Kapitel 5

Fidelma erwachte plötzlich und fragte sich, was sie gestört hatte. Es war das helle, klagende Läuten einer Glocke. Einen Moment überlegte sie, wo sie sich befand. Bei der Bewegung des Schiffes unter ihr fiel es ihr ein. Sie war eingeschlafen, während sie über Cian nachdachte. Kein Wunder, daß sie meinte, einen abscheulichen Alptraum zu haben! Ihre Gedanken waren zu den unglücklichen Erlebnissen in ihrer Beziehung zu ihm zurückgekehrt. Diese Erlebnisse hatten sich in ihr Gedächtnis eingegraben, auch wenn sie schon zehn Jahre zurücklagen.

Die Glocke fuhr beharrlich zu läuten fort, es mußte wohl Wenbrits Ruf zum Mittagessen sein. Eilig erhob sich Fidelma von ihrem Lager. Der Kater war verschwunden. Hastig fuhr sie sich mit dem Kamm durchs Haar und zog ihre Kleidung zurecht.

Sie verließ die Kajüte und ging über das Hauptdeck. Die Bewegung des Schiffes war nicht unangenehm, die See schien ziemlich ruhig. Sie blickte nach oben. Die Sonne stand im Zenit und warf nur kurze Schatten. Der Wind hatte sich anscheinend gelegt. Das Segel hing schlaff und füllte sich nur ab und zu, wenn eine schwache Brise es erfaßte. Trotzdem machte das Schiff noch Fahrt, wenn auch langsam. Ein paar Matrosen saßen mit gekreuzten Beinen auf dem Deck und nickten Fidelma freundlich zu, als sie vorbeiging, und einer begrüßte sie in ihrer eigenen Sprache.

Sie kletterte den Niedergang am Heck des Schiffes hinunter und erinnerte sich an Wenbrits Beschreibung des Messedecks, wie er es nannte. Sie ging auf das trübe Licht und den Geruch des engen Raumes zu.

Ein halbes Dutzend Leute saßen an einem langen Tisch in der breiten Kajüte, die sich von einer Seite des Schiffes zur anderen erstreckte. Der Tisch befand sich hinter dem Großmast, den sie wie einen Baum durch die Decks aufragen sah. Murchad stand breitbeinig am Kopfende. Hinter ihm beugte sich Wenbrit über einen Nebentisch und schnitt Brot.

Murchad lächelte, als sie eintrat, und winkte sie zu einem Platz an seiner Rechten. Zwei lange Bänke auf beiden Seiten des Kiefernholztisches dienten als Sitzgelegenheit. Die Anwesenden sahen der Hinzukommenden neugierig entgegen.

Fidelma ging zu ihrem Platz und bemerkte, daß sie Cian gegenübersaß. Hastig erwiderte sie die forschenden Blicke ihrer Reisegefährten mit einem Lächeln zur Begrüßung. Cian erhob sich, um sie vorzustellen, wobei er sie besitzergreifend anschaute.

»Da du niemanden hier kennst, Fidelma«, setzte er an, doch damit verstieß er gegen das Protokoll, denn die Vorstellung war Murchads Sache.

»Also bitte, Bruder Cian«, unterbrach ihn der Kapitän ärgerlich. »Schwester Fidelma von Cashel, erlaube mir, dir deine Mitreisenden vorzustellen. Dies sind die Schwestern Ainder, Crella und Gorman.« Er wies rasch nacheinander auf drei Nonnen, die ihr gegenüber neben Cian saßen. »Dies ist Bruder Cian, und neben dir sitzen die Brüder Adamrae, Dathal und Tola.«

Fidelma verneigte sich und begrüßte alle mit dieser Geste. Ihre Namen und Gesichter würden ihr erst nach und nach etwas bedeuten. Im Augenblick war die Vorstellung nur eine Formsache. Cian hatte sich mit verärgerter Miene wieder gesetzt.

Die Nonne direkt neben Cian, die außerordentlich jung aussah für solch eine Pilgerreise, lächelte sie honigsüß an.

»Wie es scheint, kennst du Bruder Cian bereits?«

Es war Cian, der ihr eilig Antwort gab.

»Ich habe Fidelma vor vielen Jahren in Tara kennengelernt.«

Fidelma spürte die neugierigen Blicke, die sich auf sie richteten, und wandte sich an Murchad, um ihre Verlegenheit zu verbergen.

