen. Er fand nichts. Jetzt habe ich ihn losgeschickt, damit er noch einmal nachsucht.«

Das erklärte also Gurvans eigenartigen Besuch in ihrer Kajüte vorhin. Als hätten ihn ihre Reden herbeigezaubert, kam er das Deck entlang.

Murchad schaute ihm erwartungsvoll entgegen. Der Erste Steuermann beantwortete die unausgesprochene Frage des Kapitäns mit einem Kopfschütteln.

»Vom Bug bis zum Heck, Skipper. Keine Spur.« Gurvan war kein Freund von überflüssigen Worten.

Mit düsterer Miene wandte sich Murchad wieder an Fidelma.

»Das war unsere letzte Chance. Ich hatte gehofft, sie hätte sich aus lauter Angst vor dem Sturm in irgendeinem Loch verkrochen.«

Das ist kein guter Anfang für die Pilgerfahrt, dachte Fidelma bedrückt. Die erste Nacht seit dem Auslaufen aus Ardmore, und ein Pilger über Bord.

»Wer war es?« fragte sie. »Wer wird vermißt?«

»Es ist Schwester Muirgel. Wir gehen lieber hinunter, denn die anderen sind beim Frühstück. Ich muß ihnen die traurige Nachricht von ihrer Gefährtin überbringen. Ich möchte auf dieser Fahrt nicht noch mehr Passagiere verlieren.«

Er überließ Gurvan die Führung des Schiffes und ging nach unten. Fidelma folgte ihm. Der Schreck saß ihr in den Gliedern.

Gestern konnte Schwester Muirgel kaum den Kopf von der Koje heben, so krank war sie. Die Vorstellung, daß die bleiche junge Frau mitten in diesem schrecklichen Sturm ihre Kajüte verlassen haben, unbemerkt an Deck gelangt und dann über Bord gespült worden sein sollte, war in höchstem Maße beunruhigend.

In der Kajüte auf dem Messedeck servierte Wenbrit den dort versammelten Pilgern eine Mahlzeit aus Brot, kaltem Fleisch und Obst. Fidelma fiel sofort auf, daß Bruder Bairne diesmal dabei war. Die Begrüßung wurde den Umständen entsprechend nur gemurmelt, als Fidelma zu ihrem Platz und Murchad ans Kopfende des Tisches gingen. Offensichtlich hatten alle schon vom Verschwinden Schwester Muirgels gehört. Cian fragte als erster den Kapitän danach. Murchad wandte sich an alle Versammelten.

»Ich fürchte, ich habe eine schlechte Nachricht für euch«, begann er. »Ich muß bestätigen, daß Schwester Muirgel nicht mehr an Bord ist. Das Schiff ist gründlich abgesucht worden. Es gibt keine andere Erklärung, als daß sie in der Nacht während des Sturms über Bord gespült wurde.«

Es trat ein düsteres Schweigen am Tisch ein. Dann kam von einer der Nonnen, wohl von der breitgesich-tigen Schwester Crella, wie Fidelma meinte, so etwas wie ein unterdrücktes Schluchzen.

»Ich habe noch nie zuvor einen Passagier verloren«, fuhr Murchad in ernstem Ton fort, »und ich möchte auch keinen mehr verlieren. Deshalb muß ich euch leider erneut anweisen, in euren Kajüten unter Deck zu bleiben, falls wir noch einmal in schlechtes Wetter geraten. Dann dürft ihr nur auf meinen ausdrücklichen Befehl an Deck. Bei ruhigem Wetter könnt ihr natürlich an Deck, aber nur, wenn einer meiner Leute dabei ist und auf euch aufpaßt.«

Der rothaarige Bruder Adamrae runzelte die Stirn.

»Wir sind erwachsene Menschen, Kapitän, und keine Kinder«, protestierte er. »Wir haben für unsere

Überfahrt bezahlt und haben nicht erwartet, daß wir eingesperrt werden, als wären wir ... Verbrecher.« Er hatte einen Moment nach dem passenden Wort gesucht.

Cian nickte zustimmend.

»Da hat Bruder Adamrae recht, Kapitän.«

»Ihr seid keine erfahrenen Seeleute«, erwiderte Murchad barsch. »Bei schlechtem Wetter kann das Deck eines Schiffes tückisch sein, wenn ihr nicht genau wißt, was ihr tut.«

Cian errötete vor Ärger.

»Nicht alle von uns haben ihr Leben hinter sicheren Klostermauern verbracht. Ich war Krieger und .«

Mit erhobener Stimme schaltete sich der düstere Bruder Tola in die Debatte ein.

»Nur weil eine blöde Frau, die aller Wahrscheinlichkeit nach so krank war, daß sie nicht wußte, was sie tat, zur Unzeit an Deck ging und über Bord fiel, müssen wir doch nicht alle darunter leiden?«

Mit einem zornigen Ausruf sprang Schwester Crella auf und beugte sich über den Tisch vor.

