Murchad wies auf die dunkle Küstenlinie, die sich aus dem Dunst über See abhob.
»Das ist die Insel Ushant.«
»Es sieht wie eine große Insel aus«, bemerkte Fidelma neben ihm. In den letzten Stunden hatte sie über die Geschichte nachgedacht, die Guss ihr vom Tod der Schwester Canair erzählt hatte und von seiner und Muirgels Verwicklung darin. Hatte man Muirgel umgebracht, weil sie eine Zeugin war? Oder hatte Guss recht und es gab ein anderes Motiv? Und wenn das Motiv wirklich Eifersucht war, konnte Crella dann die Mörderin sein? War Guss deswegen zu Tode gekommen? Fidelma wußte, daß Crellas Wahrheit nicht mit der Wahrheit von Bruder Guss übereinstimmte, aber sie besaß keine sicheren Beweise.
Vor ungefähr einer Stunde hatten sie einen Gottesdienst für Schwester Muirgel abgehalten und ihre Leiche dem Meer übergeben. Es war der zweite Gottesdienst für sie, und er war bedrückter und zurückhaltender als der erste. Zugleich hatten sie einen Gedenkgottesdienst für den armen Bruder Guss gehalten und seine Seele der Obhut Gottes empfohlen. Es war seltsam zu wissen, daß ein Mensch unter ihnen nicht die Gesinnung teilte, die in den Gebeten ausgesprochen wurde. Nun war es später Nachmittag, die Sonne stand tief am Westhimmel, an dem sich Wolken ballten. Es wurde kühler, und am Horizont war die dunkle Küstenlinie immer deutlicher geworden. Sie mußte mehrere Meilen lang sein.
»Es ist eine große Insel«, bestätigte der Kapitän. »Und eine gefährliche. Aber ich glaube, wir haben Glück.«
Fidelma sah ihn überrascht an.
»Glück? In welcher Hinsicht?«
»Dieser Dunst . Der könnte sich leicht in einen plötzlichen Nebel verwandeln, wie oft hier um Us-hant herum, und außerdem gibt es starke Strömungen und unzählige Riffe, und bei ungünstigem Wind läuft man Gefahr, entweder auf die Riffe oder an die felsige, zerrissene Küste getrieben zu werden. Ein Sturm kann hier eine Woche oder zehn Tage ohne Unterbrechung dauern.«
Selbst in dem Dunst machte die niedrige schwarze Küstenlinie, auf die sie zuhielten, einen finsteren Eindruck. Berge waren nicht zu sehen. Fidelma schätzte den höchsten Punkt der Insel auf nicht mehr als sechzig Meter, aber das ferne Klatschen und Zischen der Wellen, die sich an den Felsen des Ufers brachen, wirkte bedrohlich. Es schien eine sehr unwirtliche Insel zu sein.
»Weißt du, wo du landen kannst?« fragte sie. »Ich sehe nur eine undurchdringliche Felsenwand.«
Murchad verzog das Gesicht.
»Wir werden bestimmt nicht versuchen, an dieser Küste zu landen. Dies ist die Nordküste. Wir müssen nach Süden segeln, um eine Spitze herum in eine weite Bucht, wo auch die größte Ansiedlung liegt. Dort gibt es eine Kirche, die vor hundert Jahren vom heiligen Paul Aurelian, einem Briten, erbaut wurde.«
Er zeigte hinüber. »Wir müssen das Vorgebirge dort umrunden - siehst du es? Von wo das Schiff auf uns zu kommt.«
Fidelma folgte seinem ausgestreckten Arm und erblickte ein fernes Schiff, das hinter dem dunklen Vorgebirge hervorkam und auf sie zu kreuzte. Eine Stimme rief etwas vom Mastkorb.
Murchad trat einen Schritt vor und schrie ärgerlich: »Das sehen wir auch schon. Das hättest du uns vor zehn Minuten sagen müssen!«
Gurvan kam vom Bug her.
»Es ist ein Rahsegler aus Montroulez.«
»Das ist der Typ des Schiffes. Das sagt uns noch nicht, wer es führt«, antwortete Murchad. »Ein Ausguck ist nutzlos, wenn er die Decksmannschaft nicht auf dem laufenden hält.«
Fidelma konnte jetzt das viereckige Segel erkennen, das dem der »Ringelgans« ähnelte.
