Fidelma stand vor Verblüffung wie angewurzelt da. Wenbrit reagierte als erster mit einem Warnruf. Zwei Matrosen erreichten Toca Nia, bevor er mit dem Fuß auf Cians ungeschützten Kopf eintreten konnte. Sie zerrten ihn, der sich sich heftig wehrte, von dem an Deck liegenden Cian weg. Murchad kam herbeigerannt.
»Was zum Teufel ...?« setzte er an.
»Teufel ist richtig!« tobte Toca Nia und bemühte sich mit haßverzerrtem Gesicht, sich dem Griff der Matrosen zu entwinden.
Fidelma beugte sich über den bewußtlosen Cian und fühlte ihm den Puls. Sie schaute zu Murchad auf.
»Würde wohl jemand Bruder Cian in seine Kajüte schaffen und sich um ihn kümmern? Die Verletzung scheint nicht gefährlich, aber er ist bewußtlos.«
Murchad winkte zwei Matrosen heran, und wortlos trugen sie Cian unter Deck.
Fidelma hatte sich erhoben und trat Toca Nia gegenüber. Er stand jetzt still im festen Griff der Matrosen. Mit gekreuzten Armen blickte sie ihm in das erregte Gesicht.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte sie ihn.
Toca Nia gab keine Antwort.
»Du bist uns eine Erklärung schuldig, mein Freund«, sagte Murchad. »Ich habe dich nicht aus dem Meer geholt, damit du einen meiner Passagiere totschlägst, noch dazu einen heiligen Bruder auf einer Pilgerreise. Was ist in dich gefahren?«
Toca Nia schaute Murchad in das ernste Gesicht und wandte sich dann an Fidelma.
»Das ist kein heiliger Bruder!«
»Das mußt du uns erklären«, beharrte Murchad. »Bruder Cian gehört zu den Pilgern, die auf meinem Schiff reisen.«
»Cian! Ja, so heißt er. Ich habe allen Grund, mich daran zu erinnern. Aber er ist ein Krieger wie ich. Einer der Krieger von Ailech. Er ist der >Schlächter von Rath Bile
Fidelma starrte Toca Nia an und bemühte sich, seine Anschuldigung zu begreifen.
»Der >Schlächter von Rath Bile« wiederholte sie ratlos.
»Ein ganzes Dorf und eine Burg zerstört, alle Gebäude niedergebrannt, Männer, Frauen und Kinder niedergemetzelt auf Befehl von Cian von Ailech. Hundertundvierzig Seelen in den Himmel geschickt von diesem Scheusal ...« Toca Nias Stimme schwoll an vor Erregung.
Fidelma hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.
»Beruhige dich, Toca Nia. Wieso bist du sicher, daß Bruder Cian für solch ein Massaker verantwortlich war?«
Das Gesicht des Iren war wutverzerrt, in seinen Augen stand seine Qual.
»Weil meine Mutter, meine Schwestern und mein jüngerer Bruder dort hingeschlachtet wurden, weil ich dabei war und es bezeugen kann.«
Fidelma saß auf der Koje in Murchads Kajüte, während der Kapitän sich auf einem Stuhl ausstreckte. To-ca Nia war in Gurvans Kajüte gebracht worden, und Drogan hielt davor Wache. Fidelma schaute besorgt drein. Die neue Situation hatte etwas Unwirkliches an sich.
»Ich habe noch nie erlebt, daß sich die Persönlichkeit eines Menschen derartig verändert«, erklärte sie Murchad. »Zuerst machte dieser Toca Nia einen angenehmen, freundlichen Eindruck, doch in dem Moment, als er Cian sah, verwandelte er sich in einen tobenden Irren und geriet völlig außer Kontrolle.«
Murchad zuckte die Achseln.
»Wenn seine Behauptung stimmt, ist seine Wut verständlich. Du kennst doch Cian von früher her, da mußt du doch etwas von dem gehört haben, was Toca Nia vorbringt?«
Fidelma machte eine verlegene Bewegung.
»Ich kannte Cian vor zehn Jahren«, gab sie zu. »Damals war er Krieger in der Leibgarde des Königs von Ailech. Darüber hinaus weiß ich nichts. Von diesem Rath Bile habe ich noch nie etwas gehört.«
Es trat ein längeres Schweigen ein, in dem Murchad in seinem Gedächtnis nachforschte.
»An einiges kann ich mich erinnern«, meinte er schließlich.