»Entschuldige dich für diese Worte, Bruder Tola! Muirgel war von vornehmer Herkunft, und wenn du nicht die braune wollene Kutte tragen würdest, dann hättest du auf die Knie fallen müssen, wenn sie vorbeiging. Muirgel war meine Kusine und meine Freundin. Wie kannst du es wagen, sie so zu beleidigen?« Ihre Stimme war schrill geworden.

Die hochgewachsene, imponierende Schwester Ainder erhob sich, zog anscheinend mühelos Crella vom Tisch fort und führte sie zu den Kajüten, wobei sie sie tröstete wie eine Mutter ihr Kind.

Bruder Tola saß in offensichtlicher Verlegenheit über die Reaktion da, die er ausgelöst hatte.

»Ich meinte damit nur, daß wir unsere Überfahrt bezahlt haben, wie Bruder Adamrae schon sagte. Was ist, wenn wir nicht gehorchen?«

»Dann hat der Kapitän das Recht, euch gefangenzusetzen.« Fidelma sprach leise, doch ihre Stimme schnitt durch das Gemurmel, das Tolas Worten gefolgt war, so daß Totenstille eintrat und jeder sie ansah.

Bruder Tola runzelte die Stirn in sichtlicher Mißbilligung dessen, was er als ihre Anmaßung betrachtete.

»Ach - und mit welchem Recht?« erkundigte er sich. »Und woher weißt du das?«

Fidelma schaute Murchad an, als habe sie diese Fragen überhört.

»Gehört dir dieses Schiff, Murchad?«

Der Kapitän antwortete mit einem knappen Nikken, obgleich ihn die Frage verblüffte.

»Und welches ist dein Heimathafen?«

»Ardmore.«

»Dann steht also das Schiff in jedem Fall unter den Gesetzen von Eireann.«

»Das nehme ich an«, stimmte Murchad zögernd zu. Er wußte nicht, worauf sie hinauswollte.

»Dann ist das die Antwort auf Bruder Tolas Frage«, erklärte sie, ohne ihn anzusehen.

Bruder Tola war nicht zufriedengestellt.

»Das ist es nicht.«

Erst jetzt schaute Fidelma ihn ohne Freundlichkeit an.

»Das ist es doch. In diesem Fall gelten die Muir-bretha, die Seegesetze.«

Bruder Tola machte ein erstauntes Gesicht, das er dann zu einem herablassenden Lächeln verzog.

»Und wieso verstehst du etwas von solchen Gesetzen?«

Fidelma seufzte und setzte zur Antwort an, doch Cian kam ihr zuvor.

»Weil sie eine dalaigh ist, eine Anwältin bei Gericht. Weil sie den Grad eines anruth besitzt.« Sein Ton war ätzend.

Jeder wußte, daß der Grad eines anruth der zweithöchste war, den die kirchlichen oder weltlichen Hochschulen zu vergeben hatten.

In dem kurzen Schweigen, das auf Cians Erklärung folgte, kehrte Schwester Ainder in die Kajüte zurück.

»Crella ruht sich aus«, verkündete sie, ohne etwas von der neuen Spannung zu ahnen. »Wir müssen bedenken, daß sie Schwester Muirgels enge Freundin und Verwandte war. Ihr Tod hat sie schwer getroffen. Unter diesen Umständen sind taktlose Bemerkungen nicht angebracht, Bruder Tola.«

Bruder Tola machte ein finsteres Gesicht und wandte sich an Cian.

»Was hast du von dieser Frau gesagt?«

»Fidelma von Cashel ist Anwältin bei Gericht und genießt einen Ruf, der bis zum Hof des Großkönigs in Tara gedrungen ist.« »Stimmt das?« fragte Tola ungläubig.

»Das stimmt«, schaltete sich Murchad ein. »Außerdem ist sie die Schwester des Königs von Muman.«

Tolas Wangen färbten sich rot, und er senkte den Kopf, um seine Verlegenheit durch die genaue Betrachtung des Tisches vor ihm zu verbergen.

Fidelma hätte es lieber gesehen, wenn ihr Rang nicht erwähnt worden wäre. Sie blickte unbehaglich in die Runde.

»Ich wollte nur sagen, daß nach den Muirbretha, den Seegesetzen, Murchad als Kapitän des Schiffes die gleiche Stellung einnimmt wie ein König. Er besitzt sogar noch größere Macht, denn er ist nicht nur König, sondern auch Oberrichter. Mit anderen Worten, er hat den Befehl über alle an Bord. Alle. Ich glaube, ich habe die Lage deutlich erläutert. Oder hast du noch eine Frage, Bruder Tola?«

Der hochgewachsene Mönch schaute irritiert auf.

