Kapitel 9

Ein kurzes Schweigen trat ein, während Fidelma die Bedeutung dieser Entdeckung erwog.

»Hast du dem Kapitän schon davon erzählt?« fragte sie schließlich.

Wenbrit schüttelte den Kopf.

»Nachdem ich gehört hatte, daß du dich im Recht auskennst, dachte ich, ich sollte lieber erst mit dir sprechen. Ich habe noch zu keinem anderen ein Wort davon gesagt.«

»Dann rede ich mit Murchad. Es wird wohl klüger sein, wenn du den anderen nichts sagst. Laß sie alle in dem Glauben, daß Schwester Muirgel über Bord gespült wurde.« Fidelma hob die Kutte auf und untersuchte sie. »Die nehme ich mit«, entschied sie.

Eine Sache gab ihr sofort ein Rätsel auf. Der zerfetzte Zustand der Kutte ließ vermuten, daß Schwester Muirgel mit einem Messer angegriffen und getötet worden war. Doch es klebte verhältnismäßig wenig Blut an der Kutte. Etwas schon, aber nicht die Menge, wie sie aus so schweren Wunden strömte, die man nach den Schnitten im Stoff vermuten mußte. Und wenn der Mörder Schwester Muirgels Leiche über Bord geworfen hatte, warum machte er sich dann die Mühe, ihr vorher die Kutte auszuziehen? Warum schob er sie unter die Koje, wo sie bestimmt entdeckt werden mußte?

Fidelma fand Murchad in seiner eigenen Kajüte. Rasch berichtete sie ihm von Wenbrits Entdeckung.

»Was schlägst du vor, was wir tun sollen, Lady?« Murchad war besorgt. »So etwas ist noch nie zuvor auf meinem Schiff passiert.«

»Wie ich vorhin schon erklärte, bist du der Kapitän und besitzt nach den Muirbretha die Rechte eines Königs und Oberrichters, während sich das Schiff auf See befindet.«

Murchad antwortete mit einem schiefen Grinsen.

»Ich? König und Oberrichter? Wohl kaum. Wenn ich auch dieses Schiff zu führen habe, wüßte ich doch nicht, wie ich es anstellen sollte, den Verantwortlichen für diese Tat zu finden.«

»Du bist aber der Vertreter von Gesetz und Ordnung auf diesem Schiff«, beharrte sie.

Murchad breitete die Arme aus.

»Was kann ich denn tun? Verlangen, daß sich der Schuldige unter den Passagieren meldet?«

»Können wir überhaupt sicher sein, daß sich der Schuldige unter den Passagieren befindet?«

Murchad zog die Brauen hoch.

»Meine Mannschaft«, brummte er empört, »fährt seit Jahren mit mir. Nein, dieses Übel kam mit den Pilgern an Bord, dafür garantiere ich. Du mußt mich beraten, Lady.«

Der Kapitän in seiner Not schien so verwirrt und unentschlossen, daß er Fidelma leid tat.

»Du könntest mich auffordern, eine Untersuchung vorzunehmen; gib mir die Vollmacht dazu.«

»Aber wenn es so ist, wie du sagst, daß jemand diese Frau umbrachte und während des Sturms über Bord warf, dann ist es doch unmöglich, die Wahrheit herauszubekommen.«

»Das wissen wir nicht, bevor wir diese Untersuchung durchführen.«

»Du könntest dein eigenes Leben dabei in Gefahr bringen, Lady. Ein Schiff ist ein enger Raum, in dem man sich schlecht verbergen kann. Und wenn der Mörder erst merkt, daß du ihm auf der Spur bist ...«

»Das kann in beide Richtungen wirken. Für den Mörder ist es auf dem Schiff genau so eng und so schwer, sich zu verstecken.«

»Ich möchte nicht, daß sich die Schwester meines Königs solcher Gefahr aussetzt.«

Fidelma beruhigte ihn.

»Ich bin schon öfter in Gefahr gewesen, Murchad. Gibst du mir also deine Vollmacht?«

Er rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Wenn du sicher bist, daß dies das richtige Vorgehen ist, dann hast du natürlich meine Vollmacht.«

»Ausgezeichnet. Ich beginne mit der Untersuchung, aber den Mordverdacht halten wir vorerst geheim. Wir sagen niemandem etwas von der Entdeckung der Kutte. Verstehst du? Ich werde nur erklären, daß ich in deinem Auftrag Nachforschungen anstelle, weil du nach den Gesetzen der Muirbretha einen Bericht an die Rechtsbehörden darüber erstatten mußt, daß ein Passagier auf See umgekommen ist.«

Der Gedanke war Murchad noch gar nicht gekommen.

