Sie hatten sich versammelt, wie Fidelma es gewünscht hatte, und saßen zu beiden Seiten des langen Tisches in der Mittelkajüte. Murchad lehnte am Mastfuß, Gurvan saß etwas unbequem an einer Seite und Wen-brit mit baumelnden Beinen auf dem Tisch, auf dem er sonst das Essen zubereitete. Er verfolgte das Verfahren mit Interesse. Fidelma saß zurückgelehnt auf ihrem Stuhl am Kopfende des Tisches. Alle schauten sie erwartungsvoll an.
»Man hat mir nachgesagt«, begann sie gelassen, »daß ich jemand sei, der alles durch eine Art von Instinkt weiß. Ich kann euch versichern, das stimmt nicht. Als dalaigh stelle ich Fragen und höre zu. Manchmal erfahre ich durch das, was die Leute in ihren Antworten weglassen, mehr als durch das, was sie wirklich sagen. Aber ich brauche Informationen. Ich brauche Tatsachen oder auch Fragen, über die ich nachdenken kann. Ich prüfe lediglich diese Beweise und erwäge diese Fragen, und nur dadurch kann ich zu Schlußfolgerungen kommen.
Nein, weder verfüge ich über ein geheimes Wissen, noch bin ich eine Prophetin, die die Lösung eines Rätsels ohne Kenntnisse erahnt. Die Kunst der Ermittlung ist den Spielen fidchell oder brandubh vergleichbar. Alles muß offen auf dem Brett liegen, damit man die Lösung des Problems suchen kann. Das Auge muß sehen, das Ohr muß hören, der Verstand muß arbeiten. Instinkte können lügen oder in die Irre führen. Deshalb sind Instinkte nicht unfehlbar, wenn es darum geht, die Wahrheit zu ergründen, obwohl sie manchmal gute Führer sein können.«
Sie hielt inne. Es herrschte Schweigen. Alle blickten sie gebannt an wie Kaninchen einen Fuchs.
»Mein Mentor, der Brehon Morann, warnte uns Studenten immer vor dem Offensichtlichen, weil das Offensichtliche manchmal täuscht. Davon bin ich ausgegangen, bis ich merkte, daß das Offensichtliche des öfteren deswegen so offensichtlich ist, weil es die Wirklichkeit ist.
Wenn dir jemand begegnet, der mit stierem Blick, wirrem Haar und verzerrtem Gesicht die Straße entlangrennt, schreiend und mit Schaum vor dem Mund, ein blutiges Messer in der Hand und Blut auf seiner Kleidung, wofür würdest du ihn halten? Es könnte sein, daß er das Gesicht verzerrt und schreit, weil er sich verletzt hat, daß er ein blutiges Messer in der Hand hält, weil er gerade Fleisch zum Essen geschnitten und sich dabei mit Blut bespritzt hat. Es gibt viele mögliche Erklärungen, aber die offensichtliche lautet, er ist ein mordender Irrer, der auf alle losstürmt, die ihm oder ihr nicht aus dem Wege gehen. Und manchmal ist die offensichtliche Erklärung auch die richtige.«
Wieder hielt sie inne, aber es kamen keine Bemerkungen.
»Ich fürchte, ich habe lange auf das Offensichtliche gestarrt und es nicht als die Wahrheit erkennen wollen.
Als ich alles zurückverfolgte, gab es eine Person, mit der sämtliche Ereignisse in Verbindung standen, einen gemeinsamen Faktor, an dem auf keine Weise vorbeizukommen war. Cian war der gemeinsame Faktor.«
Cian erhob sich mühsam, das Schwanken des Schiffes warf ihn gegen den Tisch, und er rettete sich vor dem Fall, indem er sich mit einer Hand daran festhielt.
Gurvan war aufgestanden und hinter ihn getreten, und nun legte er ihm seine gesunde Hand auf die Schulter.
Cian schüttelte sie zornig ab.
»Du gemeines Biest! Ich bin kein Mörder! Nur aus deiner miesen Eifersucht klagst du mich an. Bloß weil ich dich nicht wollte .«
»Setz dich hin und sei still, sonst lasse ich dich von Gurvan bändigen!«
Fidelmas eisiger Ton beendete seinen Ausbruch. Trotzig blieb Cian stehen, und sie mußte es wiederholen.
»Setz dich hin und schweig, habe ich gesagt! Ich bin noch nicht fertig.«
Bruder Tola schaute Fidelma mißbilligend an.
»Cum tacent clamant«, murmelte er. »Wenn du ihm nicht erlaubst zu sprechen, wird ihn doch sein Schweigen verurteilen?«
»Er kann sprechen, wenn ich fertig bin und wenn er weiß, worüber er zu reden hat«, versicherte ihm Fidelma kühl. »Es ist besser, man spricht wissend als unwissend.« Sie wandte sich wieder an alle. »Wie ich schon sagte, als ich erst einmal erkannt hatte, daß Cian der gemeinsame Faktor bei allen diesen Morden war, wurde mir der Zusammenhang zwischen ihnen klar.« Sie hob die Hand, um einen neuen Ausbruch Cians abzuwehren. »Ich habe nicht gesagt, daß Cian der Mörder ist, merkt euch das. Ich habe bisher nur gesagt, daß er den gemeinsamen Faktor bildete.«
Cian war jetzt offensichtlich ebenso ratlos wie alle anderen. Er sank auf seinen Stuhl zurück.
»Wenn du mich nicht des Mordes beschuldigst, wessen klagst du mich dann an?« murrte er.
Sie warf ihm einen finsteren Blick zu.