Gurvan, der mit Drogan am Steuerruder stand, spähte nach vorn und versuchte Einzelheiten des aufkommenden Schiffes auszumachen.
»Mit dem ist was nicht in Ordnung, Kapitän«, rief er.
Murchad betrachtete das andere Schiff stirnrunzelnd.
»Das Segel ist schlecht gesetzt und zieht es zu dicht an den Wind«, murmelte er. »So kann man ein Schiff nicht führen.«
Fidelma verstand zwar nicht, was an dem anderen Schiff verkehrt war, verließ sich aber darauf, daß die geübten Augen Murchads und Gurvans die Fehler der anderen Seeleute feststellen könnten.
Dann rief Murchad plötzlich: »Dieser Trottel! Jetzt müßte er halsen, sonst treibt der auflandige Wind sein Schiff auf die Riffe.«
Fidelma zuckte zusammen.
Die beiden Schiffe näherten sich rasch, nur holte die »Ringelgans« weit nach Westen aus, um genügend Raum zum Umrunden der Riffe zu haben. Das andere Schiff wurde vom Wind in Richtung Küste gedrückt.
»Warum halst er nicht? Sieht er denn die Gefahr nicht?« rief Gurvan. Niemand antwortete.
Ein paar Matrosen standen an der Backbordreling, beobachteten das andere Schiff und machten ebenfalls kritische Bemerkungen über seine Führung.
»Schluß damit!« rief Murchad. »An die Falleinen!«
Die Matrosen eilten an die Leinen, die das Segel setzen oder reffen. Fidelma merkte sich diesen Seemannsjargon, denn sie wollte lernen, was da vor sich ging. Sie spürte, wie der Wind plötzlich umsprang. Es war merkwürdig, wie schnell sie sich daran gewöhnt hatte, auf den Wechsel der Windrichtungen zu achten, seit sie wußte, wie wichtig das war.
»Das hab ich doch geahnt!« rief Murchad und stampfte fast mit dem Fuß auf. »Was für ein verdammter Idiot von Kapitän!«
Sein Schrei ließ sie wieder zu dem anderen Schiff hinüberblicken, das sich weiter entfernt hatte. Wenn sie Murchad richtig verstand, hätte der andere Kapitän das Segel anbrassen und das Schiff wenden oder halsen müssen. So oder so, jetzt sah sie das Ergebnis.
Der Wind hatte das Segel des Schiffes so voll erfaßt, daß es vorwärtsschoß wie ein Pfeil vom Bogen, direkt auf die flachen Klippen zu. Dann legte eine andere Bö es so weit auf die Seite, daß Fidelma einen Augenblick glaubte, es würde kentern. Langsam richtete es sich auf. Wieder packte es der Wind, und dann hörte Fidelma trotz Wind und Wellen, wie das Segel mit einem schrecklichen Geräusch zerriß.
»Sprich ein Gebet für sie, Lady!« rief Gurvan. »Jetzt haben sie nicht die Spur einer Chance mehr.«
»Wie meinst du das?« keuchte Fidelma und merkte sofort, daß das ein dumme Frage war.
Einen Moment schien das fremde Schiff seltsam still zu liegen, dann fuhr der Wind in die Fetzen des Großsegels und das noch intakte Steuersegel, und das Schiff taumelte wieder vorwärts.
Ein solches Geräusch hatte Fidelma noch nie gehört. Es klang, als breche ein riesiges Tier durchs Unterholz und fetze Büsche und Bäume auseinander. Das Wasser vertausendfachte jeden Laut.
Das andere Schiff wurde vorwärtsgeschleudert, und vor Fidelmas entsetzten Blicken brach es völlig auseinander.
»Beim lebendigen Gott, auf den Riffen zertrümmert!« rief Murchad. »Der Himmel sei den armen Seelen gnädig.«
In eisiger Spannung sah sie zu, wie drüben der Großmast plötzlich barst und wie ein fallender Baum umschlug und dabei das Tauwerk und die Reste des Segels mitriß. Dann brachen die Planken auseinander. Sie konnte erkennen, wie kleine dunkle Gestalten vom Schiff in die weißschäumende See sprangen. Sie glaubte Schreie und Rufe zu hören, doch der Wind und die gegen die Felsen schlagenden Wellen hätten jeden Laut übertönt.