»Stimmt das? Muß ich das wirklich tun?«

»Die Familie oder die Verwandten eines auf See umgekommenen Passagiers können dich der Nachlässigkeit beschuldigen und Schadenersatz verlangen, wenn sich nicht nachweisen läßt, daß es ein Unfall war. So ist die Lage nach dem Gesetz«, erläuterte sie.

Murchad war entsetzt.

»Daran hatte ich nicht gedacht.«

»Ehrlich gesagt, das ist noch das geringste deiner Probleme. Viel ernster wird es, wenn die Frau tatsächlich ermordet wurde und der Täter nicht gefunden wird. Dann könnte die Familie den vollen Sühnepreis verlangen. Hat nicht Schwester Crella behauptet, Mu-irgel stamme aus einer vornehmen Familie des Nordens? Ach, ich wünschte, ich hätte meine Gesetzbücher bei mir. Mit den Muirbretha habe ich nie viel zu tun gehabt. Ich erinnere mich an die grundlegenden Gesetze, aber ich wüßte gern genauer Bescheid. Ich werde mein Bestes tun, um auf alle Möglichkeiten vorbereitet zu sein, Murchad.«

Der Kapitän verzagte beinahe angesichts der Größe der Aufgabe.

»Mögen die Heiligen dir bei deinen Nachforschungen Erfolg verleihen«, flehte er inbrünstig.

Fidelma überlegte einen Moment und zog dann eine ironische Grimasse.

»Und welchen Erfolg? Soll ich feststellen, daß Mu-irgel ermordet wurde? Oder daß sie einfach über Bord fiel?«

Murchad schaute so verloren drein, daß Fidelma ihren Zynismus bereute.

»Sagen wir so, Erfolg bedeutet, die Wahrheit herauszubekommen«, sagte sie ernst. »Damit fange ich gleich an.«

Als sie auf das Hauptdeck hinausging, erspähte sie die schattenhafte, aber unverkennbare Gestalt Schwester Ainders, die an der Reling lehnte und in den bedrohlichen Seenebel starrte, der das Schiff immer noch umgab. Sie beschloß, bei der Schwester mit dem scharf geschnittenen Gesicht zu beginnen.

Schwester Ainder richtete sich auf, als Fidelma sie grüßte. Fidelma war keineswegs klein, doch zu der hochgewachsenen Frau mußte sie aufschauen. Schwester Ainder stand in den reiferen Jahren und war noch beeindruckend hübsch, obgleich ein Lächeln nur selten auf ihrem unbewegten, maskenartigen Gesicht erschien. Ihre tiefliegenden dunklen Augen blinzelten kaum und bohrten sich mit einem forschenden Blick in Fidelmas Augen, so daß die Jüngere von dem unbehaglichen Gefühl erfaßt wurde, dieser Blick dringe bis in die Tiefen ihrer Seele vor. Schwester Ainders ruhige, erhabene Haltung schien nicht von dieser Welt. Ihre Stimme war kräftig, wohlklingend und beherrscht.

»Ich muß mich für den peinlichen Abschluß unseres Gottesdienstes entschuldigen, Schwester Fidelma«, intonierte sie eher als sie sprach, wie eine Vorleserin beim Mahl ihrer Glaubensgenossen. Diese eigenartige Sprechweise war Fidelma bis dahin noch nicht aufgefallen. Vielleicht lag es daran, daß sie von den anderen abgelenkt worden war. »Ich verstehe die Leidenschaftlichkeit der Jüngeren nicht.«

»Du meinst die Auseinandersetzung zwischen Schwester Crella und Bruder Bairne? Ich fand Bairnes Wahl der Texte aus der Heiligen Schrift auch etwas sonderbar!«

»Es gibt Dinge, die besser ungesagt bleiben sollten«, bemerkte Schwester Ainder, als stimme sie ihr zu.

Fidelma fragte: »Weißt du, was Bairne Crella vorwirft oder was Crella Bairne vorwirft? Mir schien, da spielte sich etwas zwischen ihnen ab.«

»Was es auch war, uns geht es jedenfalls nichts an.«

»Ich würde gern deine Meinung hören, Schwester, und ich möchte vor allem mehr über Schwester Muirgel erfahren.«

»Sagt nicht ein altes Sprichwort, man solle seinen Nachbarn nicht in den Kochtopf gucken? Ich sehe keinen Anlaß für solche Fragen.« Schwester Ainder strömte Mißfallen aus.