»Wann ereignete sich das?«
»Vor mehreren Jahren. Vielleicht vor fünf Jahren. Rath Bile liegt im Gebiet der Ui Feilmeda im Königreich Laigin.«
»Das heißt südlich der Abtei Kildare«, überlegte Fidelma. »In der Abtei war ich ein paar Jahre, aber an die Geschichte kann ich mich nicht erinnern.« Sie dachte einen Moment nach. »Vor fünf Jahren? Es könnte in der Zeit gewesen sein, als ich nach dem Westen geschickt worden war. Was weißt du von dem Massaker?«
Murchad zuckte die Achseln.
»Herzlich wenig. Es gab einen Konflikt zwischen dem Großkönig Blathmac und Faelan von Laigin - einen Streit darüber, ob die Ui Cheithig ihren Tribut an Blathmac in Tara oder an Faelan in Fearna zu entrichten hätten. Ich weiß, daß ein Vertrag geschlossen wurde. Aber anscheinend hatte Blathmac vor, Faelan wegen seines Widerstandes eine Lektion zu erteilen, und schickte eine Schar seiner Elitetruppe zu Schiff die Küste entlang ins Land der Ui Enechglais. Sie marschierte zur Burg von Faelans Bruder in Rath Bile und richtete ein Blutbad an. Es stimmt, daß viele Greise, Frauen und Kinder dabei ebenso ums Leben kamen wie die Handvoll Krieger von Laigin, die den Ort verteidigten.«
Fidelma war beunruhigt.
»Das ist eine Verwicklung, die uns auf dieser Reise gerade noch gefehlt hat.«
Murchad teilte ihre Besorgnis.
»Und du bist der Aufklärung des Mordes an Schwester Muirgel noch nicht näher gekommen? Es wird geflüstert, Schwester Crella sei die Schuldige. Stimmt das?«
»Ich sehe noch nicht klar. Es steckt mehr dahinter, als man auf den ersten Blick erkennt. Wie lange dauert es noch, bis wir den Hafen von Ushant erreichen?«
»Bei diesem Wind können wir in einer Stunde dort sein. Du mußt mir einen Rat geben, was ich mit Toca Nia und Cian machen soll, Lady.«
Fidelma schüttelte den Kopf. »Wenn ich die Gesetze über Kriegsverbrechen in den Critb Gablach richtig in Erinnerung habe, heißt es dort nur, daß nach Abschluß eines cairde oder Friedensvertrages alle Ansprüche dieser Art binnen eines Monats gestellt werden müssen. Wer nach dem Gesetz eine Entschädigung für ungesetzliche Tötung erlangen will, muß innerhalb dieser Frist darauf klagen. Das Massaker, von dem hier die Rede ist, ereignete sich vor mehreren Jahren.«
Murchad schaute trübe drein.
»Erst Mord und jetzt auch noch Kriegsverbrechen! In all meinen Jahren auf See habe ich so etwas nicht erlebt. Was müßten wir tun? Toca Nia hält mir Zitate aus der Bibel vor und verlangt Rache.«
»Rache ist nicht Gerechtigkeit«, erwiderte Fidelma.
»Dieser Fall gehört vor einen höheren Brehon, ich bin nicht befugt, hierüber zu entscheiden.«
»Na, ich schon gar nicht, Lady.«
»Ich werde mit Cian reden«, erklärte Fidelma und erhob sich. »Als erstes müssen wir hören, was er dazu zu sagen hat.«
Cian hatte es sich in halb sitzender Stellung auf seiner Koje bequem gemacht und hielt sich ein blutgetränktes Tuch vor die Nase. Die Kajüte, die er mit Bruder Bairne teilte, war dunkel. Eine Laterne schwang an einem Haken an der Decke hin und her und warf ein unruhiges, flackerndes Licht. Offensichtlich hatte ihm noch niemand etwas von Toca Nias Anschuldigung gesagt. Er nahm den Lappen von der Nase und begrüßte Fidelma mit einem schiefen Lächeln.
»Unser schiffbrüchiger Seemann hat eine merkwürdige Art, seinen Rettern Dankbarkeit zu bezeigen«, meinte er ironisch.
Fidelmas Miene blieb ausdruckslos.
»Ich nehme an, du hast den Mann nicht erkannt?«
Cian zuckte die Achseln und verzog schmerzvoll das Gesicht.