In wenigen Augenblicken war das fremde Schiff verschwunden, um die dunklen Zacken der Riffe trieben anscheinend nur noch ein paar Wrackteile auf den Wellen, meist zertrümmerte hölzerne Planken, dazu noch ein Faß, ein Weidenkorb und hier und da einige wenige Leichen, das Gesicht im Wasser.
Murchad stand da und schaute wie versteinert zu. Dann riß er sich zusammen wie aus tiefem Schlaf erwachend, schüttelte den Kopf klar und hustete sich das Mitgefühl aus der Stimme.
»Großsegel einholen!« befahl er.
Die Matrosen hatten die Falleinen schon in den Fäusten und zogen nun daran.
Cian und einige andere Pilger waren an Deck gekommen, als sie merkten, daß sich etwas ereignete, und wollten nun wissen, was geschehen sei.
Murchad starrte Cian einen Moment an und schrie dann: »Alle unter Deck! Sofort!«
Fidelma ging verlegen nach vorn und half, ihre Mitreisenden zum Niedergang zu schieben.
»Ein Schiff ist gerade dort drüben auf die Riffe gelaufen«, gab sie ihnen auf ihre Proteste zur Antwort. »Für die armen Seelen an Bord gibt es anscheinend kaum Hoffnung.«
»Können wir nichts tun?« fragte Schwester Ainder. »Es ist doch unsere Pflicht zu helfen?«
Fidelma blickte zurück auf Murchad, der Befehle gab, und wehrte ab.
»Der Kapitän tut alles, was er kann«, versicherte sie der hochgewachsenen Nonne. »Ihr helft ihm am meisten, wenn ihr seine Anordnungen befolgt.«
»Dreh gegen den Wind, Gurvan! Treibanker raus! Kurs beibehalten! Klar zum Aussetzen des Skiffs!«
Diesem Wirrwarr von Befehlen entnahm Fidelma, daß Murchad versuchen wollte, Überlebende zu retten.
Als sie sah, daß ihre Gefährten, wenn auch widerwillig, unter Deck gingen, wandte sie sich an Murchad mit der Frage: »Können wir irgendwie helfen?«
Murchad schüttelte den Kopf.
»Überlaß das vorläufig uns, Lady«, erwiderte er kurz.
Fidelma wollte nicht zurück in ihre Kajüte, also suchte sie sich eine Ecke, in der sie vermutlich nicht im Wege wäre und beobachten konnte, was weiter geschah.
Gurvan hatte seinen Platz am Steuerruder einem anderen abgetreten und war mit zwei weiteren Matrosen dabei, das Boot - das Skiff hatte es Murchad genannt - in der kabbeligen See auszusetzen. Fidelma erkannte mit Bewunderung, daß jeder offensichtlich wußte, wo er zu stehen und was er zu tun hatte. Die »Ringelgans« hatte nun beigedreht und die Segel gerefft, und die Treibanker hielten sie ziemlich genau in Position. Fidelma begriff jedoch, daß sich in dieser See kein Schiff lange an einer Stelle halten konnte. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Murchad wieder Segel setzen und sein Schiff in Sicherheit bringen mußte. Die Riffe schienen schon gefährlich nahe.
Das kleine Boot setzte klatschend auf dem Wasser auf, Gurvan stand im Bug und gab den Kurs an, und mit zwei Matrosen an den Rudern schoß es durch die bewegte See auf die Riffe und die treibenden Wrackteile zu.
Fidelma beobachtete es gespannt.
»Ich glaube kaum, daß von denen einer überlebt hat«, sagte eine leise Stimme an ihrer Seite.
Wenbrit stand plötzlich neben ihr. Der Junge sah ganz blaß aus und betastete mit der Hand die Narbe an seinem Hals, die ihr schon aufgefallen war, als sie an Bord kam. Solche Furcht hatte sie noch nie in seinem Gesicht gesehen.
»Passiert so etwas oft auf See?«
Der Junge blinzelte, seine Stimme klang gepreßt.
»Daß Schiffe auf Felsen auflaufen, meinst du?«
Fidelma nickte.