»Keine weitere Frage«, antwortete er frostig.

Fidelma wandte sich an Murchad.

»Du kannst sicher sein, daß deine Anordnungen strikt befolgt werden und jeder weiß, daß Ungehorsam bestraft wird.«

Murchad bedankte sich mit einem unsicheren Lächeln.

»Mir geht es nur um eure Sicherheit. Dieser ... Unfall von Schwester Muirgel hätte nie passieren dürfen.«

Er wollte den Raum verlassen, doch Schwester Gorman hielt ihn zurück.

»Können wir . Dürfen wir wenigstens einen kurzen Bittgottesdienst für den Frieden der Seele Schwester Muirgels abhalten, Kapitän?«

Murchad zögerte verlegen.

»Das ist unsere Christenpflicht«, kam ihr Schwester Ainder zu Hilfe.

»Natürlich«, knurrte Murchad. »Ihr könnt ihn am Mittag abhalten, wenn der Nebel sich hoffentlich gelichtet hat.«

»Vielen Dank, Kapitän.«

Murchad ging, und Wenbrit reichte Met und Wasser herum. Das Mahl wurde schweigend eingenommen, und Fidelma war froh, als sie wieder auf Deck flüchten konnte. Der Nebel wogte immer noch dick herum und hatte sich auch am Mittag nicht gelichtet.

Es war ein schlichter Gottesdienst. Alle versammelten sich auf dem Hauptdeck, ausgenommen Gurvan und ein Matrose, die das Steuerruder bedienten, und eine unsichtbare Wache im nebelverhangenen Mastkorb, die darauf achten sollte, ob der Himmel aufklarte. Schon vor einiger Zeit hatte Murchad die Segel reffen und Treibanker ausbringen lassen, damit das Schiff nicht in Gefahr geriet. Aber Fidelma spürte, daß es trotzdem abtrieb, und Murchads besorgte Blicke wanderten nach allen Seiten, um Schwierigkeiten rechtzeitig zu erkennen.

Es war eine seltsame Gruppe, die dort stand, von strähnigem Nebel umgeben, wie Geister aus der Anderen Welt. Überraschenderweise sprach Bruder Tola das Gebet für den Frieden der Seele Schwester Muir-gels. Seine Stimme hallte, als käme sie aus einem Grabmal. Er schloß sein Gebet und zitierte dann ohne Übergang aus dem Propheten Jeremia. Fidelma kannte die Zeilen, fand aber seine Wahl merkwürdig:

»Wir müssen das Land räumen;

denn sie haben unsere Wohnungen geschleift,

So höret nun, ihr Weiber, des Herrn Wort,

Und nehmet zu Ohren seines Mundes Rede;

Lehret eure Töchter weinen,

Und eine lehre die andere klagen;

Der Tod ist zu unsern Fenstern eingefallen

Und in unsere Paläste gekommen,

Die Kinder zu würgen auf der Gasse .«

Fidelma sah den fürchterlichen Mönch etwas verwirrt an, denn sie hielt diesen harten Text für unpassend bei einem Gottesdienst für den Frieden einer Seele. Sie blickte der Reihe nach die anderen Trauernden an und erkannte selbst durch die Nebelschwaden, daß Schwester Gormans Augen glänzten und sie im Rhythmus des Vortrags nickte. Cian neben ihr wirkte absolut gelangweilt. Die anderen standen regungslos da, wie hypnotisiert von Bruder Tolas biblischer Deklamation.

»Der Menschen Leichname sollen liegen wie der Mist auf dem Felde

Und wie Garben hinter dem Schnitter .«

Plötzlich räusperte sich Bruder Bairne laut. Es war als Unterbrechung gedacht und tat seine Wirkung.

»Ich hätte auch ein Wort aus der Heiligen Schrift für die Seele der dahingegangenen Schwester«, verkündete er, als Bruder Tola verstummte. »Ich glaube, ich kannte sie ebenso gut wie alle anderen hier.« Niemand wollte ihm widersprechen.

Er begann zu rezitieren, und Fidelma merkte, daß er es mit erhobenem Blick und grimmiger Miene tat, als richte er seine Worte an jemanden. Seine Augen glitten über den Kreis der Versammelten. Fidelma konnte bei dem dichten Nebel nicht erkennen, wen er ansah. War es Schwester Crella, die mit niedergeschlagenen Augen dastand, oder war es Cian, der gelangweilt nach oben schaute? Und neben Cian stand die naive junge Schwester Gorman. Es war schwierig, der Blickrichtung zu folgen.

»Und ich will’s auch nicht wehren, wenn eure

Töchter und Bräute geschändet und zu Huren werden,

Weil ihr einen anderen Gottesdienst anrichtet mit den Prostituierten

Und opfert mit den Tempelhuren.