»Wie ich sehe, zählt die Pilgergruppe nur acht Personen. Ich dachte, es wären mehr?« Dann fiel ihr ein: »Ach ja, da ist ja noch Schwester Muirgel, nicht wahr? Kann sie ihre Kajüte noch nicht verlassen?«

Murchad lächelte nur grimmig, doch eine ältliche Nonne mit scharfen Zügen am Ende des Tisches antwortete auf ihre Frage.

»Ich fürchte, Schwester Muirgel wie auch die Brüder Guss und Bairne sind noch angegriffen von den Strapazen der Reise und können im Moment nicht hier erscheinen. Kennst du auch Schwester Muirgel?«

Fidelma schüttelte den Kopf. »Ich bin ihr begegnet, als ich an Bord kam, aber unter unglücklichen Umständen. Ich merkte, daß es ihr nicht gut ging«, fügte sie zur Erklärung hinzu.

Ein blasser älterer Mönch mit schmutzigem grauem Haar schnaubte hörbar mißbilligend.

»Sag schon, daß sie seekrank sind, und damit gut, Schwester Ainder. Leute sollten nicht auf Seereisen gehen, wenn sie es nicht vertragen.«

Die dritte Nonne, deren Namen Fidelma sich als Schwester Crella gemerkt hatte, eine kleine junge Frau mit einem breiten Gesicht, das ihre sonst hübsche Erscheinung beeinträchtigte, nahm das übel. Sie schien nervös veranlagt, denn sie schaute sich beständig um, als erwarte sie jemanden. Sie schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge und schüttelte den Kopf.

»Ein wenig Nachsicht, bitte, Bruder Tola. Es ist etwas Schreckliches, diese Krankheit auf See.«

»Die Seeleute kennen ein Mittel dagegen«, warf Murchad mit grimmigem Humor ein, »aber ich würde es nicht jedem empfehlen. Am besten vermeidet man die Seekrankheit, wenn man sich an Deck aufhält und den Blick fest auf den Horizont richtet. Dabei muß man viel frische Seeluft einatmen. Das Schlimmste, was man tun kann, ist, daß man unter Deck in der engen Kajüte bleibt. Sagt das nur euren Mitreisenden weiter.«

Fidelma stellte befriedigt fest, daß ihr Rezept richtig war.

»Kapitän!« Das war wieder Schwester Ainder mit dem scharf geschnittenen Gesicht. »Müssen wir über die Kranken und Toten reden, wenn wir essen wollen? Vielleicht spricht Bruder Cian das Tischgebet, und dann können wir mit dem Mahl beginnen.«

Erwartungsvoll hob Fidelma den Blick. Daß Cian als Mönch das Tischgebet sprach, war für sie bisher unvorstellbar gewesen.

Der frühere Krieger spürte anscheinend ihren forschenden Blick, er errötete und wandte sich an den strengen älteren Bruder.

»Möge doch Bruder Tola das Gratias sprechen«, murmelte er verlegen und sah Fidelma in die Augen. »Ich habe nicht für vieles zu danken«, flüsterte er, nur für sie bestimmt. Sie gab keine Antwort. Murchad hörte die Bemerkung, zog die buschigen Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.

Bruder Tola faltete die Hände vor sich und hob mit lauter Baritonstimme an: »Benedictus sit Deus in donis Suis.«

Sie antworteten automatisch: »»Et sanctus in omnis operibus Suis.«

Während des Essens erklärte Murchad ihnen, wie zuvor für Schwester Fidelma, wie lange die Fahrt seiner Schätzung nach dauern würde.

»Wir wollen hoffen, daß wir mit schönem Wetter gesegnet sind bis zu dem Hafen, in dem ihr an Land geht. Der Hafen ist nicht weit von dem heiligen Schrein entfernt, der euer Ziel ist. Ihr habt dann nur noch wenige Meilen über Land.«

Das rief ein aufgeregtes Gemurmel unter den Pilgern hervor. Einer der beiden jungen Brüder, die Fidelma zuvor auf dem Hauptdeck gesehen hatte und dessen Name Bruder Dathal war, wie sie inzwischen gehört hatte, beugte sich so eifrig vor, wie er sich auf Deck mit seinem Gefährten unterhalten hatte.

»Befindet sich der Schrein nahe dem Ort, an dem Bregon seinen großen Turm erbaute?«

Bruder Dathal befaßte sich offensichtlich mit den alten gälischen Legenden, denn den alten Barden zufolge hatten die Vorfahren des Volkes von Eireann einst in Iberia gelebt und vor vielen Jahrhunderten dieses Land von einem hohen Turm aus erspäht, den ihr Anführer Bregon erbaut hatte. Es war Bregons Neffe Golamh, auch als Mike Easpain bekannt, der sein Volk bei der großen Eroberung des Landes der fünf Königreiche angeführt hatte.