»Oft. Viel zu oft«, antwortete der Junge. »Nur wenige laufen durch schlechte Schiffsführung auf, wegen Leuten, die keine Ahnung von der See und keinen Respekt vor ihr haben und die nie den Fuß auf eine Planke setzen sollten, geschweige denn ein Schiff führen und Verantwortung für das Leben von Menschen tragen. Viele gehen durch Wetter verloren, das man nicht beherrschen kann, durch Stürme und Gezeiten. Ein paar Schiffe gehen auch unter, weil die Mannschaft oder der Kapitän zuviel getrunken haben.«
Fidelma vernahm erstaunt die unterdrückte Heftigkeit im Ton des Jungen.
»Wie ich sehe, hast du viel darüber nachgedacht, Wenbrit.«
Der Junge lachte mit einer unerwarteten Härte auf.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?« fragte sie.
Wenbrit entschuldigte sich sofort.
»Nichts Falsches, Lady, es ist nicht dein Fehler. Jetzt kann ich es dir auch sagen. Murchad hat mir das Leben gerettet. Er holte mich aus der See bei einem solchen Schiffsuntergang wie diesem.« Er nickte zu den treibenden Trümmern hinüber.
Sie war überrascht. Nach einer Weile forschte sie: »Wann war das, Wenbrit?«
»Vor ein paar Jahren. Ich war auf einem Schiff, das infolge schlechter Führung auf Felsen auflief. Ich weiß nicht mehr viel davon, außer daß der Kapitän betrunken war und falsche Befehle gab. Das Schiff zerschellte. Murchad fischte mich ein paar Tage später aus dem Meer. Ich war an einem Stück Gräting festgebunden, sonst wäre ich ertrunken. Eins der Taue hatte sich um meinen Hals gewickelt. Die Narbe hast du ja wohl schon bemerkt.«
Nun verstand Fidelma, weshalb der Junge Murchad so tief verehrte.
»Du warst also bereits Kajütenjunge, als du noch ganz klein warst?«
Wenbrit lächelte freudlos.
»Haben deine Eltern das erlaubt?« fragte sie sanft.
Wenbrit blickte zu ihr auf. Sie sah tiefe Angst in seinen dunklen Augen.
»Mein Vater war der Kapitän.«
Fidelma bemühte sich, ihn ihr Erschrecken nicht merken zu lassen.
»Dein Vater war Kapitän?«
»Er war betrunken. Er war oft betrunken.«
»Und deine Mutter?«
»An die kann ich mich nicht erinnern. Er hat mir erklärt, sie sei bald nach meiner Geburt gestorben.«
»Wurde sonst noch jemand von dem Schiff gerettet?«
»Nicht daß ich wüßte. Ich kann mich an nichts erinnern zwischen dem Scheitern des Schiffes und der Zeit, als ich an Bord der >Ringelgans< kam. Murchad meinte, ich müßte mehrere Tage auf See getrieben sein und sei halbtot gewesen, als er mich auffischte.«
»Hast du versucht, andere Überlebende ausfindig zu machen? Dein Vater hätte doch auch überlebt haben können.«
Wenbrit zuckte gleichgültig die Achseln.
»Murchad lief den Heimathafen des Schiffes meines Vaters in Cornwall an. Dort hatte man keine Nachricht. Die ganze Besatzung war längst aufgegeben worden.«
»Wer außer Murchad kennt deine Geschichte?«
»Die meisten Männer auf diesem Schiff, Lady. Dies ist nun meine Heimat. Gott sei Dank, daß Murchad damals hinzukam. Jetzt habe ich eine neue Familie und eine bessere als ich jemals hatte.«
Fidelma lächelte und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Gott sei wahrhaftig Dank, Wenbrit.« Dann kam ihr ein Gedanke. »Und Dank sei auch dem, der dich, als du bewußtlos warst, an der Gräting festgebunden hat, so daß du wenigstens eine Chance auf Rettung hattest.«
Ein Ruf drang herüber, als das Skiff die treibenden Wrackstücke erreichte. Gurvan stand mühsam aufrecht und suchte die See ab. Dann zeigte er auf eine Stelle und setzte sich wieder. Die Ruder peitschten das Wasser.
»Haben sie einen Überlebenden gefunden?« fragte Fidelma.
Wenbrit schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, es ist eine Leiche. Sie lassen sie wieder ins Wasser.«
»Können wir nicht die Leichen bergen?« wandte Fidelma ein. Sie meinte, man könnte eine Totenfeier für sie halten.
»Auf See, Lady, kommen immer die Lebenden vor den Toten«, erklärte ihr Wenbrit.