Als ihr Fidelma ihre Absichten ausführlicher erläuterte unter dem Vorwand, den sie mit Murchad abgesprochen hatte, änderte das für Schwester Ainder sehr wenig.

»Die Sache ist völlig klar und schnell zu vergessen.

Schwester Muirgel war so dumm, während des Sturms an Deck zu gehen. Sie bezahlte ihren Fehler mit tragischen Folgen.«

Fidelma gab vor, dem zuzustimmen, und schloß: »Aber es war klug von Murchad, mich um einen offiziellen Bericht zu ersuchen, damit er nicht zur Verantwortung gezogen wird für den Unfall, falls die Familie der Verstorbenen Schadenersatz verlangt.«

Schwester Ainder schob die Erwägung mit einem leichten Schulterzucken beiseite.

»Ich kenne ihre Familie nicht, aber man kann doch dem Kapitän nicht die Schuld geben, wenn einer seiner Passagiere so dumm ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen?«

»Das stimmt«, meinte Fidelma, »doch ich muß sicher sein, daß es sich wirklich so abgespielt hat. Die Aussage von Zeugen ist wesentlich.«

Die Stimme der großen Nonne wurde kühl. »Ich bin bestimmt keine Zeugin.«

»Ich meinte nicht, daß du die Tragödie mitangesehen hättest. Aber du könntest mir Hintergrundinformationen geben. Ich nehme an, du kanntest Schwester Muirgel?«

»Natürlich.«

Fidelma unterdrückte aufsteigenden Ärger. Aus Ainder etwas herauszuholen war wie Zahnziehen.

»Wo hast du sie kennengelernt?«

»In der Abtei Moville.«

»Du kanntest sie also gut?«

»Nein.«

Fidelma beschloß, es anders zu versuchen.

»Wann hast du dich entschieden, auf diese Pilgerfahrt zu gehen?«

»Vor ein paar Wochen.«

»Bist du mit Schwester Muirgel zusammen von Moville nach Ardmore gereist?«

»Ja.«

»Kannst du mir einen Eindruck vermitteln, was für ein Mensch sie war?«

»Das könnte ich wirklich nicht sagen.«

»Aber du mußt doch unterwegs einige Zeit zusammen mit ihr verbracht haben?«

»Nein.«

»Nein?« wiederholte Fidelma gereizt.

»Nein.« Plötzlich gab Schwester Ainder nach. »Wir sind zu zwölft von Moville aufgebrochen. Eine von uns starb schon nach zwanzig Meilen. Sie war eine ältere Schwester, die eine solche Reise gar nicht erst hätte antreten dürfen. Unsere Gesellschaft war so groß, daß ich kein besonderes Interesse an Schwester Muirgel zu nehmen brauchte.«

»Ist das nicht seltsam bei einer Gruppe von Pilgern aus derselben Abtei, die zu einer Fahrt in ein fernes Land aufbricht? Ist es nicht seltsam, daß sie nicht untereinander befreundet sind oder sich wenigstens gut kennen?«

Schwester Ainder schnaufte abweisend.

»Wieso? Eine Pilgerfahrt hat nichts damit zu tun, ob man mit seinen Mitschwestern befreundet ist oder nicht. Auf der Reise zum Hafen haben wir zuweilen nicht einmal in derselben Herberge übernachtet. Außerdem sind die Abteien Moville und Bangor zwar benachbart, aber getrennte Einrichtungen.«

Fidelma wagte noch einen letzten Versuch.

»Dann will ich es anders formulieren. Gab es Feindschaft unter euch?«

»Das kann ich nicht sagen. Ich verstehe auch nicht, was diese Fragen mit dem Unfall zu tun haben, durch den Schwester Muirgel während des Sturms das Leben verlor.«

»Das ist eben meine Art, an solche Dinge heranzugehen.« Fidelma war selbst überrascht, wie Schwester Ainders hochmütige Haltung sie dazu brachte, sich zu rechtfertigen. Unter anderen Umständen hätte sie die unnachgiebige Nonne scharf zurechtgewiesen.

»Mir erscheint es als eine Zeitverschwendung«, erwiderte Schwester Ainder unbeeindruckt. »Und jetzt gehe ich in meine Kajüte zum Gebet und zur Meditation.« Sie wandte sich ab.

»Einen Moment, Schwester.« Fidelma ließ sich nicht einschüchtern.

»Was denn noch?« Die durchdringenden dunklen Augen schauten auf sie herab.