Murchad lächelte breit. Diese Frage war ihm schon oft von anderen Pilgern gestellt worden.

»So sagt es die Legende«, erwiderte er gutmütig. »Ich muß euch aber warnen, daß ihr keine Reste eines so gewaltigen Baus finden werdet, abgesehen von einem römischen Leuchtturm, doch der heißt der Turm des Herkules, nicht des Bregon. Bregons Turm muß wirklich sehr, sehr hoch gewesen sein, wenn ein Mensch die Küste Eireanns von Iberia aus gesehen haben soll.« Er hielt inne, doch sein Humor schien bei den anderen nicht anzukommen. Er wurde wieder ernst. »Da wir hier noch einen Moment zusammensitzen, will ich euch allen ein paar Dinge sagen, die ihr auch an eure Gefährten weitergeben müßt, die nicht an unserer ersten Mahlzeit teilnehmen konnten. Es sind Regeln, die jeder hier an Bord zu befolgen hat.«

Er zögerte und fuhr dann fort.

»Ich sagte euch, daß unsere Fahrt etwa eine Woche in Anspruch nehmen wird. In der Zeit könnt ihr das Hauptdeck so viel benutzen wie ihr wollt. Bemüht euch, meiner Besatzung nicht im Wege zu sein, wenn sie ihren Pflichten nachkommt, denn euer Leben hängt davon ab, daß dies Schiff gut gefahren wird, und das ist in diesen Gewässern nicht einfach.«

»Ich habe Geschichten von großen Seeungeheuern gehört.«

Das war die junge Schwester Gorman. Fidelma musterte sie heimlich, denn sie meinte, es sei gut, wenn sie mit ihren Mitreisenden bekannt würde, sie müßten ja mehrere Tage zusammen auf dem Schiff verbringen. Gorman war noch sehr jung, gerade mal achtzehn. Sie sprach aufgeregt und atemlos und machte den Eindruck eines naiven Kindes. Fidelma stellte sie sich wie einen eifrigen kleinen Welpen vor, der seinem Herrn gefallen möchte. Seltsam an ihr war, daß ihre Augen nie still standen, sondern flackerten wie in ständiger Angst. Fidelma fragte sich, ob sie selbst je so jung gewesen war. Achtzehn. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie achtzehn gewesen war, als sie Cian begegnete. Sie schob den Gedanken sofort beiseite.

»Werden wir Seeungeheuer sehen?« fragte das Mädchen. »Kommen wir in Gefahr?«

Murchad lachte, aber nicht unfreundlich.

»Wo wir fahren, droht keine Gefahr von Seeungeheuern«, versicherte er ihr. »Ihr werdet vielleicht Geschöpfe in der See erblicken, die ihr noch nie gesehen habt, aber sie stellen keine Gefahr dar. Unsere größte Gefahr liegt in rauhem Wetter. Wenn wir Sturm bekommen, ist es am besten, falls ich euch nicht etwas anderes befehle, daß ihr unter Deck bleibt und darauf achtet, daß alle Lampen und Kerzen gelöscht sind.«

»Aber wie können wir in der Dunkelheit da unten etwas sehen ohne Lampen?« jammerte Schwester Crella.

»Alle Lampen und Kerzen müssen gelöscht werden«, wiederholte Murchad in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Wir möchten an Bord nicht noch mit einem Feuer zu kämpfen haben außer mit einem Sturm. Die Lampen müssen gelöscht sein und alles verschalkt.«

»Das verstehe ich nicht.« Den asketischen Bruder Tola hatte dieses Wort offensichtlich verwirrt.

»Alles Lose, was bei den Bewegungen des Schiffes Schaden anrichten könnte, muß sicher vertäut oder befestigt werden«, erklärte der Kapitän geduldig. »In solchen Fällen geht euch Wenbrit zur Hand und sorgt dafür, daß ihr alles habt, was ihr braucht.«

»Wie wahrscheinlich ist es, daß wir einen Sturm bekommen?« fragte die hochgewachsene ältliche Nonne, Schwester Ainder.

»Etwa fünfzig-fünfzig«, gestand Murchad. »Aber macht euch keine Sorgen. Ich habe noch kein Pilgerschiff im Sturm verloren, und auch nicht einen einzigen Pilger.«

Die am Tisch Versammelten reagierten darauf mit einem höflichen, aber gezwungenen Lächeln. Murchad war offensichtlich ein guter Menschenkenner, denn Fidelma merkte, daß einige Passagiere weitere Ermutigung brauchten, und Murchad fiel das ebenfalls auf.