»Hätte ich ihn erkennen sollen?«
»Sein Name ist Toca Nia.«
»Nie gehört.«
»Er ist kein Seemann, sondern war Passagier auf dem gesunkenen Schiff. Er war Krieger bei Faelan von Laigin.«
Cian reagierte wegwerfend.
»Na, ich kenne nicht alle Krieger der fünf Königreiche. Was hat er gegen mich?«
»Ich dachte, du kennst ihn, weil er dich kennt.«
»Wie heißt er noch mal?« fragte Cian.
»Toca Nia.«
Cian dachte einen Moment nach und schüttelte dann den Kopf.
»Toca Nia von Rath Bile«, fügte Fidelma kalt hinzu.
Ohne Zweifel bedeutete dieser Zusatz etwas für Cian.
»Würdest du mir davon berichten?« fuhr Fidelma fort.
»Worüber genau?«
»Über das, was in Rath Bile geschah.«
»In Rath Bile wurde ich am Arm verwundet.« In seiner Stimme klang Bitterkeit mit.
»Was tatest du in Rath Bile?«
»Ich stand im Dienste des Großkönigs.«
»Ich glaube, das muß ich ein bißchen genauer wissen, Cian.«
»Ich befehligte eine Schar der Leibgarde des Großkönigs. Wir führten dort ein Gefecht, und ich bekam einen Pfeil in den Oberarm.«
Fidelma holte tief Atem.
»Ich möchte nicht jede Einzelheit aus dir herausquetschen müssen.«
»Was genau wirft mir dieser Toca Nia denn vor?«
»Er behauptet, du seist der >Schlächter von Rath Bile<. Er sagt, du gabst den Befehl, ungefähr hunder-tundvierzig Männer, Frauen und Kinder niederzumetzeln und das Dorf und die Burg in Brand zu stek-ken. Ist da etwas Wahres dran?«
»Hat Toca Nia dir auch gesagt, wie viele Krieger des Großkönigs dort gefallen sind?« konterte Cian zornig.
»Das ist keine Entschuldigung. Wenn diese Krieger das Dorf und die Burg angriffen, dann war es ihre Entscheidung, sich der Gefahr auszusetzen. Der Tod von Frauen und Kindern ist nicht gegen ihren Tod aufzurechnen. Es gibt keine Rechtfertigung für ein Massaker.«
»Wie kannst du das behaupten?« widersprach Cian. »Es ist gerechtfertigt, wenn der Großkönig es will!«
»Das ist eine schöne Moral, Cian. Das ist überhaupt keine Rechtfertigung. Ich würde dir dringend raten, mir zu sagen, was geschah, sonst muß man annehmen, daß Toca Nias Anschuldigungen stimmen und du für das Massaker verantwortlich bist.«
»Sie stimmen nicht! Sie stimmen ganz und gar nicht!« rief Cian in hilflosem Zorn.
»Dann erzähl mir deine Version der Geschichte. Es gab einen Grenzstreit zwischen dem Großkönig und dem König von Laigin, nicht wahr?«
Cian stimmte widerwillig zu.
»Der Großkönig meinte, die Ui Cheithig, die um Cloncurry herum ansässig sind, sollten Tribut direkt an ihn entrichten. Der König von Laigin behauptete, er sei ihr Lehensherr. Der Großkönig hielt dagegen, der Tribut sei an Stelle von boramha zu zahlen.« Cian benutzte einen alten Ausdruck, der Rinder-Berechnung bedeutete.
»Das verstehe ich nicht«, erklärte ihm Fidelma.
»Das geht zurück auf die Zeit, als Großkönig Tua-thal der Rechtmäßige in Tara herrschte. Tuathal hatte zwei Töchter. Es wird erzählt, daß damals Eochaidh Mac Eachach der König von Laigin war. Er heiratete die ältere Tochter Tuathals, doch dann stellte er fest, daß sie ihm nicht so gut gefiel wie die jüngere Tochter. Also kehrte er an den Hof Tuathals zurück, gab vor, seine erste Frau sei gestorben, und war so in der Lage, die zweite Tochter zu heiraten.«
Cian hielt inne und grinste trotz seiner ernsten Lage.
»Er war schon ein gerissener alter Knabe, dieser König Eochaidh.«
Fidelma schwieg dazu. Sie fand den Betrug gar nicht komisch.