»Es gibt viele Dinge, die man dir anlasten kann, Ci-an, aber in diesem besonderen Fall gehört Mord nicht dazu. Ob du der Schlächter von Rath Bile bist oder nicht, das geht mich nichts mehr an. Diese Anschuldigung ist mit Toca Nia gestorben.«
Sie betrachtete ihre Zuhörer, die immer noch wie gebannt dasaßen und darauf warteten, daß sie fortfuhr. Sie schaute einem nach dem anderen ins Gesicht. Cian starrte sie trotzig an. Bruder Tola und Schwester Ainder hatten eine leicht höhnische, spöttische Miene aufgesetzt. Schwester Crella und Schwester Gorman hielten die Köpfe gesenkt. Bruder Bairne machte den Eindruck eines gehetzten Tieres, seine Augen fuhren hin und her, als suche er einen Fluchtweg. Bruder Dathal hatte sich leicht vorgebeugt und erwiderte ihren Blick fast mit Begeisterung, als warte er freudig erregt auf ihre Enthüllungen. Sein Gefährte, Bruder Adamrae, starrte auf den Tisch und trommelte lautlos mit den Fingern, als ob ihn das ganze Verfahren langweile.
»Ich brauche euch natürlich nicht erst zu sagen, daß ein gefährlicher Mörder unter uns sitzt.«
»Das ist logisch«, nickte Bruder Dathal eifrig. »Aber wenn es nicht Bruder Cian ist, wer ist es dann? Und warum nennst du ihn den gemeinsamen Faktor?«
»Den Mörder kennt ihr, seit ihr im Norden zu dieser Pilgerfahrt aufgebrochen seid«, fuhr sie fort, ohne auf seine Worte einzugehen. »Sein erstes Opfer war Schwester Canair.«
Schwester Ainder stieß heftig den Atem aus.
»Woher willst du das wissen?« fragte sie. »Schwester Canair erschien einfach nicht, als die Gezeiten das Schiff zum Auslaufen zwangen. Wieso glaubst du, daß sie ermordet wurde?«
Beistimmendes Gemurmel erhob sich.
»Weil ich mit jemandem gesprochen habe, der ihre Leiche sah. Bruder Guss hat sie gesehen und Schwester Muirgel auch.«
Cian lachte höhnisch auf.
»Sehr bequem, was, denn Muirgel und Guss sind beide tot und können deine Behauptung nicht beweisen.«
»Sehr bequem«, pflichtete ihm Fidelma bei. »Muirgel wurde ebenfalls ermordet, während Guss ...« Sie zuckte die Achseln. »Na, wir wissen alle, was mit ihm geschah. Er fiel über Bord, weil er von der Furcht getrieben wurde.«
Alle Blicke richteten sich auf Schwester Crella.
»Es gab nur eine Person, vor der Guss aus Angst zurückwich«, bemerkte Bruder Dathal.
Schwester Crella saß starr da wie ein erschrockenes Kaninchen. Sie war totenblaß und konnte nur ablehnend den Kopf schütteln.
»Schwester Crella?« Bruder Tola nickte nachdenklich. »Das ergibt wohl einen Sinn. Es hieß, sie sei eifersüchtig auf Muirgel.«
»Bruder Guss hat mir erklärt, er sei überzeugt, daß Crella diejenige war, die Muirgel umbrachte«, schaltete sich Cian ein, froh darüber, daß anscheinend nicht mehr er verdächtigt wurde.
»Eifersucht? Wollust!« höhnte Schwester Ainder. »Die größte Sünde von allen.«
Schwester Crella brach in leises Weinen aus. Fidelma meinte die Sache klarstellen zu müssen.
»Schwester Crella war nur die ungewollte Ursache für den Tod von Bruder Guss«, erklärte sie. »Unglücklicherweise hegte Bruder Guss einen unerschütterlichen Glauben an Crellas Schuld. Er war jung und ängstlich - und vergeßt nicht, er hatte gesehen, was der Mörder sowohl Canair als auch Muirgel angetan hatte. Er fürchtete für sein Leben, und diese Furcht raubte ihm den Verstand. Als Crella auf ihn zu kam, dachte er, sie wolle ihn erstechen, und er wich aus Angst zurück und fiel über Bord. Sein Tod wurde nicht von Crella verursacht, sondern von der Person, die ihm solche Todesfurcht eingejagt hatte.«
Wieder trat ein langes Schweigen ein. Schwester Crella schaute Fidelma unter Tränen an. Sie verstand nicht recht, was sie gesagt hatte, begriff nur, daß Fidelma sie nicht beschuldigte.
»Treibst du ein Spiel mit uns, Schwester?« fragte Schwester Ainder zornig. »In einem Atemzug beschuldigst du jemanden und im nächsten sprichst du ihn frei. Was soll denn das heißen? Kannst du uns nicht einfach sagen, welches Motiv es für diese Morde gab und wer der Täter war?«
Fidelma sprach so gelassen weiter, als rede sie über das Wetter.
»Du selbst hast mir das Motiv genannt.«
Schwester Ainder war verblüfft.
»Wie?«
»Du hast es gesagt - es war eine der sieben Todsünden, die Sünde der Unkeuschheit.« Fidelma schwieg und ließ ihre Worte auf die Zuhörer wirken, ehe sie fortfuhr. »Bei jeder Ermittlung muß man von der Frage ausgehen, die Cicero einmal einem römischen Richter gestellt hat: Cui bono? Wem nutzt es? Welches ist das Motiv?«
»Du meinst also, das Motiv war Unkeuschheit?« unterbrach Bruder Tola voller Geringschätzung. »Was hat denn der Tod des Kriegers aus Laigin, Toca Nia, mit Unkeuschheit zu tun? Oder behandelst du diesen Mord getrennt? Mir erscheint es offenkundig, daß er wegen seiner Beschuldigungen gegen Cian getötet wurde. Von seinem Tod hatte nur Cian einen Nutzen.«
Es war klar, daß er und Cian alles andere als Freunde waren.
