Fidelma mußte es aufgeben. Es hatte keinen Zweck, mit einer jungen Frau in diesem Zustand ein vernünftiges Gespräch führen zu wollen. Sie fragte sich, ob es noch eine andere Kajüte für sie gäbe. Jede andere wäre besser als eine, in der sie mit jemand eingesperrt wäre, der von weitgehend eingebildeten Ängsten geplagt wurde. Fidelma hatte Mitleid mit jedem, der krank war, aber nicht mit jemand, der sich helfen konnte und es nicht wollte. Sie beschloß, den Kajütenjungen Wenbrit zu suchen und ihm das Problem vorzutragen.
Als sie aus der Kajüte trat, kam Wenbrit gerade die Treppe herunter. Er grüßte sie mit einem Lächeln, und sie bemerkte, daß sich sein Verhalten ihr gegenüber leicht gewandelt hatte. Es war weniger vertraulich und weniger frech als zuvor.
»Verzeihung, Lady.« Fidelma erriet sofort den Grund für sein verändertes Benehmen und unterdrückte ihren Ärger darüber, daß Murchad verraten hatte, wer sie war. »Ich habe einen Fehler gemacht«, sagte er höflich. »Da du nicht zu den Pilgern aus Ulaidh gehörst, sollst du eine andere Kajüte bekommen.«
Fidelma erkannte das sofort als eine Lüge. Murchad hatte das erst beschlossen, als er wußte, wer sie war. Sie wollte keine besonderen Vorrechte. Doch die Unpäßlichkeit von Schwester Muirgel und die stickige Luft ließen die Vorstellung von einer eigenen Kajüte sehr verlockend erscheinen. Es war ein Zufall, daß ihr gerade das angeboten wurde, was sie suchte.
»Die Schwester, mit der ich die Kajüte teilen sollte, ist ziemlich krank«, gestand Fidelma. »Es wäre sicher schön, wenn ich eine Kajüte für mich allein hätte.«
Wenbrit grinste.
»Seekrankheit, was? Na, der fallen auch die Besten zum Opfer. Sie sah noch ganz gesund aus, als sie an Bord kam. Ich hätte nicht gedacht, daß sie krank würde.«
»Ich hab versucht, ihr zu klarzumachen, daß ihr davon nicht besser wird, wenn sie in einem engen Raum ohne Licht und Luft liegt«, erklärte Fidelma, »aber sie wollte nicht auf mich hören.«
»Auf mich auch nicht, Lady. Aber die Seekrankheit erwischt die Leute auf verschiedene Art.« Wenbrit verkündete seine Philosophie so ernst, als spräche er aus jahrelanger Erfahrung. Dann grinste er. »Warte hier, ich hole deine Plünnen.«
»Meine was?« Dieses unbekannte Wort hörte sie nun schon zum zweitenmal.
Wenbrit setzte eine Miene auf, als belehre er eine ziemlich begriffsstutzige Person.
»Dein Gepäck, Lady. Hier an Bord mußt du dich nun an den Matrosenjargon gewöhnen.«
»Aha. Plünnen. Also gut.«
Wenbrit klopfte an die Tür der Kajüte, die Fidelma gerade verlassen hatte, verschwand darin und kam nach wenigen Augenblicken mit ihrer Tasche zurück.
»Komm mit, Lady. Ich zeig dir deine Kajüte.«
Er stieg die Treppe zum Hauptdeck hoch.
»Befindet sich denn die Kajüte nicht auf diesem Deck«, fragte Fidelma, während sie ihm folgte.
»Es ist eine Kajüte im Vorderdeck frei. Die hat sogar Tageslicht. Murchad meinte, die wäre besser geeignet für .« Der Junge unterbrach sich.
»Und was hat Murchad gesagt?« fragte sie und kannte die Antwort schon.
Der Junge sah verlegen drein.
»Das soll ich dir nicht verraten.«
»Murchad hat einen großen Mund.«
»Der Kapitän möchte es dir nur recht bequem machen, Lady«, erwiderte Wenbrit leicht gekränkt.