»Nun«, fuhr Cian fort, »irgendwann erfuhren die beiden Töchter natürlich die Wahrheit. Die jüngere Tochter stellte fest, daß sie ungesetzlich verheiratet war, denn ihre Schwester lebte ja noch. Als sie merkten, daß sie beide denselben Gatten hatten, sollen sie vor Scham gestorben sein.« Er unterbrach sich wieder und grinste. »Was für eine Dummheit! Jedenfalls kam die Geschichte ihrem Vater, dem Großkönig, zu Ohren, und aus Rache marschierte er mit seinem Heer in Laigin ein, stellte Eochaidh zur Schlacht, erschlug ihn und verwüstete das Land.
Die Männer von Laigin baten um Frieden und ver-pflichteten sich, einen jährlichen Tribut zu zahlen, vorwiegend in Rindern. Von der Zeit an forderten die Ui Neill als Nachfolger Tuathals diesen boramha oder Rindertribut, mußten ihn aber oft mit Gewalt erzwingen. Deshalb gab uns Blathmac den Befehl, nach Süden zu ziehen und Rath Bile dem Erdboden gleichzumachen zum Zeichen dafür, daß er entschlossen war, diesen Tribut vom König von Laigin einzufordern.«
»Aber war nicht schon ein Abkommen geschlossen worden?« wandte Fidelma ein. »Seid ihr nicht nach dem Süden gezogen, nachdem die beiden Könige sich verständigt hatten?«
Cian antwortete mit einer ungeduldigen Geste.
»Einem Krieger kommt es nicht zu, seine Befehle in Frage zu stellen, Fidelma. Ich hatte Befehl, nach dem Süden zu ziehen, also tat ich es.«
»Du gibst zu, daß du die Schar befehligt hast?«
»Natürlich habe ich das. Das leugne ich doch nicht! Aber ich hatte den gültigen Auftrag vom Großkönig. Ich ging dorthin, um den Tribut zu erzwingen.«
»Selbst der Großkönig steht nicht über dem Gesetz, Cian. Was geschah dann weiter?«
»Wir fuhren auf vier Schiffen, vier Fünfzigschaften der Fianna der Großkönigs. Wir waren die Elite seiner Leibgarde. Wir landeten im Hafen der Ui Enechglais und marschierten nach Westen über den Fluß Sleine, bis wir Rath Bile erreichten. Der Bruder des Königs von Laigin weigerte sich, Burg und Dorf zu übergeben.«
»Also habt ihr angegriffen?«
»Wir griffen an«, bestätigte Cian. »Auf Befehl des Großkönigs.«
»Gibst du zu, daß du und deine Krieger auch Frauen und Kinder erschlagen haben?«
»Als unsere Männer vorgingen, konnten wir uns nicht erst erkundigen, wer unser Feind war und wer nicht. Die Leute kämpften gegen uns, beschossen uns mit Pfeilen, ob sie nun Krieger oder Greise oder sogar Frauen und Kinder waren. Es war unsere Aufgabe, den Auftrag auszuführen und unsere rechtmäßigen Befehle zu befolgen.«
Fidelma erwog die Geschichte eine Weile. Die Situation auf der »Ringelgans« wurde immer verzwickter. Das Rätsel um den Mord an Schwester Muirgel war schlimm genug, und dann kam noch die Behauptung Bruder Guss’ hinzu, Schwester Canair sei ebenfalls ermordet worden, noch bevor das Schiff auslief. Nun stand sie vor einer zusätzlichen Schwierigkeit durch Toca Nias Anschuldigung gegen Cian.
»Das ist eine ernste Angelegenheit, Cian. Sie muß vor den Oberrichter und den Gerichtshof des Großkönigs gebracht werden. Ich weiß wenig vom Kriegsrecht. Das muß ein berufenerer Richter beurteilen. Ich weiß, daß es Umstände gibt, unter denen das Töten von Menschen gerechtfertigt ist und nicht unter Strafe steht. Es verstößt nicht gegen das Gesetz, in der Schlacht zu töten - oder auch einen Dieb zu töten, der auf frischer Tat ertappt wird. Aber die Entscheidung liegt bei einem Gerichtshof.«
Cians Miene spiegelte seinen Zorn.
»Heißt das, daß du Toca Nia glaubst und mir nicht?« fragte er grollend.
»Es steht mir nicht zu, zu entscheiden, wer von euch beiden die Wahrheit sagt. Toca Nia erhebt eine Beschuldigung, und du mußt darauf antworten. Es ist eine schwerwiegende Beschuldigung. Es geschieht zu deinem eigenen Besten, Cian, denn Toca Nia weiß sehr gut, daß ein Rechtsbrecher von jedem straflos getötet werden darf. Er könnte dich töten und auf Straflosigkeit pochen.«
»Das Gesetz gilt doch nicht außerhalb der fünf Königreiche«, protestierte Cian.