»Ich will offen mit euch reden«, erklärte er. »Dieser Monat bringt häufig Stürme und Regenfälle, die viele Wochen andauern können. Aber warum habe ich beschlossen, an diesem bestimmten Tag auszulaufen? War es ein Zufall, daß ich darauf bestand, die Ebbe heute morgen zu nutzen? Kennt jemand den Grund?«

Alle blickten einander an, und einige schüttelten den Kopf.

»Als geistliche Leute solltet ihr wissen, was heute für ein Tag ist«, schalt sie der Kapitän gutmütig. Er wartete die Antwort ab. Sie schauten ratlos drein. Fidelma meinte, sie müsse die Antwort übernehmen.

»Meinst du den Feiertag des heiligen Lukas, des geliebten Arztes?«

Murchad warf ihr einen anerkennenden Blick zu.

»Genau den meine ich. Den Feiertag des heiligen Lukas. Hat keiner von euch schon mal was vom >klei-nen Sommer des heiligen Lukas< gehört?«

Ratloses Kopfschütteln war die Antwort.

»Wir Seeleute haben festgestellt, daß es gewöhnlich eine Schönwetterperiode in der Mitte dieses Monats gibt, die mit dem Feiertag des heiligen Lukas einsetzt - Trockenheit und viel Sonnenschein. Wenn wir also in dem Monat auslaufen müssen, wählen wir gewöhnlich diesen Tag dafür.«

»Kannst du uns dieses schöne Wetter für die Überfahrt garantieren?« fragte Schwester Ainder.

»Ich fürchte, man kann für nichts garantieren, wenn man erst einmal auf See ist, ganz gleich, zu welcher Zeit und an welchem Ort, ob im Hochsommer oder mitten im Winter. Ich will damit nur sagen, daß von den vielen Fahrten, die ich um diese Jahreszeit gemacht habe, alle bis auf eine angenehm und ruhig verliefen.«

Murchad wartete einen Moment, und als keine Bemerkungen kamen, fuhr er fort.

»Es gibt allerdings noch etwas anderes, auf das ich euch aber sicher hingewiesen habe, bevor ihr euch für die Überfahrt auf meinem Schiff entschieden habt. Die Seefahrt ist heutzutage gefährlich, und die Gewässer, die wir zu durchqueren haben, machen dabei keine Ausnahme. Ich meine jetzt nicht mehr die Bedrohung durch die Elemente, durch Gezeiten und Stürme. Ich meine die Bedrohung durch unsere Mitmenschen, durch Piraten und Seeräuber, die Schiffe überfallen und ausrauben, die Menschen an Bord gefangennehmen und in die Sklaverei verkaufen.«

Alle waren verstummt.

Fidelma war einmal nach Rom gereist und kannte einige der Gefahren, von denen Murchad sprach. Sie hatte viele Geschichten von den Seeräubern gehört, die von den Balearen aus gegen die Häfen der italieni-schen Westküste vorgingen, und von der Ausbreitung der Korsaren aus der arabischen Welt im ganzen Mittelmeer, dem großen Binnenmeer der Welt.

»Wenn wir angegriffen werden, wie können wir uns verteidigen?« fragte Cian ruhig.

Murchad lächelte gepreßt. »Wir sind kein Kriegsschiff, Bruder Cian. Zu unserer Verteidigung müssen wir uns auf unsere seemännische Tüchtigkeit verlassen und auf das Glück des Teu ...« Plötzlich fiel ihm ein, daß er mit Mönchen und Nonnen sprach. »Und auf die schützende Hand Gottes.«

»Und wenn nun Glück und seemännische Tüchtigkeit nicht reichen?« erkundigte sich Bruder Tola. »Ist deine Mannschaft bewaffnet und bereit, zu unserer Verteidigung zu kämpfen?«

Cian setzte eine verächtliche Miene auf.

»Was, Bruder Tola? Verlangst du von anderen, daß sie zu deiner Verteidigung sterben sollen, während du ruhig dabeistehst?« Offensichtlich hielt Cian nichts von seinem Mitbruder.

»Erwartest du von mir, daß ich zum Schwert greife statt zum Kreuz?« Bruder Tola beugte sich vor, und sein Hals lief rot an.