»Wann hast du Schwester Muirgel zuletzt gesehen?«

Ainder zog die Brauen zusammen. Einen Moment glaubte Fidelma, sie werde die Antwort verweigern.

»Vermutlich beim Anbordgehen. Warum?«

»Vermutlich?« Ihre Frage überging Fidelma.

»Das habe ich gesagt.«

Fidelma bemerkte, wie Zorn in ihren Blick trat, anscheinend überlegte Schwester Ainder, ob sie ihrer Antwort noch etwas hinzufügen sollte.

»Du sahst sie, als ihr an Bord gingt, und danach nicht mehr?«

»Du weißt doch selbst, daß sie dann krank in ihrer Kajüte lag.«

»Du bist nicht zu ihrer Kajüte gegangen, um nach ihr zu sehen?«

»Daran hatte ich kein Interesse.«

»Der Sturm in der Nacht hat dich nicht beunruhigt?«

»Ich denke, daß der Sturm jeden beunruhigt hat.«

»Aber du hast deine Kajüte nicht verlassen?«

»Was bezweckst du mit diesen Fragen?« erwiderte Schwester Ainder bissig.

»Ich möchte lediglich feststellen, ob jemand gesehen hat, wie Schwester Muirgel ihre Kajüte verließ und an Deck ging, wo sie, wie wir annehmen, über Bord gespült wurde.«

Schwester Ainders Gesicht blieb verschlossen.

»Ich habe meine Kajüte nicht verlassen.«

»Wann hast du erfahren, daß Schwester Muirgel vermißt wird?«

»Als Schwester Gorman mich mit der Nachricht weckte, oder genauer gesagt, als mich ihr Gespräch mit Bruder Cian weckte.«

»Schwester Gorman?«

»Wir haben eine Kajüte zusammen. Sie war anscheinend von Bruder Cian geweckt worden, der nach Schwester Muirgel suchte. Im allgemeinen schlafe ich fest. Ihre Stimmen machten mich wach. Ein dummer Lärm um nichts.«

»Ein Lärm um nichts. Doch wie sich herausstellte, war Muirgel wirklich über Bord gefallen. Die Bemerkung ist nicht gerade barmherzig.«

»Ich meinte ihren Streit«, fauchte Schwester Ainder. »Also ...«

»Ihren Streit?«

Aber Schwester Ainder ließ sich nicht weiter darüber aus. Fidelma versuchte es erneut.

»Worum ging denn der Streit?«

»Das kann ich nicht sagen.«

»Wenn du mit Schwester Gorman die Kajüte teilst, dann kennst du sie sicher gut?« Fidelma versuchte das Thema anders anzupacken.

»Kennen? Kaum. Ein albernes junges Mädchen.«

»Rein aus Interesse, wen kennst du überhaupt aus der Gruppe?« fragte Fidelma.

Wieder wurden die Augen eng und dunkel.

»Das hängt davon ab, was du meinst, wenn du >kennen< sagst?«

»Was würdest du denn darunter verstehen?« konterte Fidelma erbittert.

»Ich würde dem Wort verschiedene Bedeutungen beilegen. Und nun meine ich, daß wir genug Zeit mit diesem Thema verschwendet haben.«

Sie drehte sich um und ging. Fidelma erinnerte sich an ein Spiel aus ihrer Kinderzeit. Auf einem Faß voll Wasser schwammen Äpfel. Das Ziel war es, möglichst viele Äpfel herauszufischen, ohne die Hände zu benutzen. An das Spiel mußte sie denken, als sie aus Schwester Ainder etwas herauszubekommen versuchte, das Prinzip war dasselbe.

Fidelma fühlte sich völlig geschlagen. Noch nie hatte sich jemand so ihren Fragen entzogen oder sie so beantwortet, daß sie um keinen Deut klüger war. Sie atmete tief durch und kam sich vor wie eine junge Studentin, die von Brehon Morann in einer Debatte gänzlich an die Wand gespielt worden war. Aber wenn sie etwas von Morann gelernt hatte, dann war es die Regel, nicht gleich beim ersten Mißerfolg aufzugeben.

Sie ging wieder hinunter auf das Messedeck und machte sich auf die Suche nach anderen Pilgern. Erst dachte sie, die große Kajüte sei leer, doch dann sah sie einen gebückten Schatten in einer Ecke. Fidelma räusperte sich geräuschvoll.