Fidelma legte ihm die Hand auf den Arm. Sie sprach mit Entschiedenheit.
»Ich habe deinem Kapitän gesagt, daß ich keine besonderen Vorrechte möchte. Auf dieser Fahrt bin ich weiter nichts als eine Nonne. Ich möchte nicht, daß die anderen ungerecht behandelt werden. Als erstes hör auf, mich Lady zu nennen. Ich bin Schwester Fidelma.«
Der Junge sagte nichts und blinzelte nur leicht bei ihrem Tadel. Da tat Fidelma ihre kühle Haltung leid.
»Es ist nicht dein Fehler, Wenbrit. Ich habe Murchad gebeten, niemandem etwas zu sagen. Da du es nun weißt, wirst du mein Geheimnis bewahren?«
Der Junge nickte.
»Murchad wollte nur, daß du es bequem hast auf seinem Schiff«, wiederholte er und fügte entschuldigend hinzu: »Es ist auch nicht sein Fehler.«
»Du magst deinen Kapitän, nicht wahr?« Fidelma lächelte bei dem fürsorglichen Ton des Jungen.
»Er ist ein guter Kapitän«, erwiderte Wenbrit kurz. »Hier lang, Lady ... Schwester.«
Er führte sie über das Hauptdeck und an dem hohen Eichenmast vorbei, an dem das große Ledersegel noch im Winde schlug. Sie blickte empor und sah, daß auf die Vorderseite des Segels ein großes rotes Kreuz gemalt war, dessen Mitte von einem Kreis umschlossen wurde.
Der Junge bemerkte ihren Blick.
»Der Kapitän hat das aufmalen lassen«, erklärte er stolz. »In letzter Zeit fahren wir so viele Pilger, daß er meinte, das sei angebracht.«
Er ging weiter, und Fidelma folgte ihm zum hohen Bug des Schiffes, über den der schrägstehende Mast zum Himmel ragte, der an einer Querrahe das Steuersegel trug. Es war kleiner als das Großsegel und half den Kurs des Schiffes halten. Der Bug des Schiffes war ebenso wie das Heck erhöht und schuf damit Raum für Kajüten auf der Höhe des Hauptdecks. Wie am Heck führten einige Stufen zu dem Deck über ihnen. Zu beiden Seiten des Eingangs zu diesen Kajüten gab es viereckige vergitterte Öffnungen zum Hauptdeck.
Wenbrit öffnete diese Eingangstür und ging hinein. Fidelma folgte ihm und befand sich in einem kleinen Korridor mit drei Türen, eine rechts, eine links und eine geradezu. Der Junge öffnete die Tür zur Rechten, an Steuerbord - diesen Ausdruck hatte sich Fidelma gemerkt.
»Da sind wir, Lady«, verkündete er fröhlich und ließ sie eintreten.
Im Vergleich zur Helligkeit an Deck war auch diese Kajüte noch düster, aber nicht so sehr wie die erstik-kenden Kajüten unter Deck. Das vergitterte Fenster besaß einen Leinenvorhang, der Abgeschiedenheit gewährte, aber zurückgezogen werden konnte, um mehr Licht hereinzulassen. Die Ausstattung bestand aus einer einzelnen Koje, einem Tisch und einem Stuhl. Das war spärlich, aber hinreichend, und wenigstens hatte sie frische Luft. Fidelma sah sich anerkennend um. Das war mehr, als sie erwartet hatte.
»Wer schläft hier sonst?« fragte sie.
Der Junge setzte ihre Tasche auf der Koje ab und zuckte die Achseln.
»Manchmal haben wir besondere Passagiere«, wehrte er ab.
»Wer schläft in der Kajüte auf der anderen Seite?«
»An Backbord? Das ist Gurvans Kajüte«, antwortete der Junge. »Er ist der Steuermann, ein Bretone.« Er wies zum Bug, wo sie die dritte Tür gesehen hatte. »Der Abort ist da vorn, dort ist ein Eimer drin.«
»Benutzt den jeder?« fragte Fidelma und rümpfte leicht die Nase bei dem Gedanken, wie viele Menschen auf dem Schiff waren.