Dann hörten sie erneut einen Ruf und sahen, wie eine zweite Gestalt in das Skiff gezogen wurde. Spritzer in der Nähe zeigten, daß jemand darauf zu schwamm.
»Wenigstens zwei Seelen gerettet«, murmelte Wenbrit.
Eine Viertelstunde später kehrte das Skiff zurück. Im ganzen waren nur drei Menschen lebend gefunden worden, und nun hatte es Murchad eilig, sein Schiff wieder in Fahrt zu bringen, denn selbst Fidelma erkannte, wie Wind und Gezeiten die »Ringelgans« trotz gereffter Segel und Treibanker auf die Riffe zu trieben. Fidelma hatte sich gefragt, was Treibanker wohl wären. Einen normalen Anker kannte sie. Wen-brit erklärte ihr, daß das Schiff vier große Ledersäcke mitführte, die ins Wasser gelassen wurden und als Bremse wirkten, damit das Schiff nicht ohne Widerstand dahintrieb.
Die drei geretteten Seeleute wurden an Deck gehievt, und dann schrie Murchad eine Reihe von Befehlen.
»Großsegel setzen! Treibanker einholen. Klar Schiff zum Halsen. Gurvan ans Steuerruder.«
Fidelma übernahm es, sich um die drei Geretteten zu kümmern. Der größte Teil der Mannschaft war damit beschäftigt, das Schiff aus der Gefahrenzone zu bringen.
Einer saß schon aufrecht und hustete etwas. Die beiden anderen lagen bewußtlos da.
Fidelma fielen sofort mehrere Dinge auf. Die beiden Bewußtlosen trugen die übliche Seemannskleidung, es waren anscheinend einfache Matrosen. Der Mann, der aufrecht saß und wieder zu sich kam, war gut gekleidet, und obgleich seine Sachen durchnäßt waren und er keine Waffe trug, erkannte Fidelma, daß er ein Mann von Rang war.
Er war kräftig gebaut und hatte vielleicht auch deshalb den Schiffbruch relativ gut überstanden, war blond und trug einen langen Schnurrbart, der nach Art der Gallier zu beiden Seiten des Mundes herabhing. Sein Gesicht war salzverkrustet, aber angenehm geschnitten, mit hellblauen Augen. Obwohl durchweicht, verriet seine Kleidung gute Qualität. Er schien an ein Leben im Freien gewöhnt. Ihr fielen einige wertvolle Schmuckstücke an ihm auf.
»Quomodo vales?« fragte sie ihn lateinisch in der Annahme, daß er bei seinem Rang die Sprache kenne, unabhängig von seiner Nationalität.
Zu ihrer Überraschung antwortete er in ihrer eigenen Sprache und mit einem Akzent, den sie dem Königreich Laigin zurechnete.
»Ich komm schon zurecht.« Er wies auf seine reglosen Gefährten. »Für die sieht’s schlechter aus.«
Fidelma beugte sich nieder und fühlte dem ersten Mann den Puls. Er war zu spüren, schlug aber sehr schwach.
»Er hat viel Wasser geschluckt, glaube ich«, meinte der Ire.
Wenbrit kam zu ihnen.
»Ich weiß, wie man ihn wiederbeleben kann, Lady«, erbot er sich.
Fidelma trat beiseite, und der Junge rollte den Mann auf den Rücken und kniete sich über ihn.
»Wir müssen das Wasser aus ihm rauskriegen. Geh zu seinem Kopf und zieh ihm die Arme nach hinten, und wenn ich es sage, schieb sie nach vorn, wie bei einer Pumpe.«
Ein anderer Matrose tat dasselbe bei dem zweiten Mann.
Fidelma folgte den Anweisungen des Jungen und sah, daß die Bewegung die Brust des Mannes hob und senkte. Zwischen jeder Bewegung blies Wenbrit dem Mann kräftig in den Mund. Fidelma wollte gerade sagen, daß das Verfahren wohl keinen Erfolg habe, als der Mann krächzte, Wasser ausspuckte und hustete. Wenbrit rollte ihn auf die Seite, und dann erbrach sich der Matrose.
Fidelma trat zurück. Der andere Matrose hatte eine Wunde an der Stirn und war bewußtlos, schien aber normal zu atmen. Zwei Seeleute trugen ihn zu den Mannschaftskajüten. Fidelma sah, daß der Mann aus Laigin schon auf den Beinen war und den Schiffbruch wohl gut überstanden hatte. Er schaute trübselig um sich.