Die Gestalt in Kutte und Kapuze sprang auf und fuhr mit katzenartiger Gewandtheit herum. Die Kapuze fiel zurück und gab das Gesicht frei. Es war Schwester Crella. Ihre Augen waren gerötet, als habe sie geweint.

»Es tut mir leid, daß ich dich erschreckt habe, Schwester.« Fidelma lächelte ihr beruhigend zu.

»Ich dachte . Ich hab dich nicht kommen hören.«

»So wie das Schiff quietscht und knarrt, brauchtest du schon scharfe Ohren, um Schritte zu hören«, meinte Fidelma. »Ich hätte mich bemerkbar gemacht, aber ich dachte, die Kajüte sei leer.«

»Ich hatte hier in der Ecke etwas verloren und suchte danach.«

»Kann ich dir helfen?« Fidelma blickte auf die trübe Lampe, die noch auf dem Tisch flackerte.

»Nein«, antwortete Schwester Crella rasch. Sie hatte sich wohl von ihrem Schreck erholt. »Ich dachte, ich hätte es hier verloren, aber ich muß es wohl in meiner Kajüte gelassen haben. Es ist nicht wichtig.«

Fidelma schaute nachdenklich in ihr etwas feindseliges Gesicht.

»Na gut«, sagte sie. »Hast du einen Moment Zeit für ein Gespräch?«

Crellas Augen zogen sich mißtrauisch zusammen.

»Gespräch worüber?«

»Über Schwester Muirgel.«

»Du meinst wohl den Gottesdienst? Ich werde mich nicht entschuldigen. Bruder Bairne benahm sich wie immer eifersüchtig und dumm.«

»Warum zitierte er aus dem Propheten Hosea? Mir kam es merkwürdig vor bei einer solchen Gedenkfeier.«

Crella schnaufte verärgert.

»>... denn der Hurerei-Geist verführt sie, daß sie wider ihren Gott Hurerei treiben<«, zitierte sie. »Ich kenne den Text gut. Bruder Bairne war eifersüchtig, weil die Männer Muirgel und mich anziehend fanden und wir uns auch von manchen Männern angezogen fühlten. Das ist alles. Er war dagegen.«

»Ich nehme an, daß er nicht zu den Männern gehörte, von denen ihr euch angezogen fühltet?«

Crella brachte tatsächlich ein hartes Lachen zustande.

»Ganz bestimmt nicht.«

»War Schwester Muirgel von Bairne ebensowenig angetan?«

»Natürlich. Wir beide hielten Bairne für einen Flegel. Wenn das nun alles ist .«

»Noch nicht ganz. Hauptsächlich wollte ich mit dir über den tragischen Tod von Schwester Muirgel sprechen.«

Crella setzte sich an den Tisch. Fidelma ließ sich auf der Bank gegenüber nieder. Im Licht der Lampe sah man nun deutlich, daß die junge Frau wirklich geweint hatte.

»Ich glaube, beim Frühstück hast du erwähnt, daß Schwester Muirgel deine Kusine war«, begann Fidelma vorsichtig.

»Und außerdem meine vertrauteste Gefährtin«, erklärte das Mädchen so heftig, als habe jemand das bestritten.

Fidelma legte Crella mitfühlend die Hand auf den Arm.

»Der Kapitän hat mich gebeten, Nachforschungen anzustellen. Nach dem Gesetz muß er nämlich den Behörden in seinem Heimathafen einen Bericht über den Tod Schwester Muirgels erstatten, denn sonst kann ihre Familie ihn wegen Fahrlässigkeit belangen.«

Crellas Augen weiteten sich unschuldig.

»Aber ich gehöre doch zu ihrer Familie, und ich weiß, daß Murchad an ihrem Tod keine Schuld trägt.«

»Nun, Murchad muß das nach dem Gesetz beweisen. Sonst könnte ungeachtet deiner guten Absichten einer ihrer nahen Verwandten den Sühnepreis verlangen, ihr Vater beispielsweise oder ihr Bruder. Da ich Anwältin bin, hat er mich ersucht, ein paar Fragen zu stellen und den Bericht für ihn vorzubereiten.«

Crella gab einen Laut von sich, der halb ein Schnaufen und halb ein Seufzer war.

»Ich weiß gar nichts. Ich war die ganze Nacht in meiner Koje und hab mich in meiner Todesangst vor dem Sturm nicht einmal bewegt.«

»Natürlich. Ich wollte dich auch mehr nach dem Hintergrund fragen. Du sagtest, du warst Schwester Muirgels Kusine und vertrauteste Gefährtin? Dann kannst du mir sicher etwas über ihre Familie erzählen.«

Crella schien nicht sehr bereit dazu. Sie schaute Fidelma etwas mißtrauisch an.