Wenbrit grinste, als er merkte, warum sie fragte.
»Hier ist die Benutzung begrenzt. Ich sagte schon, daß es noch einen Abort im Heck gibt, also solltest du nicht zu oft gestört werden.«
»Wie sieht es mit Waschen aus?«
»Waschen?« Der Junge runzelte die Stirn, als habe er daran noch nie gedacht.
»Wäscht man sich denn nicht an Bord dieses Schiffes?« hakte sie nach. Wie die meisten Leute ihres Standes war Fidelma gewohnt, abends ein Vollbad zu nehmen und sich morgens kurz zu waschen.
Der Junge grinste verschmitzt.
»Ich kann dir jeden Morgen einen Eimer Seewasser zum Waschen bringen. Aber wenn du baden meinst . Also wenn wir im Hafen liegen oder die See ruhig ist, kannst du außenbords ein Stück schwimmen. Bäder haben wir nicht auf der >Ringelgans<, Lady.«
Fidelma nahm das resigniert hin. Von ihren früheren Seereisen her hatte sie vermutet, daß Waschen an Bord keinen hohen Stellenwert besaß.
»Darf ich dem Kapitän sagen, daß du mit der Kajüte zufrieden bist, Lady?«
Fidelma verstand, daß der Junge besorgt war. Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.
»Ich sehe den Kapitän beim Mittagessen.«
»Aber die Kajüte?« fragte der Junge nach.
»Sie ist sehr zufriedenstellend, Wenbrit. Aber bemüh dich bitte, mich vor den anderen mit Schwester anzureden.«
Wenbrit legte die Hand zum Gruß mit den Knöcheln an die Stirn und grinste. Dann sauste er davon zu seinen anderen Pflichten.
Fidelma schloß die Kajütentür und schaute sich um. Das sollte also ihr Zuhause für die nächste Woche sein, vorausgesetzt, sie bekämen günstigen Wind. Es war gut zwei Meter lang und anderthalb Meter breit. Der Tisch, erkannte sie nun bei näherem Hinsehen, war eine klappbare Holzplatte an der Wand. In einer Ecke stand ein dreibeiniger Schemel, in einer anderen ein Eimer voll Wasser. Das war wohl zum Trinken oder Waschen gedacht. Sie probierte es mit dem Finger - es war Süßwasser, nicht Seewasser, also zum Trinken. Das Fenster in Brusthöhe ging auf das Hauptdeck hinaus. Es war etwa fünfzig Zentimeter breit und dreißig hoch und besaß zwei Stäbe. Eine Laterne hing an einem Metallhaken in einer Ecke, Zunderbüchse und Kerzenstummel lagen auf einem schmalen Wandbrett darunter.
Die Kajüte war gut eingerichtet.
Einen Moment fühlte sie sich schuldig, als sie an die Mönche und Nonnen dachte, die in stickige, lichtlose Kajüten unter Deck gepfercht waren. Doch das ging vorüber, und sie war dankbar, daß sie auf der Fahrt wenigstens frische Luft genießen konnte und ihr Quartier nicht mit jemandem teilen mußte.
Sie holte ihre Kleidung zum Wechseln aus der Tasche und hängte sie an den Haken an der Wand auf. Im Gegensatz zu manchen Frauen führte Fidelma keine Mittel zur Hautpflege mit sich - zum Beispiel roten Beerensaft zum Färben der Lippen -, wohl aber einen ciorbholg, eine Tasche für Kämme und Spiegel. Fidelma hatte gewöhnlich zwei verzierte Knochenkämme bei sich, nicht aus persönlicher Eitelkeit, sondern weil es bei ihrem Volke Brauch war, das Haar gut zu pflegen und nicht verfilzen zu lassen. Schönes Haar wurde sehr bewundert.