»Warum nicht?« antwortete Cian ruhig. Fidelma kannte diesen kühlen, höhnischen Ton von früher und erschauerte leicht. »Petrus tat es auch im Garten Gethsemane.«

»Ich bin Mönch und kein Krieger«, protestierte Bruder Tola.

»Dann solltest du dich auch mit dem Schutz des Kruzifixes begnügen«, spottete Cian, »und nicht verlangen, daß Krieger dich verteidigen.«

Murchad schaute Fidelma an, und sie erspähte ein belustigtes Lächeln auf seinem Gesicht. Dann hob der Kapitän die Hände wie ein Priester zum Segen.

»Meine Freunde«, sagte er besänftigend. »Darüber muß es nicht zu Zwietracht unter euch kommen. Ich möchte euch nicht beunruhigen, aber ich habe die Pflicht, euch auf alle Möglichkeiten aufmerksam zu machen, damit niemand überrascht ist, falls etwas davon eintritt. Sollten wir das Unglück haben, auf Seeräuber zu stoßen, dann werdet ihr vielleicht beten, damit uns eine höhere Macht als das Schwert hilft. Das ist es doch, was ihr lehrt, nicht wahr? Diese Räuber halten sich meist dicht bei den Haupthäfen entlang der Küsten auf. Unser Kurs sollte uns weit von diesen gefährlichen Gebieten fort führen .«

»Außer?« Es war Cian, der es aus Murchad herauslockte.

»Wir laufen eine Insel namens Ushant an, die vor der Westküste des Landes liegt, das früher Armorica hieß und jetzt als >Klein-Britannien< bekannt ist. In diesen Gewässern könnten Seeräuber lauern. Auch im Vorfeld der Küste von Iberia sind sie zu finden. Das sind die Gebiete, in denen wir mit Angriffen zu rechnen haben. Aber ich bezweifle es. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht groß.«

»Bist du schon einmal von Seeräubern angegriffen worden, Murchad?« fragte Fidelma ruhig, denn der Kapitän schien sich sehr sicher zu sein.

Er nickte ernst.

»Zweimal«, bestätigte er. »Zweimal in all den Jahren, in denen ich hier zur See fahre.«

»Du hast es jedenfalls überlebt«, stellte sie es für ihre neuen Gefährten klar.

»Allerdings.« Murchad warf ihr einen dankbaren Blick zu. »Nur zwei solche Begegnungen auf allen meinen Fahrten, und das waren viele, das beweist euch, daß ein solches Zusammentreffen möglich, aber nicht wahrscheinlich ist. Wir werden viel eher mit Stürmen als mit Piraten zu tun haben. Sollten wir in einen Sturm geraten, ist es meine Pflicht als Kapitän, euch darauf hinzuweisen, daß ihr meinen Leuten nicht im Wege sein dürft und sie ihre Arbeit verrichten lassen müßt, damit wir entkommen können.«

»Vielleicht erzählst du uns, was bei den zwei Gelegenheiten geschah, als du angegriffen wurdest?« Bruder Tola sah Cian finster an, während er diese Frage an den Kapitän richtete. »Es kann doch nicht so schlimm gewesen sein, denn sonst, wie die Schwester«, er verneigte sich vor Fidelma, »schon sagte, wärst du jetzt nicht hier.«

Murchad lachte verständnisvoll.

»Na, bei dem einen Mal bin ich besser gesegelt als der Räuber.«

»Und beim zweiten Mal?« fragte Schwester Crella aufgeregt.

Die Mundwinkel des Kapitäns zogen sich humorvoll herab. »Da hat er mich gefaßt.«

Verwirrtes Schweigen trat ein, bis Murchad merkte, daß sein Humor bei seinen Passagieren nicht angekommen war, und er sich zu einer Erklärung entschloß.

»Er stellte fest, daß mein Schiff leer war, keine Waren und keine Passagiere an Bord hatte, denn ich fuhr von einem Hafen zu einem anderen, um Ladung aufzunehmen, und da entschied sich der Pirat, mich weiterfahren zu lassen. Es lohnte sich nicht für ihn, mein Schiff zu versenken, wenn er mich später mit einer wertvollen Ladung fassen könnte. Er erklärte mir, er wolle mich wiedersehen, wenn ich ihm etwas zu bieten hätte. Bisher habe ich ihn noch nicht wieder getroffen.«

Es trat nachdenkliche Stille in der Kajüte ein.

»Und wenn du nun Pilger an Bord gehabt hättest?« fragte Schwester Gorman angstvoll.