»Das spielt keine Rolle. Du befindest dich auf einem irischen Schiff und stehst damit ebenso unter den Gesetzen der Fenechus wie auf dem Boden von Ei-reann. Du mußt nach Laigin zurückkehren und dich dort verteidigen.«
Cian starrte sie ungläubig an.
»Das kannst du mir doch nicht antun, Fidelma.«
Ihre Augen trafen sich, ihr Blick war unnachgiebig.
»Das kann ich«, sagte sie leise. »Dura lex sed lex. Das Gesetz ist hart, aber es ist das Gesetz.«
»Und wenn ich mich nicht auf diesem Schiff befände, dann würde das Gesetz nicht gelten?«
Fidelma antwortete mit einem Achselzucken und wandte sich zum Gehen. An der Tür blieb sie stehen.
»Es ist an Murchad als Kapitän, seine Pflicht nach dem Gesetz zu erfüllen. Ich fürchte, er muß entscheiden, was mit Toca Nia und mit dir geschehen soll, ob er euch gehen läßt oder euch beide zur Verhandlung nach Eireann zurückbringt. Ich würde empfehlen, daß er euch einem Brehon in Laigin übergibt.«
»Ich handelte auf Befehl des Großkönigs«, beharrte Cian.
Fidelma stand an der Kajütentür.
»Das spricht dich nicht von deiner moralischen Verantwortung frei.«
Als sie später Murchad den Stand der Dinge erläuterte, spitzte der stämmige Kapitän die Lippen zu einem lautlosen Pfiff.
»Du meinst, ich muß Cian und Toca Nia nach Ei-reann zurückschaffen?«
»Oder sie einem anderen Schiff übergeben, das sie zurückbringt«, erklärte sie.
»Dann wollen wir hoffen, daß solch ein Schiff in Ushant liegt«, murmelte Murchad.
»Inzwischen, Kapitän, schlage ich vor, daß du sowohl Cian als auch Toca Nia verbietest, ihre Kajüten zu verlassen. Wir wollen kein weiteres Blutvergießen auf diesem Schiff.«
»Das werde ich tun, Lady«, stimmte er zu. »Beten wir dafür, daß Pater Pol in Ushant eine Möglichkeit findet, mir in dieser Sache zu helfen.«
Die »Ringelgans« umrundete das Vorgebirge von Ponte de Pern und holte dabei weit nach See aus, denn die Klippen und kleinen Inseln hier waren gefährlich. Murchad brauchte kaum darauf hinzuweisen, denn das Vorgebirge lief aus in zerklüftete schwarze Granitfelsen, die wie schlechte Zähne aus der See ragten, die sie gelblich umschäumte. Murchad steuerte langsam in die langgezogene, u-förmige Bucht von Porspaul hinein und hielt auf den geschützten Ankerplatz an ihrem Ende zu.
»Es wird schön sein, wieder eine Weile festen Boden unter den Füßen zu haben«, sagte Fidelma dankbar zu Murchad.
Der wies auf die Küste.
»Es sind keine anderen Schiffe im Hafen«, stellte er überflüssigerweise fest. »Das Hauptdorf und die Kirche von Lampaul liegen oberhalb von dem kleinen Kai, den du dort siehst. Ich will hier nur für einen Tag anlegen und frisches Wasser und Lebensmittel übernehmen. Das nächste Stück unserer Reise ist das längste, je nach dem Wind. Wir segeln dann fast genau nach Süden und sehen die ganze Zeit kein Land.«
»Aber wir müssen an die Sache mit Toca Nia denken«, erinnerte ihn Fidelma.
Murchad schaute sorgenvoll drein.
»Ich wäre sehr dafür, Toca Nia und Cian hier an Land zu bringen. Dann sollen sie die Sache unter sich ausmachen.«
»Das wäre eine einfache Lösung ... für uns. Aber ich sehe Schwierigkeiten dabei«, antwortete sie.
Die »Ringelgans« kreuzte die drei Kilometer bis zum hinteren Ende der Bucht, von wo ein Pfad zu der Ansiedlung Lampaul hinaufführte. Die Einwohner hatten ihre Ankunft beobachtet, und einige kamen zur Begrüßung hinunter an den Hafen.