»Wir sind aus der Abtei Moville. Sie steht am oberen Ende des Loch Cüan. Sie wurde vor hundert Jahren von dem heiligen Finnian gegründet. Colmcille lehrte dort, und heute ist sie eine der berühmtesten geistlichen Hochschulen des Landes.«

»Das weiß ich«, erklärte Fidelma. »Ihr wart also beide Glieder der Gemeinschaft von Moville.«

»Wir waren Kusinen. Unsere Väter gehörten der fürstlichen Familie Dal Fiatach an.«

Fidelma sah sie scharf an.

»Den Dal Fiatach, zu deren Besitzungen auch Moville zählt?«

»Und die große Abtei Bangor«, fügte Crella stolz hinzu. »Das Gebiet der Dal Fiatach ist eins der größten Kleinkönigreiche von Ulaidh.«

»Ach ja. Also würde Schwester Muirgel ...«

»Einen hohen Sühnepreis kosten.« Schwester Crella hatte die Frage geahnt. »Sieben cumals.«

Fidelma war überrascht vom Wissen des Mädchens.

»Du kennst offensichtlich euren Sühnepreis.« Die Summe entsprach dem Wert von einundzwanzig Milchkühen.

»Muirgels Vater war der Fürst des Gebiets und mein Vater sein Tanist oder erwählter Nachfolger. Wir lernten diese Dinge schon, als wir aufwuchsen«, erläuterte das Mädchen.

»Warum habt ihr euch für das religiöse Leben entschieden?«

Schwester Crella zögerte einen Moment und machte dann eine ausladende Armbewegung.

»Muirgel. Sie war es, die das vorschlug. Wir hatten zu Hause Brüder und Schwestern, und Muirgel meinte, es wäre gut, wenn wir weggingen und studierten.«

»Wie alt war Muirgel?«

»So alt wie ich, zwanzig Jahre.«

»Wann seid ihr in die Abtei Moville eingetreten?«

»Als wir sechzehn waren.«

»Warum seid ihr auf diese Pilgerfahrt gegangen?«

Schwester Crella begann: »Es war ...« Dann hielt sie inne, als sei ihr etwas eingefallen.

Fidelma lächelte ermutigend.

»Es war also Muirgels Idee?« riet sie.

Schwester Crella nickte.

»Hast du dich immer nach Muirgel gerichtet?«

Crella war wieder auf der Hut.

»Wir standen uns sehr nahe. Sie war für mich eher eine Schwester als eine Kusine. Wir waren immer zusammen.«

Fidelma lehnte sich zurück und trommelte unbewußt mit den Fingern auf der Tischplatte.

»Warum hattest du auf dieser Reise nicht eine Kajüte mit Muirgel gemeinsam?«

Crella war verwirrt.

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Ich wundere mich nur. Wenn du Muirgel so nahestandest und auf die Pilgerfahrt gingst, weil sie es wollte, hätte ich erwartet, daß ihr euch eine Kajüte teilt, wenn sie zu zweit belegt werden mußten. Als ich an Bord kam, wurde ich zunächst gebeten, mit in ihre Kajüte zu ziehen.«

»Ach so, jetzt verstehe ich. Ich hatte Schwester Canair versprochen, mit ihr zusammenzuziehen, weil sie solche Angst hatte. Sie war noch nie auf See gewesen.«

»Ach ja. Aber Schwester Canair kam nicht an Bord, nicht wahr? Sie verpaßte das Auslaufen.«

Schwester Crella machte eine sorgenvolle Miene.

»Sie war die Leiterin unserer Pilgerschar. Sie kam auch aus Moville und war eine gute Freundin von uns.«

»Hast du eine Ahnung, weshalb sie euch nach Ardmore führte und dann die Abfahrt versäumte?«

»Nein. Ich war überzeugt, sei wäre an Bord, als wir ausliefen, deshalb war ich in der einen Kajüte und Muirgel in einer anderen.«

»Wie viele von euch kommen aus Moville?«

»Dathal, Adamrae, Cian und Tola kommen aus Bangor. Alle anderen sind aus Moville.«

»Ich hörte, eine Schwester sei gleich nach dem Aufbruch gestorben?«

»Die alte Schwester Siban? Sie war schon sehr betagt. Wir waren noch nicht aus dem Gebiet der Dal Fiatach heraus, als sie zusammenbrach und starb. Sie war auch aus Moville.«

»Also habt ihr die Pilgerfahrt zu zwölft angetreten?«

»Und jetzt sind noch neun übrig.«

»Was meinst du, weshalb Schwester Canair nicht mitkam? Wenn sie den ganzen Weg von Moville nach Ardmore zurückliegt hatte, warum blieb sie dann dort?«

Crella zuckte unruhig die Achseln.