Murchad machte sich nicht die Mühe zu antworten. Schließlich sagte Schwester Ainder: »Gott sei gelobt, daß die Frage sich nicht gestellt hat.«

Ein Ruf vom Deck her ließ alle nervös zusammenfahren.

»Aha.« Murchad stand rasch auf. »Habt keine Angst. Es bedeutet nur, daß der Wind dreht. Ihr entschuldigt mich - ich muß zurück an meine Pflicht. Wenn ihr noch Fragen habt, wie das Schiff gefahren wird und welche Regeln ihr zu beachten habt, dann wendet euch an Wenbrit. Der Junge hat den größten Teil seines Lebens an Bord verbracht und ist meine rechte Hand im Umgang mit Passagieren.«

Er schlug dem Jungen auf die Schulter, und Wenbrit erlaubte sich ein verlegenes Lächeln, als der Kapitän an Deck ging.

Fidelma wollte das unvermeidliche Gespräch mit Cian hinausschieben, bis sie über alles nachgedacht hatte, und wandte sich an den jungen Mönch neben ihr.

»Kommt ihr alle aus derselben Abtei?« eröffnete sie die Unterhaltung.

Der schlanke blonde junge Mann, der ihr als Bruder Dathal vorgestellt worden war, trank seinen Becher Wein aus, bevor er antwortete.

»Bruder Adamrae«, damit wies er auf seinen ebenso jungen Gefährten, »und ich kommen von der Abtei Bangor. Doch die meisten aus unserer Pilgerschar stammen aus der Abtei Moville, die nicht weit von Bangor liegt.«

»Beide gehören zum Königreich Ulaidh, glaube ich«, meinte Fidelma.

»Das stimmt. Zum Kleinkönigreich der Dal Fia-tach«, erwiderte Bruder Adamrae, der rotes Haar und Sommersprossen hatte. Seine kalten blauen Augen funkelten wie Wasser an einem heißen Sommertag. Sein Temperament war so ruhig, wie das seines Gefährten überschäumend war.

»Was zieht euch zum Schrein des heiligen Jakobus?« forschte sie weiter und spürte, daß Cian nur auf eine Gelegenheit wartete, sie in ein Gespräch zu verwickeln.

»Wir sind scriptores«, erklärte Bruder Adamrae in seinem traurigen Tonfall.

Bruder Dathal, der im Gegensatz dazu mit hoher, fast piepsiger Stimme sprach, fügte hinzu: »Wir arbeiten an einer Geschichte unseres Volkes in der alten Zeit. Deshalb fahren wir nach Iberia.«

Fidelma hörte nur halb zu. »Die Verbindung ist mir nicht ganz klar«, bemerkte sie höflich. Eigentlich überlegte sie, wie sie sich Cian gegenüber verhalten sollte.

Bruder Dathal beugte sich zu ihr hinüber und wedelte wie zur Ermahnung mit seinem Messer.

»Aber, Schwester Fidelma, du kennst doch wohl den Ursprung unseres Volkes?«

Überrascht blickte sie ihn an und dachte nach, bis ihr einfiel, was er meinte.

»Ach ja - du sprachst mit dem Kapitän über Bregons Turm. Interessiert ihr euch für die alte Legende von der Herkunft unseres Volkes?«

»Alte Legende?« empörte sich Dathals rotgesichti-ger Gefährte. »Es ist Geschichte!« Er erhob seine traurige Stimme und sang:

»Acht Söhne hatte Golamh, der Rufer im Streit, Er, der auch Mile von Spanien genannt ...«

Fidelma unterbrach ihn, als er noch weitersingen wollte.

»Die Geschichte kenne ich, Bruder Adamrae. Doch verrät sie mir nicht, weshalb ihr zum Schrein des heiligen Jakobus wollt. Das hat doch sicher nichts mit Golamh und der Herkunft der Kinder Gaels zu tun?«

Bruder Dathal war nachsichtig, aber auch begeistert.

»Wir haben uns auf den Weg gemacht, weil wir Wissen suchen. Es kann doch gut sein, daß unsere Vorfahren alte Bücher in diesem Land Iberia hinterlassen haben, in dem die Kinder Bregons, des Sohnes Brathas, lebten und sich vermehrten und beschlossen, ihre Herrschaft über See auszudehnen. Aus diesem Grunde baute Bregon seinen Turm, von dem aus er Irland erspähte, und dann war es Ith, der Sohn Bre-gons, der ein Schiff baute und es mit dreimal fünfzig Kriegern bemannte; und sie stachen in See und segelten nach Norden, bis sie die Küste des Landes erreichten, das heute unser geliebtes Eireann ist.«

»Diese jungen Leute«, unterbrach ihn Bruder Tola mit Mißbilligung in seinem trockenen Ton, »sind nicht am Glauben und am heiligen Schrein interessiert, sie wollen nur etwas über weltliche Geschichte erfahren.«

Die Kritik des älteren Mönchs war nicht zu überhören.