Murchad ließ erst das Großsegel und dann das Steuersegel reffen. Der Buganker fiel, und zum erstenmal seit Tagen schwoite das Schiff leicht in ruhigem Wasser.
»Ich gehe an Land«, verkündete Murchad und fragte Fidelma: »Möchtest du mitkommen und Pater Pol kennenlernen? Er ist hier nicht nur der Priester, sondern mehr oder weniger auch der Herrscher der Insel. Es wäre am besten, wenn wir die Sache von Bruder Cian und Toca Nia mit ihm besprechen.«
Fidelma erklärte sich bereit dazu. Sie brachten gerade das Skiff zu Wasser, als Bruder Tola und die anderen Pilger an Deck erschienen. Tola wollte sofort wissen, ob sie auch an Land gehen könnten, und die anderen verlangten ebenfalls danach.
Murchad hob die Hand und gebot Ruhe.
»Erst muß ich hin und das regeln. Ihr könnt später an Land und meinetwegen eine Nacht bleiben, um euch die Beine zu vertreten, während wir die Vorräte für die weitere Reise übernehmen. Aber bis ich das geklärt habe, ist es besser, wenn ihr alle an Bord bleibt.«
Diese Anordnung gefiel den Pilgern offensichtlich nicht, zumal sie sahen, daß Fidelma mit dem Kapitän ins Boot stieg.
Murchad und Gurvan ruderten das leichte Fahrzeug mit Fidelma am Heck das kurze Stück von der »Ringelgans« zu dem aus Steinen gefügten Kai.
Ein hochgewachsener Mann mit dunklem Teint und scharfgeschnittenen Zügen begrüßte den Kapitän, als dieser aus dem Boot stieg. Seine Kutte und das Kruzifix an seinem Hals zeigten seinen Beruf an.
»Schön, dich wiederzusehen, Murchad!« Sein Akzent verriet, daß Gälisch nicht seine Muttersprache war.
Gurvan hatte das Skiff angebunden und half Fidelma heraus.
»Es ist schön, wieder auf deiner Insel zu sein, Pater Pol«, antwortete Murchad. Dann stellte er Fidelma vor, die zu ihm getreten war: »Pater, dies ist Fidelma von Cashel, die Schwester unseres Königs Colgü ...«
»Ich bin Schwester Fidelma«, unterbrach ihn Fidelma mit einem ernsten Lächeln. »Einen anderen Titel führe ich nicht.
Pater Pol gab ihr die Hand und musterte sie kurz.
»Sei willkommen, Schwester«, lächelte er und wandte sich dann dem Steuermann zu. »Und du sei auch willkommen, Gurvan, du alter Halunke. Es ist schön, dich wiederzusehen.«
Gurvan grinste verlegen. Offensichtlich war die ganze Besatzung der »Ringelgans« auf der Insel wohlbekannt, weil das Schiff oft hier anlegte.
»Kommt mit, wir stärken uns in Lampaul«, fuhr der Priester fort und wies auf den Pfad. »Bringt ihr interessante Nachrichten mit?«
Sie folgten ihm den Pfad hinauf.
»Schlechte Nachrichten, fürchte ich, Pater. Nachricht von der >Morvaout<.«
Pater Pol blieb stehen und drehte sich rasch um.
»Die >Morvaout Sie ist erst heute früh hier ausgelaufen. Was wißt ihr von ihr?«
»Sie scheiterte auf den Riffen nördlich der Insel.«
Der Priester bekreuzigte sich.
»Gab es Überlebende?« fragte er.
»Nur drei Mann. Zwei Matrosen und ein Passagier, der nach Laigin wollte. Die Matrosen lasse ich nachher an Land schaffen.«
Pater Pol schaute einen Moment traurig drein.
»Ach ja, das ist so oft das Schicksal der Seefahrer. Die Besatzung kam vom Festland. Wir werden Kerzen für die Heimkehr ihrer Seelen anzünden.« Er bemerkte Fidelmas verständnislose Miene. »Wir sind hier ein Inselvolk, Schwester«, erläuterte er. »Wenn wir Menschen auf See verlieren, stellen wir ein kleines Kreuz auf und zünden eine Kerze an, halten eine Nacht lang Wache und beten für die Ruhe der Seelen der Dahingegangenen. Am folgenden Tag wird das Kreuz in ein Reliquiar in der Kirche gelegt und später in ein Mausoleum zu all den Kreuzen der auf See Verschollenen gebracht. Dort erwarten die Kreuze die Heimkehr der Seelen vom Meer.«
Sie kamen zu dem Dorf, einem typischen Hafenort, der sich um eine graue Steinkapelle in der Mitte gruppierte.