Wenbrit half dem wiederbelebten Matrosen beim Aufstehen. Der Mann murmelte etwas, und Wenbrit antwortete ihm in derselben Sprache.
»Das ist also kein Ire?« fragte Fidelma den Iren.
»Es war ein bretonisches Handelsschiff, Schwester, mit einer bretonischen Mannschaft. Ich hatte darauf die Überfahrt bis zur Mündung der Sleine bezahlt.«
Fidelma sah ihn nachdenklich an.
»Du bist offensichtlich aus Laigin.«
»Ja. Ist dies ein irisches Schiff?«
»Aus Ardmore«, bestätigte Fidelma, »aber mit einer gemischten Besatzung. Murchad ist der Kapitän.«
»Aus dem Königreich Muman?« Er sah sich um und lächelte. »Sicherlich ein Pilgerschiff. Wohin wollt ihr?«
»Zum Schrein des heiligen Jakobus in Iberia.«
Er ließ einen leisen Fluch los.
»Das hilft mir nicht viel. Wer ist der Kapitän, sagtest du? Ich muß sofort mit ihm sprechen.«
Fidelma blickte zum Achterdeck, wo Murchad sehr beschäftigt war.
»Ich würde dir raten, damit etwas zu warten, wenn du nicht wieder Bekanntschaft mit der See und ihren Klippen machen willst«, meinte sie lächelnd. »Außerdem werden wir in Kürze Ushant anlaufen, um frisches Wasser zu übernehmen.«
Der Mann zog die Mundwinkel herab.
»Von Ushant komme ich gerade.«
Wenbrit hatte geholfen, die Überlebenden fortzuschaffen, und säuberte nun das Deck.
»Werden die Seeleute durchkommen?« fragte ihn Fidelma.
Der Junge grinste.
»Die beiden haben Glück gehabt, schätze ich. Ich hole gleich mal einen Schnaps, damit dem Herrn hier wieder warm wird.«
»Eine gute Idee, mein Junge«, lobte ihn der Gerettete.
»Wie heißt du?« fragte ihn Fidelma höflich.
»Das sage ich dem Kapitän«, antwortete er wegwerfend.
Fidelma fuhr herum und wollte ihn für seine schlechten Manieren tadeln. Dabei glitt das Kreuz an der goldenen Kette in den Ausschnitt ihrer Kutte. Dieser alte dynastische Orden der Eoghanacht war ihr von ihrem Bruder, König Colgü von Cashel, verliehen worden. Das goldene Kreuz funkelte in der Sonne. Später war sich Fidelma nicht mehr sicher, ob sie nicht im Unterbewußtsein die Bewegung absichtlich gemacht hatte. Jedenfalls übte sie eine starke Wirkung auf den Mann aus.
Seine Augen weiteten sich, und er starrte sie an. Es war das Abzeichen der Niadh Nasc, des Ordens der Goldenen Halskette, einer ehrwürdigen Adelsbruderschaft von Muman, die aus der alten Kriegergarde der Könige von Cashel hervorgegangen war. Die Mitgliedschaft wurde vom Eoghanacht-König von Cashel persönlich verliehen, und jeder Ausgezeichnete schwor ihm persönliche Treue. Zum Zeichen dessen trug er ein Kreuz, das aus einem alten Sonnensymbol abgeleitet war, denn es hieß, der Ursprung des Ordens läge in dunkler Vorzeit. Einige Geschichtsschreiber behaupteten, er sei fast tausend Jahre vor Christi Geburt gegründet worden.
Der Mann aus Laigin wußte, daß keine gewöhnliche Nonne ein solches Zeichen trug. Er erinnerte sich anscheinend auch, daß der Junge sie mit »Lady« angeredet hatte. Nun räusperte er sich verlegen und verneigte sich.
»Ich vergesse meine Manieren, Lady. Ich bin Toca Nia vom Clan Baoiscne. Ich befehligte früher einmal die Leibwache Faelans, des verstorbenen Königs von Laigin. Mit wem spreche ich?«
»Ich bin Fidelma von Cashel.«
Sein Erstaunen war offenkundig.
»Die Schwester Colgüs von Cashel? Die dalaigh, die in dem Streit zwischen Muman und Laigin auftrat und ...«
»Colgü ist mein Bruder«, unterbrach sie ihn.