»Hast du etwas gegen die Forschungen deiner jungen Gefährten?« fragte Fidelma.

Bruder Tola stocherte in dem Essen auf seinem Teller herum.

»Ich dachte, das sei klar. Die Brüder Dathal und Adamrae haben kein Recht, so zu tun, als wären sie auf einer religiösen Pilgerfahrt, wenn sie lediglich ihrem Interesse an weltlichen Dingen nachgehen.«

Bruder Dathal wurde blaß, und er hob die Stimme.

»Nichts ist heiliger als die Suche nach Wissen, Bruder Tola.«

»Nichts, außer Gott und seinen Heiligen«, fuhr ihn Bruder Tola an und stand plötzlich auf. »Seit wir Bangor verlassen haben, habt ihr von nichts weiter als von eurer ewigen Suche nach der historischen Wahrheit geredet. Ich habe genug davon. Wir sind hier auf einer Pilgerfahrt zum Schrein eines großen Heiligen, der Christus kannte und ihm nachfolgte. Das ist viel wichtiger als menschliche Eitelkeit.«

»Und was ist mit Ith, dem Sohn Bregons, der in Irland in der Schlacht fiel?« gab der traurige Bruder Adamrae zurück. »Was ist mit Golamh und seinen Söhnen, unseren Vorfahren? Ist das nicht auch wichtig? Ohne sie würdest du nicht einmal existieren und könntest nicht auf deine Pilgerfahrt gehen.«

»Für jemanden, der den Namen des ersten Menschen trägt, den Gott erschuf, scherst du dich ziemlich wenig um Religion«, tadelte ihn Tola.

Bruder Adamrae lehnte sich zurück und fing an zu lachen. Bruder Tola schien schockiert über das, was er für Gotteslästerung hielt. Selbst Fidelma verbarg ein Lächeln hinter vorgehaltener Hand. Bruder Tolas Mangel an Bildung überraschte sie.

Bruder Dathal verhielt sich weniger diplomatisch.

»Deine Unwissenheit beweist, wie nötig das ist, was du unsere menschliche Eitelkeit nennst«, erklärte er Bruder Tola schroff. »Der Name Adamrae hat nichts mit dem biblischen Namen Adam zu tun. Es ist ein alter Name in unserem Volk und bedeutet >wunder-voll<. Siehst du nun, wieviel Wissen dir fehlt, wenn du dich auf einen Gegenstand beschränkst?«

Angewidert wandte sich Bruder Tola ab und verließ die Kajüte.

Schwester Ainder, die Fidelma wegen ihrer strengen Miene wie ein weibliches Gegenstück zu Bruder Tola erschien, schnalzte mißbilligend mit der Zunge.

»Man sollte nicht so respektlos zu Bruder Tola sein. Er ist ein Mann von großer Gelehrsamkeit und Frömmigkeit.«

»Gelehrsamkeit?« höhnte Bruder Dathal.

»Er ist gelehrt in Bibelkunde und Philosophie«, erwiderte Schwester Ainder.

»Auf unserem Gebiet ist er nicht gelehrt, und er hat uns respektlos behandelt«, verteidigte sich Bruder Adamrae. »Wir machen kein Hehl daraus, welches Ziel unsere Reise hat. Unsere Aufgabe ist es, Wissen für unsere Abtei zu sammeln, die schon für ihre Gelehrsamkeit berühmt ist. Bruder Tola hat anscheinend etwas gegen Gelehrsamkeit.«

»Er ist nicht gegen die Gelehrsamkeit, die wir alle fördern sollten - die religiöse Gelehrsamkeit«, antwortete Schwester Ainder.

Bruder Adamrae verachtete nicht nur Bruder Tola, sondern auch Schwester Ainder, die ihn in Schutz nahm.

»Das Bemühen um religiöse Kenntnisse bedeutet doch nicht, daß man alle anderen Künste und Wissenschaften vernachlässigen muß. Seit Beginn unserer Pilgerfahrt hat es nichts als Streit unter uns gegeben.