»Das ist meine kleine Kapelle.« Pater Pol zeigte auf das Gebäude. »Kommt, sprechen wir gemeinsam ein Dankgebet für eure glückliche Ankunft.«
Murchad hüstelte diskret.
»Es gibt etwas, das wir dringend besprechen müßten«, setzte er an.
Pater Pol legte ihm lächelnd die Hand auf den Arm.
»Nichts ist so dringend, daß ein Dankgebet nicht Vorrang davor hätte«, meinte er bestimmt.
Murchad schaute Fidelma an und zuckte die Achseln.
Sie gingen in die kleine Kapelle und knieten vor dem Altar nieder, der Fidelma durch seine Pracht überraschte. Sie hatte geglaubt, die Insel sei arm, doch hier glänzten Gold und Silber auf der seidenen Altardecke.
»Du hast anscheinend eine reiche Gemeinde, Pater«, flüsterte sie.
»Arm an Gütern, aber reich im Herzen«, erwiderte der Priester nachsichtig. »Sie spenden, was sie haben, dem Hause Gottes, um seine Größe zu rühmen. Dominus optimo maximo ...«
Er sah nicht, wie sie mißbilligend die Mundwinkel herabzog. Sie hielt nichts von müßiger Pracht, wenn die Menschen in Armut lebten.
Pater Pol neigte den Kopf und sprach ein lateinisches Gebet, zu dem sie jeweils ihr »Amen« beisteuerten.
Danach führte er sie in sein kleines Haus neben der Kirche und bot ihnen Apfelwein in Steingutbechern an, während Murchad die Angelegenheit von Toca Nia und Cian erläuterte.
Pater Pol rieb sich nachdenklich die Nase. Das schien eine Angewohnheit von ihm zu sein.
»Quid faciendum?« fragte er, als Murchad geendet hatte. »Was ist zu tun?«
»Wir hofften, daß du einen Vorschlag hättest«, antwortete Murchad. »Ich kann Toca Nia und Cian nicht den ganzen Weg nach Iberia und zurück nach Laigin auf meinem Schiff behalten. Man hat mir erklärt, daß über diese Anschuldigungen vor einem sachkundigen Richter in Eireann verhandelt werden muß, doch ich kann die beiden nicht direkt dorthin bringen, ich kann mir aber auch nicht leisten, zu warten, bis ein Schiff in Ushant anlegt, das dorthin will.«
»Warum solltest du das eine oder das andere tun?«
»Weil«, schaltete sich Fidelma vorsichtig ein, »Toca Nia seine Anklage vor einem Gericht in Eireann erheben muß. Ich glaube, Murchad hofft, du könntest beide hier sicher verwahren, bis das nächste Schiff nach Eireann hier einläuft.«
Pater Pol erwog das eine Weile und machte dann eine ablehnende Geste.
»Wer weiß, wann das ist? Jedenfalls könnt ihr doch kaum von einem Glaubensbruder verlangen, daß er eine Pilgerfahrt aufgibt, um sich gegenüber diesen Anschuldigungen zu verantworten? Was weißt du vom Recht, Schwester?«
»Schwester Fidelma ist Anwältin bei Gericht«, erklärte Murchad eilig.
Pater Pol sah sie interessiert an.
»Bist du Kirchenjuristin?«
»Ich kenne die Bußgesetze, bin aber Anwältin nach unseren alten weltlichen Gesetzen.«
Pater Pol schien enttäuscht.
»Aber das Kirchenrecht hat doch sicher Vorrang vor dem weltlichen Gesetz? In diesem Fall brauchtest du diese Anschuldigungen gar nicht zu berücksichtigen?«
Fidelma schüttelte den Kopf.
»So verfährt die Rechtsprechung in unserem Land nicht, Pater. Toca Nia hat eine der schwersten Anschuldigungen erhoben, die denkbar sind. Cian muß sich dagegen verteidigen.«
Pater Pol überlegte eine Weile und schüttelte dann ablehnend den Kopf.