»Du hast recht«, stimmte ihm Fidelma ruhig zu. »Toca Nia wurde getötet, um Cian zu schützen.«
Cian wollte wieder aufstehen, doch Gurvan drückte ihn auf seinen Platz zurück.
»Also beschuldigst du mich am Ende doch?« fragte er verbittert. »Ich habe nicht .«
»Du hast ihn nicht umgebracht?« unterbrach ihn Fidelma in mildem Ton. »Nein, das hast du nicht. Ich habe gesagt, er wurde getötet, um dich zu schützen; ich habe nicht gesagt, er wurde von dir getötet. Doch das Motiv für den Mord an Toca Nia war dasselbe wie für die Morde an Canair und Muirgel und die beide Versuche, mich zu ermorden.«
»Zwei?« forschte Bruder Dathal. »Jemand hat zweimal versucht, dich zu töten?«
»O ja«, nickte Fidelma. »Der zweite Versuch wurde letzte Nacht in meiner Kajüte während des Sturms unternommen. Ich verdanke mein Leben einem Kater.« Weitere Erklärungen gab sie nicht dazu. Dafür war später noch Zeit.
»Also gibt es nur einen Mörder und ein Motiv? Das meinst du damit?« fragte Murchad, der ihrer Logik zu folgen versuchte.
»Und dieses Motiv ist die Unkeuschheit«, bestätigte sie. »Oder vielleicht sollte ich lieber sagen, der Glaube an eine Liebe zu Cian, der so stark war, daß er jede Vernunft austrieb und nur noch die Besessenheit hinterließ, ihn zu beschützen und alle zu beseitigen, die nach seiner Liebe strebten.«
Bleich und zitternd lehnte sich Cian zurück.
»Ich verstehe nicht, was du damit meinst.«
»Hätte Toca Nia dir geschadet, dann wärst du für die Person, die dich für sich haben wollte, nicht mehr erreichbar gewesen.«
»Das verstehe ich immer noch nicht.«
»Dabei ist es ganz einfach. Ich sagte, du warst der gemeinsame Faktor. Warst du nicht zu verschiedenen Zeiten der Geliebte sowohl von Canair wie von Muirgel?«
Cian blieb verstockt.
»Das leugne ich nicht«, antwortete er knapp.
»Es gab noch mehrere andere, deren Zuneigung du mit deinem unersättlichen Appetit auf junge Frauen errungen hast. Wolltest du dich damit für das entschädigen, was Una dir angetan hatte?« Diesen boshaften Stich konnte sie sich nicht versagen.
»Una hat damit nichts zu tun«, schwor Cian.
Schwester Gorman beugte sich gespannt vor.
»Wer ist Una? Wir hatten keine Schwester Una in Moville.«
»Una war Cians Ehefrau. Sie ließ sich von ihm scheiden mit der Begründung, er sei steril«, sagte Fidelma mit einem unversöhnlichen Lächeln. »Vielleicht wollte Cian diese herabwürdigende Erfahrung dadurch wettmachen, daß er sich so viele junge Geliebte wie möglich suchte.«
Cians Gesicht verzerrte sich vor Zorn.
»Du ...« setzte er an.
»Eine dieser Geliebten konnte die Vorstellung, daß du noch andere hättest, nicht ertragen«, schnitt ihm Fidelma das Wort ab. »Anders als die meisten deiner Geliebten war diese Person geistesgestört, man könnte auch sagen, wahnsinnig vor Eifersucht. Du hast nie begriffen, was für einen Hexenkessel von Eifersucht und Haß du da aufgerührt hast. Was für ein Glück für dich, Cian, daß sich dieser Haß nicht gegen dich richtete, sondern gegen deine anderen Geliebten.«
Als hätte sie Eiswasser auf seinen Zorn gegossen, so plötzlich wurde Cian still. Er saß mit halbgeöffnetem Mund da und versuchte rasch zu überdenken, was sie gesagt hatte.
Bruder Tola beugte sich zu ihr herüber.
»Wenn ich dich richtig verstanden habe, wurde To-ca Nia umgebracht, weil er eine Bedrohung für Cian war, und diese Person, irrsinnig entschlossen, Cian zu schützen, sah in ihm nur die Bedrohung, die ebenso beseitigt werden mußte wie seine anderen Geliebten.«
»Die Person wollte Cian für sich allein«, bestätigte Fidelma.
»Abgesehen von Crella gab es niemand, mit der ich eine Affäre hatte«, stellte Cian fest, »außer ...« Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Fidelma mißtrauisch an, Furcht trat in seinen Blick.
Fidelma lachte spöttisch auf, als sie begriff, was in seinem Kopf vorging. Daß er sie beschuldigte, war einfach grotesk, aber es folgte aus seiner natürlichen Arroganz, daß er tatsächlich glaubte, sie hege nach all diesen Jahren noch so ein starkes Gefühl für ihn.
»Ich muß gestehen, als ich achtzehn Jahre alt war, hätte ich vielleicht auch das Opfer eines solchen Wahnsinns werden können«, gab sie vor allen zu. »Jugend verstärkt die Gefühle, und manchmal fehlt uns die Reife, sie zu beherrschen. Ja, auch in diesem Fall müssen wir die mangelnde Charakterfestigkeit der Jugend in Betracht ziehen. Aber du täuschst dich, Cian, wenn du glaubst, du hättest noch die Fähigkeit, solche Gefühle in mir zu wecken. Du erregst nicht einmal mein Mitgefühl.«
Bruder Dathal fragte wie ein eifriger Spürhund: »Aber du bist doch sicher nicht die Geliebte Cians gewesen, Schwester?«
Fidelma verzog resignierend das Gesicht.