Wenn er nicht von der Unduldsamkeit Bruder Tolas verursacht wurde, dann von den Gelüsten von ...«

»Genug jetzt!«

Schwester Crellas Stimme fuhr dazwischen wie ein Peitschenhieb. Es trat ein unbehagliches Schweigen ein.

»Genug, Bruder Adamrae.« Ihre Stimme nahm nun einen gemäßigt tadelnden Ton an. »Du möchtest doch wohl nicht, daß unsere Gefährtin aus dem Süden denkt, wir aus dem Norden würden uns ständig zanken, nicht wahr?« Sie wandte sich lächelnd an Fidelma. »Der Kapitän stellte dich als Fidelma von Cashel vor. Kommst du aus der Abtei dort?«

Fidelma wollte sich lieber nicht zu erkennen geben. Sie bejahte die Frage.

»Aber du kanntest Bruder Cian in Tara?« Diese Frage kam von der jungen Gorman.

»Ich war vor vielen Jahren mit ihm bekannt«, erwiderte Fidelma abweisend. Sie spürte die auf sie gerichteten Blicke, beschäftigte sich aber mit ihrem Essen. Sie wollte mit keinem der Pilger in ein engeres Verhältnis kommen und schon gar nicht in die Reibereien zwischen ihnen verwickelt werden. Sie hatte genug Probleme mit Cian.

Bruder Dathal brach das verlegene Schweigen und zitierte einen Dichter:

»Die Führer jener Hochseeschiffe,

in denen die Söhne Miles von Spanien nach Eireann kamen,

werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen,

ihre Namen und ihre einzelnen Schicksale.«

Er unterstrich die Verse mit einem lauten Schnaufen und stand vom Tisch auf. Im nächsten Moment folgte ihm sein finsterer rothaariger Gefährte.

»Ich hoffe, du verzeihst ihnen diese Reizbarkeit heute vormittag, Schwester . Schwester Fidelma, nicht wahr?« Fidelma merkte, daß Schwester Ainder sich ihr mit einem herablassenden Lächeln zugewandt hatte. Es barg weder Wärme noch Gefühl in sich. »Gelehrte sind notorisch streitbar, besonders, wenn sie über ihr eigenes Gebiet reden, was sie oft und laut tun. Wir haben tatsächlich nicht viel Ruhe gehabt, seit wir von Bangor aufgebrochen sind.«

Fidelma neigte zustimmend den Kopf.

»Ich fürchte, es war meine Frage, die den Wortwechsel auslöste.«

Ihr gegenüber verzog die junge Schwester Crella zweifelnd ihr breites Gesicht.

»Wenn es nicht deine Frage gewesen wäre, Schwester Fidelma, dann wären die Meinungen aus irgendeinem anderen Grund aufeinandergeprallt. Es stimmt, daß Bruder Tola von Anfang an an Dathal und Adamrae herumnörgelt.«

Schwester Ainder verteidigte Tola sofort.

»Es gibt keinen Grund, Bruder Tola die Schuld zuzuschieben. Er ist ein religiöser Mensch und legt Wert darauf, daß diese Pilgerfahrt der Suche nach religiöser Wahrheit dient.«

»Bruder Tola hätte nicht mit dieser Gruppe reisen sollen, wenn er auf der Suche nach so einem esoterischen Ideal ist«, erwiderte Crella.

So weit es möglich war, auf dem sanft schaukelnden Deck hinauszustolzieren, brachte Schwester Ainder das fertig. Schwester Gorman, die jüngste der Gruppe, erhob sich ebenfalls, murmelte etwas Unverständliches und verließ die Kajüte.

Wenbrit begann fröhlich lächelnd abzuräumen. Er genoß offensichtlich die Streitereien der erwachsenen Mönche und Nonnen.

Schwester Crella aß schweigend weiter, dann sah sie Fidelma an.

»Ich höre die alte Ainder schon sagen, daß die Jungen heutzutage keinen Respekt mehr haben«, grinste sie.

Fidelma wußte nicht, ob das eine allgemeine Bemerkung oder an sie gerichtet war. Sie sollte wohl besser etwas antworten.

»Mein Mentor, der Brehon Morann, sagte immer, die Jungen hielten die Älteren stets für senil. So ist es jetzt, aber so war es schon zu allen Zeiten.«

»Respekt ist etwas, was man sich verdienen muß, Schwester, man kann ihn nicht verlangen, nur weil man ein paar Jahre mehr auf dem Buckel hat.«

Wenbrit stand hinter Schwester Crella und blinzelte Fidelma zu, während er das Geschirr abräumte.

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