»Als Führer der hiesigen Gemeinschaft wie als Vertreter der Kirche muß ich sagen, daß euer Gesetz auf dieser Insel nicht gilt. Ich kann nichts tun. Wenn Bruder Cian oder Toca Nia oder beide aus freiem Willen euer Schiff verlassen und hier bleiben wollen, bis ein Schiff nach Eireann ankommt, dann können sie das tun. Wenn sie woandershin reisen wollen, können sie das auch tun. Ich kann ihnen aber nichts vorschreiben oder sie hier festhalten, solange sie nicht gegen die Gesetze verstoßen, die auf dieser Insel gelten. Ihr müßt entscheiden, was das Beste ist.«
Murchad war sichtlich unglücklich.
»Es scheint«, sagte Fidelma zu ihm, »daß dir nur eine Wahl bleibt. Dein Schiff ist dein Königreich, Murchad, du herrschst dort unbeschränkt nach den Gesetzen der Fenechus. Es ist deine Schuldigkeit, Ci-an und Toca Nia auf deinem Schiff zu behalten und späterhin nach Eireann zurückzubringen.«
Murchad wollte etwas einwenden, doch Fidelma hob abwehrend die Hand.
»Ich sagte, es ist deine Schuldigkeit. Ich habe nicht gesagt, du bist dazu verpflichtet. Du mußt darüber entscheiden, was geschehen soll. Ich kann dir nur raten.«
Der Kapitän schüttelte niedergeschlagen den Kopf.
»Es ist eine schwierige Entscheidung. Wer entschädigt mich für das alles? Cian wird sich bestimmt weigern, seine Rückfahrt zu bezahlen, wenn er sie unter Zwang antreten muß, und Toca Nias Schmuck reicht auch nicht für das Fahrgeld. Ich muß nicht nur an mein eigenes Wohl denken, verstehst du, sondern auch an das meiner Mannschaft, die ernährt werden muß und ihre Familien zu unterhalten hat.«
»Wenn Toca Nias Anschuldigungen sich als berechtigt erweisen, dann müßte dich der König von Laigin entschädigen. Wenn nicht, kannst du eine Zwangsvollstreckung gegen Toca Nia beantragen.«
Murchad kämpfte immer noch mit sich.
»Ich glaube nicht, daß er über genügend Geld oder Grundbesitz verfügt. Das muß ich mir noch mal überlegen.«
Pater Pol klatschte in die Hände, um das Thema abzuschließen.
»Und während du das tust, Freund Murchad, können deine Passagiere an Land kommen, sich von den Strapazen der Seereise erholen und mit uns das Fest des großen Märtyrers meines Landes, Justus, feiern.«
»Das ist nett von dir, Pater Pol«, murmelte Murchad, der nach wie vor mit seinem Problem beschäftigt war.
»Ich möchte dir ebenfalls danken, Pater«, fügte Fidelma hinzu. »Es ist sehr freundlich von dir, daß du dir diese Mühe mit unseren Angelegenheiten machst.« Sie hielt inne. »Das Fest des Justus? Ich kenne verschiedene große Kirchenmänner dieses Namens, aber von einem Justus aus dieser Gegend habe ich noch nicht gehört.«
»Er wurde schon als Knabe getötet«, erläuterte Pater Pol. »Es geschah während der Christenverfolgungen unter Kaiser Diocletian. Er soll zwei andere Christen vor den römischen Soldaten versteckt haben und wurde deshalb getötet.«
Pater Pol erhob sich langsam, und Murchad und Fidelma folgten seinem Beispiel ebenso wie Gurvan, der sich am Gespräch nicht beteiligt hatte.
»Ich vermute, du willst frisches Wasser, Brot und andere Vorräte übernehmen?«
Der Kapitän bestätigte dies.
»Gurvan wird sich darum kümmern, Pater, und ich bringe meine Passagiere an Land, damit sie sich die Beine vertreten können.«
»Unser Gottesdienst für Justus beginnt bei Sonnenuntergang, und das Fest schließt sich daran an.«
Sie verabschiedeten sich für den Augenblick von dem Priester und gingen langsam zurück zum Kai. Murchad war in düsterer Stimmung wegen der Aussicht, Cian und Toca Nia bis zu seiner Rückkehr nach Ardmore an Bord behalten zu müssen, meinte aber resigniert, es sei wohl das einzige, was ihm unter diesen Umständen übrigbliebe.
»Ich glaube, du hast eine weise Entscheidung getroffen, Murchad«, tröstete ihn Fidelma. »Mehr Sorgen macht mir die Sache mit Schwester Muirgel, denn ich habe noch nie zuvor vor einem Problem gestanden, bei dem ich auch nicht einen einzigen Weg sah, den ich auf der Suche nach einer Lösung einschlagen könnte.«