»O ja. Vor zehn Jahren, als ich eine junge Studentin an der Hochschule des Brehons Morann in Tara war, bin auch ich dem Zauber Cians erlegen.« Sie schaute Cian nachdenklich an. »Es war eine unreife jugendliche Affäre auf beiden Seiten«, fügte sie mit einer Böswilligkeit hinzu, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte. »Ich bin erwachsen geworden, Cian nicht.«
»Aber wie konnte diese wahnsinnige Geliebte das wissen?« fragte Bruder Dathal gespannt. »Wenn eure Affäre zehn Jahre zurückliegt, war das weit vor der Zeit, als Cian in die Abtei Bangor eintrat, und zweifellos lange bevor einer von uns ihn kannte.«
Fidelma warf ihm einen anerkennenden Blick zu.
»Du hast eine gute Frage gestellt, Bruder Dathal. Als ich an Bord kam, habt ihr alle erfahren, daß ich Cian schon kannte. Eine Person interessierte sich sehr dafür. Dieselbe Person hörte mit an, wie Cian und ich uns über unsere traurige kleine Affäre unterhielten.«
Sie wandte sich plötzlich an Cian.
»Sicherlich kannst du dir jetzt alles selbst zusammenreimen. Mir gegenüber hast du zugegeben, daß du Liebschaften mit Canair, Muirgel und Crella hattest.«
Noch bevor sie ausgeredet hatte, war Bruder Bairne von seinem Platz Cian gegenüber aufgesprungen und hatte sich über den Tisch geworfen. Er zückte ein Messer.
»Schweinehund!« schrie er, fuhr Cian an die Kehle und hob die Waffe.
Gurvan beugte sich vor, packte Bairnes Waffenhand mit eisernem Griff und bog ihm den Arm schmerzhaft nach hinten. Bruder Bairne schrie auf und ließ das Messer auf den Tisch fallen. Bruder Tola hob es geistesgegenwärtig auf und reichte es Murchad.
Bruder Bairne war kein Gegner für den stämmigen und muskulösen Bretonen. Während Cian sich aus dem Weg bog, zog Gurvan den vor Aufregung puterroten jungen Mann über den Tisch und drehte ihm den Arm auf den Rücken. Der junge Mönch erschlaffte, aller Kampfgeist schien von ihm gewichen.
Fidelma sah ihn strafend an.
»Das war ausgesprochen dumm von dir, Bruder Bairne, nicht wahr?«
»Ich hasse ihn!« jammerte der junge Mann.
»Du haßt ihn und verlangst nach ihm?« Schwester Ainder war entsetzt. »Das verstehe ich nicht!«
»Bruder Bairne, erkläre uns, warum du Cian haßt«, forderte Fidelma ihn geduldig auf.
»Ich hasse Cian, weil er mir Muirgel weggenommen hat.«
Cian lachte rauh.
»Wahnsinn! Muirgel gehörte dir nie, also konnte ich sie dir auch nicht wegnehmen, du dummer Junge!«
»Schweinehund!« rief Bairne wieder, aber Gurvan hielt ihn fest in seinem Griff.
Schwester Crella hatte wieder etwas Mut gefaßt.
»Cian sagt die Wahrheit. Muirgel wollte nichts mit Bairne zu tun haben. Sie hielt ihn für verschroben, für einen weichlichen Träumer. Und mit Cian hatte sie wirklich eine Liebschaft.«
Cian nickte bestätigend.
»Aber Muirgel und ich hatten diese Beziehung schon beendet, kurz bevor wir von Moville aufbrachen. Muirgel hatte einen anderen Liebhaber gefunden, und ich hatte Canair. So einfach war das. Muirgel erzählte mir, daß sie, so unwahrscheinlich das klingt, sich in Guss verliebt hatte.«
»Guss?« Crella starrte ihn entgeistert an. »Stimmt das? Das kann doch nicht sein.« Sie hielt sich die Wange, als sie entsetzt merkte, was ihre Leugnung der Beziehung ihrer Freundin zu dem jungen Mann bedeutete.
»Es stimmt«, erklärte ihr Fidelma. »Muirgel liebte ihn wirklich, und nur wegen deiner Abneigung gegen Guss hast du das nicht glauben wollen. Das ließ mich eine Zeitlang einen Verdacht gegen Guss hegen, und zugleich hat deine Abneigung, die ihm als Eifersucht erschien, Guss annehmen lassen, daß du die Mörderin wärst - deswegen seine große Angst vor dir, durch die er dann über Bord gefallen ist.«
Bruder Tola schüttelte verwirrt den Kopf.
»Ich verstehe immer noch nicht, weshalb Bruder Bairne Toca Nia töten sollte, wenn er, wie du sagst, Cian haßt. Mit Toca Nias Auftauchen hätten sich doch Bairnes Träume erfüllt - dadurch konnte er ihn endlich loswerden?«
Fidelma wurde ungeduldig.