Wie die meisten Frauen ihres Standes schnitt und rundete Fidelma ihre Fingernägel sorgfältig, denn es galt als unanständig, eingerissene Nägel zu haben, doch ging sie nicht so weit wie manche, die sie rot färbten. Ebensowenig benutzte sie den Saft schwarzer oder blauer Beeren, um ihre Augenbrauen oder Lider dunkel zu färben. Sie rötete auch nicht ihre Wangen durch den Saft der Zweige oder Beeren des Holunders. Sie nahm ihre Körperpflege ernst, aber sie veränderte ihr natürliches Aussehen nicht.
Nun packte sie ihre ciorbholg aus und stellte sie auf den Tisch. Der sperrigste Teil ihres Gepäcks waren zwei taigh liubhair, kleine Bücher in Taschen. Als die irischen Mönche und Nonnen in den früheren Jahrhunderten begonnen hatten, auf die peregrinatio pro Christo zu gehen, hatten die gelehrten Schreiber in Irland erkannt, daß diese Missionare und Pilger liturgische Werke und religiöse Schriften brauchten, mit denen sie das Wort vom neuen Glauben unter den Heiden verbreiten konnten, und daß solche Bücher so klein sein mußten, daß sie sie bei sich tragen konnten. Fidelma hatte ein Meßbuch mitgebracht, das vierzehn mal elf Zentimeter groß war. Ihr Bruder, König Colgu, hatte ihr ein zweites Buch gleicher Größe als Lektüre während der langen Reise geschenkt. Es war ein »Leben des heiligen Ailbe«, des ersten christlichen Bischofs von Cashel und Schutzheiligen von Muman. Sorgfältig hängte sie die beiden Buchtaschen mit ihren Kleidern an die Haken.
Dann trat sie zurück, überschaute ihr Werk und lächelte. Vor dem Mittagessen hatte sie nun nichts mehr zu tun. Sie konnte sich in die Koje legen, den Kopf auf die gefalteten Hände, und zum erstenmal, seit sie die Tür von Schwester Muirgels Kajüte vor Cians bittendem Gesicht geschlossen hatte, einen Moment über den außerordentlichen Zufall des Wiedersehens mit ihm nachdenken.
Doch als sie sich dankbar ausstreckte, gab es ein hohes Quieken, und etwas Schweres, Warmes landete auf Fidelmas Bauch. Sie kreischte auf, und ein schwarzes Fellknäuel sprang mit einem weiteren seltsamen Schrei von ihrem Bauch herunter auf den Boden.
Zitternd richtete sich Fidelma auf. Eine schmale schwarze Katze saß da und betrachtete sie mit ihren hellgrünen Augen, und ihr glattes Fell leuchtete in den Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen. Sie gab ein leises »Miau« von sich, sah sie prüfend an und leckte dann ruhig eine Tatze, mit der sie sich danach rhythmisch über Ohr und Auge fuhr.
Es wurde außen an der Tür gekratzt, und dann ging sie auf und Wenbrit stand atemlos und besorgt da.
»Ich hörte dich schreien, Lady«, keuchte er. »Was ist?«
Fidelma schämte sich; sie wies auf die Ursache ihres Erschreckens.
»Das Tier hat mich überrumpelt. Ich wußte nicht, daß ihr eine Katze an Bord habt.«
Wenbrit entspannte sich und lächelte breit.
»Das ist die Schiffskatze, Lady. Auf einem solchen Schiff braucht man eine Katze, um die Ratten und Mäuse in Schach zu halten.«
Fidelma erschauerte leicht bei der Vorstellung von Ratten.
Wenbrit beruhigte sie. »Mach dir nichts draus. Sie kommen den Menschen nicht zu nahe, sondern bleiben unten im Kielraum und gehen höchstens an die Vorräte. Mäuseherr hat sie unter Kontrolle.«
Die Katze war inzwischen wieder auf Fidelmas Koje gesprungen, hatte sich fest zusammengerollt und schien zu schlafen.
»Sie fühlt sich hier anscheinend zu Hause«, bemerkte Fidelma.
Der Junge nickte.