»Ich kenne deinen Ruf, Lady.«
»Ich bin nur eine Anwältin und Nonne auf der Pilgerfahrt nach Iberia.«
»»Nur?« Toca Nia lachte entwaffnend. »Jetzt ist mir klar, daß ich dich schon einmal gesehen habe, aber ich habe dich erst wiedererkannt, als du deinen Namen nanntest.«
Jetzt war die Reihe an Fidelma, überrascht zu sein.
»Ich erinnere mich nicht, daß wir uns schon begegnet sind.«
»Das kannst du auch nicht, denn wir haben uns nicht wirklich kennengelernt«, erklärte er. »Ich sah dich nur in der überfüllten Halle einer Abtei. Es war in der Abtei von Ros Ailithir, vor mehr als einem Jahr. Nach dem Tode meines Königs Faelan blieb ich noch eine Weile im Dienst des jungen Königs von Laigin, Fianamail. Ich begleitete ihn, den Abt Noe von Fearna und den Brehon Fornassach zur Abtei, wo du die Verschwörung aufdecktest, mit der Laigin und Muman zum Krieg gegeneinander getrieben werden sollten.«
Das schien Fidelma schon ein ganzes Leben zurückzuliegen. War das tatsächlich erst vor einem Jahr gewesen?
»Ein eigenartiger Ort, an dem wir uns wiedertreffen«, bemerkte sie höflich. »Wie geht es Fianamail, dem König von Laigin? Ein feuriger und ungestümer junger Mann, wie ich mich erinnere.«
Toca Nia lächelte und nickte.
»Nach Ros Ailithir verließ ich seinen Dienst. Ich glaube, ich hatte genug vom Krieg und vom Kriegerleben. Ich hatte gehört, daß der Fürst von Montroulez einen Ausbilder für seine Pferde suchte. Auf dem Gebiet hatte ich guten Erfolg. Ich verbrachte ein Jahr an seinem Hof und war auf dem Rückweg nach Laigin, als ...«
Mit einer beredten Handbewegung wies er auf das Meer. Diese Geste holte Fidelma in die Gegenwart zurück. Sie wandte sich um und sah zu ihrer Überraschung, daß die Reihe der gezackten Felsen schon weit in die Ferne gerückt war.
Wieder einmal hatte Murchad sein Können bewiesen und sein Schiff aus der Gefahr herausmanövriert.
Gerade kam Murchad vom Achterdeck her mit raschen Schritten auf sie zu.
Toca Nia begrüßte ihn.
»Hast du Verletzungen erlitten?« erkundigte sich Murchad und musterte den kräftig gebauten Krieger mit durchdringendem Blick.
»Keine, dank des rechtzeitigen Eingreifens von dir und deiner Mannschaft, Kapitän.«
»Und deine Gefährten?«
Wenbrit trat vor und antwortete für ihn.
»Zwei Matrosen von der Mannschaft. Einer hat kaum etwas abbekommen, der andere wird ein paar Tage brauchen, bis er wiederhergestellt ist. Sein Kopf ist auf einen Felsen aufgeschlagen.«
»Auf welchem Schiff wart ihr?« fragte Murchad den Überlebenden.
»Das Schiff hieß >Morvaout< - wir würden es wohl >Kormoran< nennen, glaube ich.«
Murchad sah ihn scharf an.
»War es ein Pilgerschiff?«
Toca Nia lächelte. »Ein Handelsschiff mit einer Ladung Wein und Olivenöl nach Laigin, und mit mir.«
Fidelma schaltete sich ein.
»Dies ist Toca Nia, der frühere Kommandeur der Leibgarde des Königs von Laigin und zuletzt der Ausbilder der Pferde des Fürsten von . welches Fürsten?«
»Montroulez ist ein kleines Fürstentum auf dem Festland, an der Nordküste von Klein-Britannien.«
»Was hat sich euer Kapitän dabei gedacht, als er sein Schiff in so gefährliches Wasser steuerte?« war Murchads nächste Frage.
Der frühere Krieger zuckte die Achseln.
»Der Kapitän starb vor zwei Tagen. Deshalb lief das Schiff auf Südkurs nach Ushant, statt direkt nördlich nach Laigin zu steuern. Der Steuermann hatte das Kommando übernommen, aber ich fürchte, er war wohl kein fähiger Seemann und wurde auch mit einigen aus der Mannschaft nicht fertig. Sie gehorchten seinen Befehlen nicht. Er war zu sehr dem Apfelwein zugetan.«
»Heißt das, daß die Mannschaft meuterte?« fragte Fidelma.