»Du hast mich falsch verstanden. Bairne hat niemanden getötet. Dazu ist er überhaupt nicht in der Lage. Ihr habt doch gesehen, was für einen schwächlichen Versuch er eben gemacht hat! Ich komme auf das zurück, was ich gesagt habe, bevor er diese Torheit beging. Ich habe vorhin festgestellt, Cian könne sich jetzt alles selbst zusammenreimen. Er hat seine Liebschaften mit Canair und Muirgel zugegeben. Er hat sogar eine kurze Affäre mit Crella eingestanden. Aber es gibt noch eine Person an Bord dieses Schiffes, mit der er eine Affäre hatte, die einzige, die unsere Auseinandersetzung über unsere Jugend mitangehört hat.«
Schwester Gorman war aufgestanden, denn schon breitete sich Entsetzen auf Cians Gesicht aus, als ihm die Erinnerung voll zum Bewußtsein kam. In ihrer Miene spiegelte sich nicht Schuld, sondern Trotz, und ihre Augen glänzten eigenartig. Angriffslustig schob sie das Kinn vor. Ihr Lachen klang etwas hysterisch, es war eher ein schrilles Kichern, das einem boshaften Triumph glich. Als Fidelma sie anschaute, fand sie sich in ihrer Vermutung bestätigt, daß Gorman wahnsinnig war.
Finster blickte das Mädchen in die Runde.
»Ich habe kein Verbrechen begangen«, sagte sie verächtlich. »Heißt es nicht im ersten Buch Mose:
>Ich habe einen Mann erschlagen für meine Wunde
Und einen Jüngling für meine Beule;
Kain soll siebenmal gerächt werden,
Aber ich siebenundsiebzigmal!<«
Fidelma verbesserte sie.
»Du zitierst aus dem Gesang von Lamech, dem Sohn von Methusael, dessen endloser Rachedurst durch Christi Wort verwandelt wurde. Weißt du, was Christus nach dem Evangelium des Matthäus zu Petrus sagte? >Da trat Petrus zu ihm und sprach: Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Ist’s genug siebenmal? Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.< Laß Lamechs Schatten mit seiner Rache sterben, Gorman.«
Das Mädchen fuhr wütend auf sie los.
»Spiel hier nicht die Neunmalkluge, du babylonische Hure! Dich hätte ich auch umgebracht, aber du bist mir zweimal entgangen. Doch deine Strafe bekommst du noch. >Und ich sah ein Weib sitzen auf einem schar-lachfarbnen Tier, das war voll Namen der Lästerung und hatte sieben Häupter und zehn Hörner. Und das Weib war bekleidet mit Purpur und Scharlach und übergoldet mit Gold und edlen Steinen und Perlen und hatte einen goldenen Becher in der Hand voll Greuel und Unsauberkeit ihrer Hurerei, und an ihrer Stirn geschrieben einen Namen, ein Geheimnis: Die große Babylon, die Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden. Und ich sah das Weib trunken von dem Blut der Heiligen und von dem Blut der Zeugen Jesu.<«
»Das Mädchen phantasiert«, murmelte Schwester Ainder unsicher, stand auf und rückte von ihr weg.
Murchad sah Fidelma an, als frage er, was er tun solle.
Cian hatte sich entspannt und die Hände auf den Tisch gelegt. Er schaute das Mädchen mit völliger Gleichgültigkeit an.
»Na, Gott sei Dank ist die Angelegenheit geklärt«, sprach er allgemein in die Runde. »Dieser Irrsinn hat nichts mit mir zu tun. Ich bin für die Wahnsinnstaten dieses Mädchens nicht verantwortlich. Dominus illu-minatio ... Ich habe übrigens nur einmal mit ihr geschlafen.«
Mit funkelnden Augen fuhr Schwester Gorman zu ihm herum.
»Aber ich habe es doch für dich getan, für dich ... Verstehst du das nicht? Ich hab es getan, um dich zu retten! Damit wir beisammen sein konnten!«
Cian grinste.
»Für mich?« höhnte er. »Du bist verrückt. Wie kommst du auf die Idee, daß ich nach der einen Nacht noch etwas von dir wollte? Ihr Frauen macht immer aus allem einen ewigen Besitzanspruch.«
Schwester Gorman prallte zurück, als habe er ihr ins Gesicht geschlagen. Verwirrung trat in ihr Gesicht.
»Das kannst du doch nicht im Ernst meinen. In der Nacht hast du gesagt, du liebst mich.« Ihre Stimme wurde zu einem leisen Jammern.
Fidelma fühlte Mitleid mit der jungen Frau in sich aufsteigen, sie erinnerte sich an ihre eigene Jugend.
»Cian liebt nur Cian, Gorman«, sagte sie streng. »Er ist nicht fähig, jemand anderen zu lieben. Was dich angeht, Cian, so kannst du wohl behaupten, daß du für diese Greueltaten nicht verantwortlich bist, und im juristischen Sinne hast du recht. Aber das Gesetz ist nicht immer gleich mit der Gerechtigkeit. Die moralische Verantwortlichkeit, die du trägst, kannst du nicht leugnen. Für deine Selbstsucht, dein Ausnutzen der Gefühle anderer, insbesondere der Gefühle junger Frauen, bist du selbst verantwortlich. Darüber wirst du eines Tages Rechenschaft ablegen müssen, wenn nicht in nächster Zeit, dann in einem späteren Abschnitt deines Lebens.«
Cian errötete vor Ärger.
»Was ist falsch daran, daß man nach den Freuden des Lebens greift? Sollen wir alle römische Asketen werden und als Einsiedler in die Wüste gehen? Warum können wir nicht unser Leben genießen?«
In Bruder Tolas Gesicht spiegelte sich Zorn.
»Du sollst nicht töten, so lautet das Gebot unseres Herrn. Die Frau ist verurteilt, doch du, Cian, warst die Ursache ihres Wahnsinns und bist ebenso verurteilt.«
Cian wandte sich voller Verachtung zu ihm um.