»Es ist ein Kater, Lady«, verbesserte er sie. »Ja, Mäuseherr schläft gern in dieser Kajüte. Ich hätte dir das sagen müssen. Mach dir keine Sorgen, ich schaff ihn raus.«
Er trat vor, doch Fidelma hielt ihn zurück.
»Laß ihn in Ruhe, Wenbrit. Er kann die Kajüte mitbewohnen. Ich hab nichts gegen Katzen. Ich hab mich nur erschreckt, als sie ... als er auf mich sprang.«
Der Junge zuckte die Achseln.
»Du brauchst es mir nur zu sagen, wenn er dir lästig wird.«
»Wie nennst du ihn?«
»Luchtighern - Mäuseherr.«
Fidelma sah ihren neuen Reisegefährten lächelnd an.
»Das war der Name des Katers, der in der Höhle von Dunmore wohnte und alle Krieger des Königs von Laigin besiegte, die gegen ihn ausgesandt wurden. Erst als eine Kriegerin gegen ihn antrat, unterlag er.«
Der Junge sah sie verwundert an.
»Von so einem Kater habe ich noch nie gehört.«
»Es ist eine alte Sage. Wer hat ihm den Namen Luchtighern gegeben?«
»Der Kapitän. Er kennt alle die Geschichten, aber ich kann mich nicht erinnern, daß er mir diese erzählt hat.«
»Eine Katze hätte er vermutlich Baircne genannt, Schiffsheldin, nach der ersten Katze, die mit der Bark von Bresal Bec in Eireann landete.«
»Es ist aber ein Kater«, wandte der Junge ein.
»Ich weiß«, versicherte sie ihm. »Na, dann wollen wir den Mäuseherrn nicht länger stören,«
Als Wenbrit gegangen war, legte sich Fidelma vorsichtig wieder auf die Koje. Der Kater hatte sich behaglich zu ihren Füßen zusammengerollt, und seine warme, schnurrende Anwesenheit war seltsam tröstend. Fidelma schloß einen Moment die Augen und versuchte ihre wirren Gedanken zu ordnen. Woran hatte sie gedacht, bevor der Kater kam? Ach ja - an Cian. Ihr Mund wurde schmal. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Nur ihre Jugend und ihre Unerfahrenheit entschuldigten sie.
Sie hatte geglaubt, Cian sei für immer aus ihrem Leben verschwunden, als sie achtzehn Jahre alt war, und habe nur schmerzliche Erinnerungen hinterlassen.
Jetzt war er wieder da, und sie mußte ihn in dem engen Raum des Schiffes mindestens eine Woche lang ertragen. Ihre Emotionen machten ihr Sorge. Warum hatte sie so heftig reagiert, wenn sie die Erfahrungen ihrer Jugend überwunden hatte - wenn sie sie nicht seit den Tagen von Tara verfolgt hatten? Vielleicht lag es daran, daß sie sich nie richtig mit diesen Erfahrungen auseinandergesetzt hatte, wenn sie nun solchen Zorn empfand, als sie ihn wiedersah.
Cian! Wie hatte sie nur so naiv sein können! Wie konnte sie es zulassen, daß er sie so täuschte und ihre Seele zerriß?
Sie hatte ihm sein Verhalten mehrmals verziehen, selbst gegen den Rat ihrer besten Freundin Grian, die ihr empfahl, sie solle Cian wegschicken und ihn vergessen. Doch sie hatte ihn nicht weggeschickt, und sooft er sie betrog, schnitt es ihr ins Herz. Darunter litten ihre Leistungen im Studium, bis sie schließlich vor den alten Brehon Morann zitiert wurde.
An diese Szene erinnerte sie sich noch lebhaft und an das, was sie damals empfunden hatte.
Brehon Morann sah Fidelma streng, aber mitfühlend an.
»Du hast dir heute keine Ehre gemacht, Fidelma«, hatte er begonnen. »Anscheinend hast du die Fähigkeit verloren, dich auf den einfachsten Stoff zu konzentrieren.«
Trotzig blickte Fidelma zu ihm auf.