»Wer weiß? Vielleicht hatte sie Angst vor dem Meer, oder sie war unserer Gesellschaft überdrüssig?«

Fidelma wußte instinktiv, daß Schwester Crella nicht an die Gründe glaubte, die sie vorbrachte. Sie beschloß, sie nicht weiter zu drängen, sondern auf Muirgels Verschwinden zurückzukommen.

»Wann hast du deine Kusine zuletzt gesehen?«

»Bald nach Ausbruch des Sturms - die Zeit weiß ich nicht genau. Der Himmel war schon ganz dunkel. Ich schaute zu ihr hinein und fragte, ob ich ihr irgend etwas bringen könnte. Oder ob ich zu ihr ziehen sollte, weil wir inzwischen wußten, daß Canair nicht auf dem Schiff war. Sie hatte sich gleich, als wir an Bord waren, in ihre Kajüte zurückgezogen.«

»Und wollte sie?«

»Wollte sie was?« Schwester Crella hatte Fidelma einen Moment nicht zugehört.

»Wollte Muirgel, daß du zu ihr ziehst?«

Nach kurzem Zögern schüttelte das Mädchen den Kopf.

»Nein, das wollte sie nicht. Sie wollte allein gelassen werden.«

»Hat dich das überrascht?« fragte Fidelma schnell.

Schwester Crella errötete und überlegte sich ihre Antwort gut.

»Wir sind junge Frauen. Manchmal ist es . etwas unbequem, ein Zimmer oder eine Kajüte zu teilen.«

Fidelma erwog diese Antwort und beschloß, ihr im Augenblick nicht weiter nachzugehen. Sie würde bald erfahren, ob Crellas offensichtlicher Verdacht berechtigt war oder nicht.

Doch wenn Muirgel während des Sturms männlichen Besuch erwartete, paßte das jedenfalls nicht zu ihrer Krankheit.

»Wie ging es Schwester Muirgel, als du sie sahst?« stellte sie die nächste Frage.

»Sie war noch krank und schwach. Ich hatte noch nie erlebt, daß die Seekrankheit sie so gepackt hatte.«

»Hatte sie vorher schon Seereisen gemacht?«

»Wir sind mehrmals nach Iona gefahren, aber dabei war Muirgel niemals seekrank.«

»Du hattest die Kajüte neben ihr, nicht wahr?« »Ja.«

»Aber du hast nicht nach ihr geschaut, als der Sturm tobte?«

»Ich hatte zuviel Angst.«

»Stell dir vor, wie es ihr ging, krank wie sie war.«

»Ich fühlte mich auch krank«, protestierte Crella. »Meinst du, ich hätte aus meiner Koje aufstehen und versuchen sollen, zu ihrer Kajüte zu gelangen? Daß ich sie hätte daran hindern können, an Deck zu gehen und über Bord zu fallen?« Ihre Stimme schwoll zu einem Jammern an.

»Das wollte ich nicht damit sagen. Ich glaube, du willst mir zu verstehen geben, daß Muirgel nicht so krank war, wie sie vorgab, und jemanden erwartete.«

Crella hob das Kinn wie zum Widerspruch, doch dann senkte sie den Kopf. Sie schwieg.

»Weißt du, wer Muirgels Freunde waren? Bist du sicher, daß es nicht Bruder Bairne war?«

»Bairne?« antwortete Crella mit einem verlegenen Lachen. »Ich sagte dir schon, daß Bairne der letzte war, für den sich Muirgel interessierte. Es gab ...« Sie zögerte.

»Ja?« lockte sie Fidelma.

»Nun, Bruder Cian ist ein Freund von dir .«

Jetzt war die Reihe zu erröten an Fidelma.

»Das ist er nicht! Ich lernte ihn vor zehn Jahren in Tara kennen und habe ihn erst wiedergesehen, als ich auf dieses Schiff kam. Was ist denn mit Cian?«

»Cian genoß in Moville einen gewissen Ruf. Es gab dort kaum eine junge Frau, die er nicht dazu überredete, in sein Bett zu kommen, von albernen jungen Dingern wie Gorman bis zu reiferen Frauen wie meine Kusine. Doch ich hatte den Eindruck, daß Muirgel ihr Verhältnis mit Cian beenden wollte, noch bevor wir die Abtei verließen. Sie schwieg sich über manche Dinge aus, was für sie ungewöhnlich war.«

Diese Enthüllung der Schwächen Cians war für Fidelma keine Überraschung.