»Nach welchem Gesetz? Zwing mir nicht deine engen Moralbegriffe auf. Sie gelten nicht für mich.«
Gorman stand mit hängenden Schultern da wie eine geprügelte Hündin; sie hatte die Arme um den Körper geschlungen, als finde sie darin Trost. Schluchzend wiegte sie sich auf den Fersen vor und zurück.
»Ich hab es für dich getan, Cian«, klagte sie leise. »Muirgel . Canair . selbst Toca Nia habe ich getötet, um dich vor seinen bösen Anschuldigungen zu schützen. Ich hätte sie auch getötet - Fidelma - und dann Crella. Die beiden wollten dir schaden. Du mußtest beschützt werden. Ohne sie hätten wir beisammen sein können. Sie störten unser Glück.«
Fidelma sprach sanft, fast freundlich mit ihr.
»Vielleicht erzählst du uns, wie du Schwester Ca-nair getötet hast. Einen Teil der Geschichte weiß ich von Guss, nun möchte ich den anderen Teil erfahren. Kannst du uns das erklären?«
Gorman kicherte. Der Laut ließ einen erschauern, denn es war das Kichern eines unschuldigen jungen Mädchens.
»Er liebte mich. Cian liebte mich - das weiß ich. >Ich will mich mit dir verloben in Ewigkeit; ich will mich mit dir vertrauen in Gerechtigkeit und Gericht, in Gnade und Barmherzigkeit. Ja, im Glauben will ich mich mit dir verloben ...
Fidelma erinnerte sich dunkel an diesen Text. Sie meinte, er stamme aus dem Propheten Hosea. Es war schon oft aus Hosea zitiert worden.
»Selbst wenn er es jetzt leugnet, er liebte mich so, wie ich ihn liebte. Wir hätten geheiratet, wenn nicht . Wenn diese anderen ihn nicht mit ihrer Wollust umgarnt hätten und . und .«
Cian zuckte verlegen die Achseln.
»Sie ist offensichtlich irre«, murmelte er. »Ich will mit der Sache nichts zu tun haben.«
»Gorman!« Fidelma wandte sich wieder an das Mädchen. »Sag uns, was mit Canair geschah. Wann hast du sie getötet?«
Irgendwie holte Fidelmas lockender Ton Gorman aus der Dunkelheit zurück, in die sie hinabsinken wollte, und sie hatte wieder einige lichte Momente.
»In der Nacht, bevor wir ausliefen, tötete ich sie in der Herberge in Ardmore.«
Sie machte diese Aussage ganz kühl und emotionslos. Sie stand still und starrte Cian mit leerem Blick an.
»Und alles nur, weil Canair eine Liebschaft mit Cian hatte?« warf Bruder Tola ein.
Das Mädchen lächelte seltsam.
»Sie überredete ihn mit vielen Worten
Und gewann ihn mit ihrem glatten Munde.
Er folgte ihr alsbald nach,
Wie ein Ochse zur Fleischbank geführt wird,
Und wie zur Fessel, womit man die Narren züchtigt,
Bis sie ihm mit dem Pfeil die Leber spaltet;
Wie ein Vogel zum Strick eilt
Und weiß nicht, daß es ihm das Leben gilt.«
»Hör auf mit dem Quatsch!« rief Cian. »Ich habe genug von diesem unsinnigen Gerede.«
Schwester Ainder beugte sich vor und schalt ihn mit frostiger Miene.
»Die Sprüche Salomos sind kein Quatsch, Bruder Cian. Du bist nicht würdig, solche Worte zu hören, und nicht geeignet, die Kutte eines Mönchs zu tragen.«
»Denkst du denn, ich hätte jemals diese blöden Lumpen tragen wollen?« schoß Cian zurück.
»Was ich heute vernommen habe, ist einfach widerlich«, antwortete Schwester Ainder. »Zumindest werde ich dem Abt von Bangor einen ausführlichen Bericht erstatten. Wenn du in deine Abtei zurückkehrst, wirst du nach allen Regeln bestraft werden, dafür werde ich sorgen.«
»Wenn ich jemals nach Bangor zurückkehre«, spottete Cian.
Schwester Gorman redete inzwischen weiter, als ob ihre Umgebung nicht mehr existierte.
Fidelma beugte sich vor und sprach langsam und deutlich mit ihr.
»Warum hast du Schwester Canair getötet?« wollte sie wissen.
»Canair hat ihn verführt, hat ihn von mir weggelockt«, erwiderte sie unsicher. »Sie mußte sterben.«
Cian öffnete den Mund und wollte widersprechen, doch Fidelma winkte ihm zu schweigen und sprach wieder zu dem Mädchen.
»Wie ist es geschehen? Soviel ich weiß, hatte Canair eure Gruppe verlassen, bevor ihr in Ardmore ankamt. Ihr habt alle in der Abtei des heiligen Declan übernachtet. Du warst dabei, nicht wahr?«
»Ich hörte, wie Canair sich mit Cian verabredete, daß sie sich später in der Herberge treffen wollten.«
Fidelma schaute Cian an, der einfach die Achseln zuckte.
»Das stimmt«, gab er zu. »Canair sagte, sie würde nach Mitternacht in der Herberge sein, nachdem sie ihre Freundin besucht hatte. Das war der Hauptgrund, weshalb sie nicht zur Abtei mitkam. Sie suchte eine Freundin auf, die in der Nähe wohnte. Erst danach fiel uns ein, daß wir uns ja verabreden könnten.«
»Gingst du zur Herberge, Cian?«
Er schwieg.
»Hast du dich mit Canair getroffen?« wollte Fidelma wissen.
Cian nickte finster, als gäbe er das nicht gern zu.