»Warte!« Brehon Morann hob die schmale Hand, als kenne er schon die Entschuldigungen, die ihr auf der Zunge lagen. »Sagt man nicht, daß der, der nicht tanzen kann, sich über die Unebenheit des Fußbodens beschwert?«
Fidelma lief rot an.
»Ich weiß, aus welchem Grunde du dich nicht auf deine Arbeit konzentriert hast«, fuhr der Alte in festem, ruhigem Ton fort. »Es geht mir nicht darum, dich zu verurteilen. Aber ich will dir die Wahrheit sagen.«
»Und was ist die Wahrheit?« fragte sie immer noch verärgert, obwohl ihr klar war, daß sie sich am meisten über sich selbst ärgerte.
Brehon Morann sah sie mit seinen furchtlosen grauen Augen an.
»Die Wahrheit ist, daß du herausfinden mußt, was die Wahrheit ist, und zwar bald. Sonst wirst du in deinem Studium keinen Erfolg haben.«
Fidelma preßte die Lippen zusammen.
»Heißt das, daß du mich durchfallen läßt?« fragte sie. »Daß du meine Arbeit verwirfst?«
»Nein. Du wirst dich selbst durchfallen lassen.«
Fidelma atmete tief aus. Einen Moment starrte sie Brehon Morann zornig an, dann wandte sie sich zum Gehen.
»Warte!«
Unwillig drehte sie sich wieder um. Brehon Morann hatte sich nicht gerührt.
»Eins will ich dir sagen, Fidelma von Cashel. Ab und zu geschieht es, daß ein alter Lehrer wie ich einen Schüler findet, dessen Fähigkeiten, dessen geistige Beweglichkeit so hervorragend sind, daß sein Beruf als Lehrer plötzlich gerechtfertigt erscheint. Die mühsame tägliche Arbeit, tausend widerstrebenden Köpfen Wissen einzuhämmern, findet eine mehr als ausreichende Belohnung darin, daß er einen Kopf entdeckt, der begierig und in der Lage ist, Wissen aufzunehmen und zu verarbeiten und dieses Wissen zur Besserung der Menschheit anzuwenden. Alle Jahre vergeblicher Mühen bekommen auf einmal ihren Sinn. Ich sage es nicht leichtfertig, wenn ich gestehe, daß ich glaubte, mein Entschluß, Lehrer zu werden, habe seine Rechtfertigung in dir gefunden.«
Fidelma starrte den alten Mann verblüfft an. So hatte er noch nie zu ihr gesprochen. Einen Augenblick ging sie wieder in Abwehrstellung: Ihr schneller Verstand sagte ihr, der Alte werde für dieses Kompliment eine Gegenleistung verlangen.
»Hast du nicht einmal gesagt, wer seinen Ehrgeiz durch Ausnutzung anderer befriedigt, der enthüllt damit die Schwäche seines eigenen Charakters und seiner eigenen Fähigkeiten?« gab sie verletzt zurück.
Brehon Morann verzog keine Miene, seine Lider senkten sich nur leicht.
»Fidelma von Cashel«, mahnte er leise, »du hast hervorragende Aussichten und Fähigkeiten. Verbaue dir deinen Weg nicht selbst. Erkenne dein Talent und verschwende es nicht.«
Fidelma wußte nicht, wie sie auf diese Worte reagieren sollte, denn sie paßten überhaupt nicht zu ihm.
Niemals hatte er ihres Wissens eine Schülerin um etwas gebeten, und nun empfand sie seinen Ton als bittend, als eine Bitte an sie.
»Ich muß mein eigenes Leben führen«, erwiderte sie trotzig.
Die Miene des Alten wurde hart, und er entließ sie mit einer abrupten Handbewegung.
»Dann geh fort und führe es. Komm erst wieder in meinen Unterricht, wenn du wirklich etwas lernen willst. Wenn du nicht Frieden mit dir selbst findest, hat es keinen Zweck, daß du zurückkehrst.«
Fidelma stürmte aus dem Zimmer.
Drei Monate vergingen, bis sie wieder vor Brehon Morann erschien, drei lange bittere Monate voller Herzeleid und Einsamkeit.