Denn das törichte Volk will geschlagen sein .«

Schwester Crella hob plötzlich den Kopf.

»Was haben diese Worte mit Schwester Muirgel zu tun?« fragte sie drohend. »Du hast sie überhaupt nicht gekannt! Du warst bloß eifersüchtig!« Sie wandte sich an Schwester Ainder, deren Miene Entsetzen über die Unterbrechung verriet. »Mach dieser Farce ein Ende. Sprich einen Segen, und dann Schluß.«

Die Besatzungsmitglieder, die an der Feier teilgenommen hatten, zogen sich schon verlegen zurück. Fidelma fragte sich, welche verborgenen Leidenschaften hier im Spiel waren.

Schwester Ainder errötete, sprach einen kurzen Segen, und damit ging die Gruppe auseinander. Nur Bruder Bairne stand noch mit gesenktem Kopf da wie in schweigendem Gebet.

Als Fidelma sich abwandte, traf sie Murchad. Er sah verwirrt aus.

»Eine seltsame Gruppe von Mönchen und Nonnen, Lady«, murmelte er.

Fidelma war geneigt, ihm zuzustimmen.

»Wie war das da zuletzt mit den Tempelhuren?« fuhr Murchad fort. »Stammt das wirklich aus der Heiligen Schrift?«

»Hosea«, bestätigte Fidelma. Sie machte ein trauriges Gesicht. »Ich glaube, Bruder Bairne zitierte Verse aus dem vierten Kapitel.

>Je mehr Priester es sind, je mehr sündigen sie wider mich;

Darum will ich ihre Ehre zu Schanden machen.

Sie fressen die Sündopfer meines Volks

Und sind begierig nach ihren Sünden.

Darum soll es dem Volk gleich wie dem Priester gehen.<«

Murchad starrte sie bewundernd an.

»Ich hatte öfter das Gefühl, daß ich das von einigen der Mönche und Nonnen sagen möchte, die mir begegnet sind.«

»Es scheint, Gott hat das schon früher gesagt, Kapitän«, erwiderte Fidelma ernst.

»Wie behältst du bloß solche Sachen, Lady?«

»Wie behältst du denn, wie du das Schiff führst, woher weißt du Bescheid mit Winden und Gezeiten und erkennst die Warnzeichen, die die >Ringelgans< vor Gefahren bewahren? Es ist kein Geheimnis dabei, Murchad. Jeder hat ein Gedächtnis und kann sich Dinge einprägen. Wichtiger ist, daß man auch nach dem handelt, was man weiß.«

Sie ging über den Niedergang zum Messedeck, um sich Wasser zu holen. An der Tür traf sie Wenbrit. Er war nicht zum Gottesdienst an Deck gekommen und hatte sich mit seinen Pflichten entschuldigt. Jetzt fiel ihr auf, wie blaß und bedrückt er aussah. Er schien erleichtert, als sie auftauchte.

»Lady, ich muß ...« Er brach ab und blickte auf etwas über und hinter Fidelmas Kopf.

Sie schaute ihn stirnrunzelnd an.

»Was ist, Wenbrit?«

»Ach ...« Er sah einen Moment verwirrt aus. »Ich wollte dich nur daran erinnern, daß gleich das Mittagsmahl serviert wird.«

Er schob sich an ihr vorbei zu den Kajüten hin und flüsterte ihr dabei kaum hörbar zu: »Komm zu mir in die Kajüte der toten Schwester. Sobald du kannst.«

Hinter ihr hüstelte jemand. Sie schaute auf und sah, daß Cian ihr den Niedergang hinunter gefolgt war. Er stand ein paar Stufen über ihr und beugte sich vor.

»Ich muß einmal richtig mit dir sprechen, Fidelma.« Er zeigte immer noch dieses zuversichtliche Lächeln. »Gestern sind wir zu keinem Abschluß gekommen.«

Fidelma wandte sich ab, um ihren Zorn zu verbergen. Offensichtlich hatte Wenbrit dringend mit ihr sprechen wollen, aber nicht in Gegenwart Cians.

»Ich habe zu tun«, erwiderte sie schneidend.

Cian schien nicht beeindruckt von ihrem Ton.

»Du hast doch keine Angst davor, mit mir zu reden?«

Sie starrte ihn mit offener Abneigung an. Sie konnte seiner Gegenwart nicht entfliehen. Es hatte keinen Zweck, weitere Entschuldigungen vorzubringen, früher oder später mußten sie sich aussprechen. Vielleicht lieber früher als später. Die Fahrt würde noch viele Tage dauern. Sie hoffte, Wenbrits Neuigkeit könnte warten. Sie hatte mit ihren Erinnerungen zu tun.

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