»Was geschah dann?«
»Als ich zu der Herberge kam, waren noch mehrere Leute zugange. Ich war nicht sicher, ob Canair schon da war, und während ich noch draußen abwartete, sah ich Muirgel und Guss ankommen. So wie sie sich benahmen, glaubte ich, daß sie dieselbe Absicht hatten wie wir.« Cian rümpfte die Nase. »Mich ging das nichts an. Wie gesagt, meine Affäre mit Muirgel war schon lange vorbei.«
»Sprich weiter«, sagte Fidelma, als er verstummte.
»Ich wartete ab. Als es spät wurde und Canair nicht auftauchte, ging ich zurück zur Abtei. Das ist alles.«
Fidelma wartete gespannt.
Cian lehnte sich zurück und verschränkte die Arme zum Zeichen, daß er fertig sei.
»Du sagst, das ist alles?« fragte Fidelma etwas ungläubig.
»Ich ging zurück zur Abtei«, wiederholte Cian. »Was sollte ich denn sonst tun?«
»Du machtest dir keine Sorgen, weil Canair nicht zu der Verabredung erschienen war?«
»Sie war kein Kind mehr. Sie konnte selbst entscheiden, ob sie kommen wollte oder nicht.«
»Fandest du es nicht seltsam, daß Canair auch am nächsten Morgen nicht am Kai war, um an Bord zu gehen? Warum hast du nicht Alarm geschlagen?«
»Warum sollte ich denn Alarm schlagen?« verteidigte er sich. »Canair erschien nicht, weder zu der Verabredung noch am Kai. Was ging mich das an? Es war ihre Entscheidung. Ich hatte keine Ahnung, daß sie umgebracht worden war.«
»Aber .« Ausnahmsweise fehlten Fidelma die Worte für diese selbstische Haltung Cians.
»Überhaupt, bei wem sollte ich denn Alarm schlagen?« fügte er hinzu.
Fidelma wandte sich wieder an Gorman.
»Kannst du uns sagen, was in der Herberge geschah?«
Gorman schaute sie mit leerem Blick an.
»Ich war dort als die rechte Hand von Gottes Rache. Die Rache ist ...«
»Gingst du dort hin, um Canair zu töten?« unterbrach sie Fidelma hart.
»Canair kam zu der Herberge. Ich verbarg mich im Schatten. Sie stand eine Weile in der Tür und schaute sich um. Sie wartete auf Cian, aber der war schon zur Abtei zurückgekehrt. Ich sah, wie er wegging. Dann faßte Canair einen Entschluß und trat ins Haus. Ich hörte, wie sie sich in der Herberge erkundigte, ob jemand nach ihr gefragt oder ein Mönch ein Zimmer genommen habe. Sie erfuhr, daß ein Mönch und eine Nonne ein Zimmer bezogen hatten, aber als man sie ihr beschrieb, verlor sie das Interesse. Ich blieb im Schatten und lauschte. Schließlich mietete sie ein Zimmer und ging hinein. Ich stand im Hof und überlegte. Dann sah ich oben ein Licht. Canair schaute hinaus und hoffte, Cian würde noch auftauchen. Ich glitt zurück in den Schatten. Sie sah mich nicht.«
Plötzlich wurde Gorman lebendig, und mit der weiteren Erzählung nahm ihr Gesicht den Ausdruck boshafter Freude an.
»Ich wartete eine Weile, und als es in der Herberge ruhig wurde, schlich ich hinein. Es war ganz leicht.«
»Verflucht sei das Gesetz, das es Herbergs wirten verbietet, ihre Türen vor Reisenden abzuschließen«, murrte Schwester Ainder. »Es läßt uns ohne Schutz.«
Das Mädchen fuhr fort, ohne sie zu beachten.
»Ich ging hinauf in Canairs Zimmer. Die Hure schlief, und ich erstach sie. Dann schlich ich so leise hinaus, wie ich gekommen war.«
»Warum hast du ihr Kruzifix mitgenommen?« fragte Fidelma und hielt es ihr hin, wie es der sterbenden Muirgel aus der Hand gefallen war.
Gorman kicherte erneut.
»Es war ... so hübsch, einfach hübsch.«
»Dann kehrtest du zur Abtei zurück?«
»Am nächsten Morgen waren Muirgel und Guss in der Abtei und frühstückten, als wären sie nie fort gewesen. Na, Muirgel konnte ich später noch bestrafen. Das tat ich dann auch.«
»Das tatest du auch«, wiederholte Fidelma. »Also blieb Canairs Leiche wahrscheinlich unentdeckt in der Herberge, bis wir ausgelaufen waren?«
Ihre Bemerkung war nicht direkt an Gorman gerichtet, und es war Murchad, der darauf antwortete.