»Hatte Muirgel vor jemand Angst?« fragte sie.

Crella schüttelte den Kopf und sah Fidelma neugierig an.

»Was haben solche Fragen mit der Nachforschung danach zu tun, weshalb Muirgel über Bord gespült wurde? Das verstehe ich nicht.«

Fidelma merkte, daß sie zu weit gegangen war und einen Verdacht bei der jungen Frau geweckt hatte. Rasch wechselte sie die Richtung ihrer Fragen.

»Ich wollte nur etwas über Hintergründe erfahren, weiter nichts. Was dich betrifft, so bliebst du in deiner Kajüte bis zum nächsten Morgen.«

»Ich wollte am nächsten Morgen zu ihr, aber kurz nach der Morgendämmerung kam Bruder Cian in unsere Kajüte und sagte, er sehe bei allen nach. Dieser arrogante . « Crella unterbrach sich. »Er betrachtet sich nun als Führer unserer Gruppe und meint, er müsse uns bewachen wie ein Schäferhund seine verirrten Schafe.«

Fidelma beugte sich leicht vor.

»Also Cian kam herein, um nachzusehen, und zwar im Morgengrauen? Was geschah weiter?«

»Er war noch nicht lange fort, da kehrte er zurück und erklärte mir, daß Muirgel nicht in ihrer Kajüte sei und er das dem Kapitän melden wolle.«

»Was hatte Muirgel für einen Charakter?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Ich möchte mir nur eine Vorstellung davon machen, was sie veranlaßt hat, ihre Kajüte zu verlassen, obwohl sie so krank war, und an Deck zu gehen.«

»Panik vermutlich«, erwiderte Crella. »Ich glaubte manchmal ernsthaft, das Schiff ginge unter, so wie es hin und her geworfen wurde. Auf unseren Fahrten nach Iona habe ich nie so eine rauhe See erlebt.«

»Wie oft habt ihr die Überfahrt durch die Meerenge nach Iona gemacht?«

»Muirgel und ich haben mehrmals Botschaften des Abts von Moville nach Iona gebracht.«

»Und dabei war sie nie seekrank? In der Meerenge gibt es doch auch Stürme? Ich habe die Überfahrt nur einmal gemacht, aber ich kann es verstehen, wenn Menschen sich davor fürchten, denn der Seegang kann beängstigend sein.«

»Ich erinnere mich nicht, daß sie je seekrank war.«

»Dennoch glaubst du, daß sie gestern nacht in Panik geriet und mitten im Sturm an Deck lief?«

»Das ist die einzige Erklärung, zu der man kommen kann. Vielleicht brauchte sie einfach frische Luft, denn in der Kajüte war es stickig und stank.«

Fidelma wartete einen Moment und sagte dann leise: »Du hast mir noch nicht verraten, was Muirgel für einen Charakter hatte.«

Crellas Antwort kam sofort und begeistert.

»Sie war entschlossen, schlagfertig, sie wußte, was sie wollte. Vielleicht folgte ich deshalb ihrer Führung. Sie hatte immer die Ideen.«

»Ich verstehe.« Fidelma stand plötzlich auf. »Du hast mir sehr geholfen, Crella. Ach, eins noch - wann hat sich Cian entschieden, sich eurer Pilgerfahrt anzuschließen?«

Crella machte eine ärgerliche Geste. »Der? Ach, der wollte mit, sobald bekannt wurde, daß Schwester Ca-nair die Gruppe zum Schrein des heiligen Jakobus führen wollte.«

»Ach! Dann war es also Canairs Idee, zum Schrein des heiligen Jakobus zu pilgern?«

»Sie sollte uns führen. Cian gehört zum Kloster Bangor, wenn er auch oft nach Moville kam. Wir kannten ihn gut. Er diente dem Abt von Bangor als Bote nach Moville. Als Canair diese Pilgerfahrt ankündigte, schloß er sich gleich unserer Gruppe an.«

Plötzlich ertönten Rufe auf dem Deck über ihnen, und Wenbrit flitzte vorbei.

»Was ist?« rief ihm Fidelma zu.

»Der Nebel lichtet sich«, schrie er, »aber ich glaube, wir kriegen Ärger.«

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