»So etwas Ähnliches, Lady.«
»Waren die Überlebenden auch daran beteiligt?« wollte Murchad wissen. »Ich will keine Meuterer auf meinem Schiff haben.«
»Das könnte ich nicht sagen. Nach dem Tod des Kapitäns ging viel durcheinander.«
»Woran starb er? Wurde er bei der Meuterei umgebracht?«
»Er fiel einfach am Steuer tot um. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Ich habe manchmal solche unerklärlichen Todesfälle erlebt, vor und sogar nach der Schlacht. Tod nicht durch Wunden, sondern weil das Herz stillstand.«
»Und der Kapitän war der einzige tüchtige Seemann an Bord?« wollte Murchad wissen. »Das ist aber seltsam.«
»Seltsam oder nicht, das Ergebnis hast du gesehen. Zum Glück warst du da, sonst wäre ich nicht mehr am Leben. Kapitän, ich brauche eine Überfahrt nach Laigin.«
Murchad schüttelte den Kopf.
»Wir sind auf einer Pilgerreise zum Schrein des heiligen Jakobus. Ardmore werden wir wohl frühestens in drei Wochen wiedersehen. Aber wir laufen Ushant an. Dort wirst du bald ein Schiff finden, das dich nach Hause bringt.«
Der frühere Krieger lächelte trübe.
»Ich werde wohl ein paar von diesen Klunkern verkaufen müssen.« Er wies auf die Ringe an seiner Hand. »Der Verdienst eines Jahres liegt irgendwo dort auf dem Meeresgrund.« Mit dem Daumen zeigte er zurück auf die Klippen. »Ich besitze nur noch, was ihr an mir seht. Na ja, vielleicht kann ich einen Schiffer überreden, mich als Matrosen anzuheuern.«
Murchad betrachtete ihn zweifelnd.
»Hast du seemännische Erfahrung?«
Der Mann lachte schallend.
»Bei allen Schlachtengöttern, überhaupt keine. Ich bin ein guter Krieger. Ich kenne mich in Strategie und Waffenkunde aus. Ich liebe Pferde und kann sie ausbilden. Ich spreche drei Sprachen. Ich kann lesen und schreiben und sogar etwas in Ogham ritzen. Aber in der Seefahrt habe ich überhaupt keine Erfahrung.«
Murchad verzog den Mund.
»Na, dann wirst du dir wohl in Ushant eine Überfahrt suchen müssen. Ihr entschuldigt mich?« Er ging zurück zu seinen Pflichten.
Wenbrit kam mit einem Becher voll Schnaps und reichte ihn dem Krieger.
»Du solltest deine nasse Kleidung ablegen«, riet er ihm. »Ich glaube, ich finde ein paar passende Sachen für dich.«
»Das ist gut, meine Junge . « Er brach mitten im Satz ab.
Sein Gesicht war erstarrt, den Becher hatte er halb erhoben, den Mund wie zum Trinken geöffnet, die Augen weit aufgerissen. Ein ungläubiger Ausdruck huschte über sein Gesicht, an einer Wange begann ein Muskel zu zucken.
Fidelma drehte sich um und suchte den Grund dieser plötzlichen Veränderung.
Cian war an Deck gekommen, um zu sehen, was sich ereignet hatte, seit Murchad die Pilger unter Deck geschickt hatte. Er sah Fidelma und kam auf sie zu.
Aus der Kehle Toca Nias brach ein tierartiger Laut hervor. Der Becher entfiel seiner Hand, der Inhalt ergoß sich auf das Deck.
Bevor Fidelma begriff, was vor sich ging, stürzte sich der Mann auf den verblüfften Cian.
»Schurke! Mörder!«
Die beiden Worte fielen wie Peitschenhiebe.
Im selben Moment hatte er Bruder Cian erreicht, und seine Faust fuhr dem Verdutzten ins Gesicht. Einen Augenblick stand Cian mit blutiger, eingeschlagener Nase da, die Augen starr vor Verwunderung, dann fiel er rücklings um, so langsam, als wolle er den Gesetzen der Schwerkraft trotzen.