»So wird es sein«, meinte er und rieb sich den Nak-ken. »Ich kenne Colla, den Herbergswirt. Er hätte sofort Alarm geschlagen, wenn er die Leiche entdeckt hätte.«
»Muirgel und Guss waren im Nebenzimmer und hörten Canairs Todesstöhnen. Das hat mir Guss berichtet«, erklärte Fidelma. »Sie sahen ihre Leiche und beschlossen dummerweise, zur Abtei zurückzukehren und nichts zu sagen. Erst als Muirgel an Bord kam, fiel ihr auf, daß Gorman das Kruzifix Canairs trug. Muirgel reimte sich zusammen, weshalb Gorman Ca-nair umgebracht hatte, und ihr wurde klar, daß sie als nächste an der Reihe wäre. Deshalb gab sie zuerst vor, sie sei seekrank, und dann, sie sei über Bord gespült worden. Aber Gorman traf sie zufällig, als sie Guss’ Kajüte verließ, und tötete sie. Muirgel packte das Kruzifix, das Gorman an sich genommen hatte. Muirgel lebte noch, als ich sie fand, und sie versuchte mich zu warnen, aber sie schaffte es nur noch, mir Canairs Kruzifix in die Hand zu drücken.«
»Also sind Canair, Muirgel und Toca Nia alle diesem Wahnsinn zum Opfer gefallen«, murmelte Schwester Ainder. »Die Mädchen, weil sie das Unglück hatten, von diesem«, sie zeigte mit einem Ruck des Kopfes auf Cian, »diesem entarteten Schuft verführt zu werden, und der Krieger aus Laigin, weil er Cian schwerer Verbrechen und Vergehen beschuldigte und dieses wahnsinnige Geschöpf darin eine weitere Gefahr erblickte. Was ist das hier nur für ein Irrsinn und eine Verderbtheit, Brüder?«
Cian stand zornig auf.
»Anscheinend gebt ihr jetzt mir die Schuld und nicht dieser blöden Metze!« zischte er.
Wieder fuhr Gormans Kopf zurück, als hätte er sie geschlagen.
»Mich hast du verlassen, dich entkleidet und gelegt Auf das breite Bett, das du bereitet hast,
Und Geschäfte gemacht .
Um der Freude willen, zusammen zu schlafen,
Und du hast unzählige Male Hurerei getrieben In der Hitze deiner Wollust .«
Dann fuhr ihre Hand in die Kutte und warf etwas. Murchad, der neben Cian stand, reagierte blitzschnell und schob den ehemaligen Krieger zur Seite. Ein Messer bohrte sich in den Balken hinter Cian.
Vor Wut über den Fehlwurf aufschreiend, nutzte Gorman die Gelegenheit, die durch die Verwirrung und Unentschlossenheit der anderen entstand, und stürmte aus der Kajüte und den Niedergang zum Deck hinauf.
Fidelma faßte sich als erste wieder und wollte ihr nacheilen, doch Murchad hielt sie zurück.
»Keine Sorge, Lady«, sagte er. »Wo soll sie denn hin? Wir sind mitten auf dem Ozean.«
»Ich fürchte nicht, daß sie uns entkommt«, entgeg-nete sie, »sondern daß sie sich etwas antut. Der Wahnsinn kennt keine Logik.«
Als sie an Deck kamen, rief ihnen Drogan am Steuerruder etwas zu und zeigte nach oben.
Sie schauten empor.
Mehr als sechs Meter über ihnen hing Gorman pendelnd in der Takelage.
»Halt!« rief Fidelma. »Gorman, nicht weiter! Du kannst nicht fliehen.«
Das Mädchen kletterte noch höher.
»Gorman, komm herunter. Wir finden eine Lösung für dein Problem. Komm herunter. Niemand tut dir etwas.« Noch während Fidelma ihr das zurief, merkte sie, wie hohl solche Versicherungen klingen mußten, selbst für jemanden, dessen Geist gestört war.
Murchad, der neben Fidelma stand, berührte ihren Arm und schüttelte den Kopf.
»Sie kann dich nicht hören bei dem Wind da oben.«
Fidelma starrte weiter hinauf. Der Wind zerrte am Haar und an der Kleidung des Mädchens, das in der Takelage hing. Murchad hatte recht. Dort hinauf trug kein Schall.
»Ich klettere ihr nach«, erbot sich Fidelma. »Jemand muß sie herunterholen.«
Murchad hielt sie zurück. »Du kennst die Gefahren nicht, wenn man bei so starkem Wind nach oben geht. Ich mach das.«
Fidelma zögerte, dann trat sie zurück. Ihr wurde klar, daß nur jemand, der in der Takelage sicherer war als sie, in der Lage wäre, die geistesgestörte junge Frau herunterzubringen.
»Erschreck sie nicht«, meinte sie. »Sie ist vollständig verrückt und zu allem fähig.«
Murchads Miene war düster.
»Sie ist nur ein kleines Mädchen.«
»Es gibt ein altes Sprichwort, Murchad: Wenn ein gesunder Hund mit einem tollen Hund kämpft, dann wird eher dem gesunden Hund ein Ohr abgebissen.«
»Ich passe auf«, versicherte er ihr und fing an zu klettern.
Er war noch nicht weit gekommen, als Schwester Ainder einen Warnschrei ausstieß. Fidelma blickte auf.
Gorman hatte mit den Füßen den Halt verloren, hing verzweifelt mit einer Hand an einem Tau und versuchte, mit der anderen die Takelage zu fassen.
»Halt dich fest!« schrie Fidelma, doch ihr Ruf verflog im Wind.
Auch Murchad hatte es gesehen und beeilte sich. Doch er war kaum einen Meter höher gekommen, als Gormans Griff sich löste und sie mit einem dumpfen Laut auf dem Deck aufschlug.
Fidelma war als erste bei ihr.
Sie brauchte nicht mehr nach dem Puls zu fühlen. Es war klar, daß Gorman sich bei dem Fall das Genick gebrochen hatte. Fidelma beugte sich nieder und drückte ihr die starren Augen zu. Schwester Ainder sprach ein Totengebet.
Murchad war wieder heruntergeklettert und trat zu ihnen.
»Es tut mir leid«, keuchte er. »Ist sie .«
»Ja, sie ist tot. Du kannst nichts dafür«, sagte Fidelma und erhob sich.
Cian schaute Bruder Dathal über die Schulter und auf die Leiche des Mädchens hinunter.
»Na«, sagte er erleichtert, »das wäre das.«