Kapitel 10

Fidelma traf auf mehrere Mitreisende, die sich auf Deck versammelt hatten, um zu sehen, was es mit der Unruhe auf sich hatte, die die Mannschaft der »Ringelgans« verbreitet hatte. Es war kurz vor Mittag, und die Sonne hatte den Seenebel größtenteils vertrieben.

Als Fidelma auf dem Hauptdeck erschien, kam gerade wieder ein angsterfüllter Ruf vom Mastkorb. Sie wandte sich zum Achterdeck um, wo Murchad neben den Rudergängern stand und nach Backbord schaute. Als sie seinem Blick folgte, sah sie durch letzte Nebelschleier hindurch, wie die Brandung weiß über eine Felsengruppe schäumte, auf der Kormorane wie düstere Wachposten standen. Dann merkte sie, daß das Meer ringsum mit solchen Riffen und winzigen Inseln übersät war.

Gurvan, der Steuermann, eilte an ihr vorbei zu seinem Kapitän.

»Wo sind wir hier?« rief ihm Fidelma zu.

»Sylinancim«, brummte der Bretone. Er sah nicht glücklich aus. »Der Sturm hat uns zu weit nach Südosten verschlagen.«

Also hatte Murchad recht gehabt, dachte sie, als er ihr sagte, der Sturm habe sie östlich von ihrem Kurs abgetrieben.

Weder Gurvan noch Murchad erhoben Einwände, als sie dem Bretonen auf das Achterdeck folgte und sich neben den finster dreinblickenden Kapitän stellte.

»Ich hätte nicht gedacht, daß die Sylinancim-Inseln so öde und schroff sind«, sagte sie und betrachtete etwas furchtsam die gezackten Felsen, die sie umgaben.

»Die Hauptinseln sind bewohnt und haben günstige Landeplätze«, erwiderte Gurvan. »Sonst vermeiden wir dieses Gebiet, indem wir weiter nach Westen ausholen. Ich glaube, wir haben den Broad Sound, eine sichere Durchfahrt, verpaßt, und nun treiben uns Wind und Gezeiten durch Crebawethan Neck.«

Der letzte Satz war an Murchad gerichtet, und der bestätigte mit einem Nicken die Ansicht des Steuermanns. Fidelma kannte diese Stellen nicht. Sie spürte aber die Besorgnis im Ton des normalerweise gelassenen Bretonen.

»Ist das eine schlechte Stelle?« fragte sie.

»Es ist jedenfalls keine gute Stelle«, antwortete Gurvan. »Wenn wir es durch das Neck schaffen, können wir südlich an den Retarrier Ledges vorbeigelangen - wieder anderen Felsen. Kommen wir von denen frei, können wir geraden Kurs auf Ushant nehmen. Wir sind dann einen vollen Tag vom Kurs ab, vorausgesetzt ...« Er merkte plötzlich, daß er mit einem Passagier sprach, und schaute Murchad schuldbewußt an. Der aber war zu beschäftigt, um es zu bemerken.

»Vorausgesetzt, wir schaffen es durch dieses Cre-bawethan Neck?« beendete Fidelma seinen Satz.

»Genau, Lady.«

Der Kapitän hatte das vom Wind geschwellte Segel sorgsam beobachtet und gab jetzt einem der Rudergänger das Zeichen, den Platz mit ihm zu tauschen. Ein paar Matrosen standen am Bug, um zu warnen, falls das Schiff den Felsen zu nahe kam.

»Buline festmachen!« schrie Murchad.

Zwei Matrosen rannten zur Luvseite und packten ein Tau, das zu dem viereckigen Segel lief. Damit zogen sie das Segel mehr nach Steuerbord, so daß der Wind die große Segelfläche voll erfaßte.

Murchad wandte sich an Fidelma.

»Lady, während dieser Durchfahrt hätte ich die Pilger lieber an Deck«, rief er ihr zu. »Würdest du bitte den übrigen sagen, sie sollten raufkommen?« Dann mußte er wieder auf das Ruder achten und überließ Gurvan die Erläuterung.

»Wenn . « Gurvan zögerte und zuckte dann die Achseln. »Wenn wir auf ein Riff auflaufen, dann . dann hätten die Pilger eher eine Chance, wenn sie an Deck sind.«

»Ist es so gefährlich?« fragte sie und las die Bestätigung in seinem Blick. Wortlos eilte sie zum Niedergang, wo Wenbrit stand.

»Der Kapitän will alle an Deck haben«, erklärte sie ihm.

Wenbrit drehte sich um und verschwand. Gleich darauf hörte sie, wie er die Pilger in ihren Kajüten auf-forderte, sich zu ihren Gefährten an Deck zu begeben. Die meisten taten es nur widerwillig. Wenbrit sagte ihnen, wo sie sich hinstellen sollten. Die meisten schienen die Gefahr nicht zu begreifen; auch als Fidelma den Kajütenjungen unterstützte, bewegten sie sich mit aufreizender Langsamkeit und murrten die ganze Zeit. Erst als einige sahen, wie nahe die Felsen und Riffe waren, wurden sie endlich ruhig und sich der Gefahr bewußt.

Die Pilger drängten sich auf dem Hauptdeck zusammen, lehnten sich an die Reling und beobachteten, wie die von gelblichweißer Gischt überschäumten schwarzen Felsen gefährlich dicht am Schiff vorbeiglitten.

Der Wind hatte aufgefrischt, und häßliche weiße kleine Schaumkronen bildeten sich auf der Brandung. Zischendes weißes Wasser umgab sie auf allen Seiten, und Fidelma begriff, daß es eine größere Gefahr für das Schiff darstellte als die hohen schwarzen Granitspitzen. Es ließ auf Felsen unter Wasser schließen, die dem Schiff in Sekundenschnelle den Boden aufreißen konnten.

Fidelma erschauerte. Der Sonnenschein wirkte hart und kalt. Weiße Wolken zogen sich in langen Streifen durch das Blau des Himmels. Ein merkwürdiger Glanz lag über der See und wurde so stark reflektiert, daß Fidelma sich die Augen reiben mußte. Sie wurden von den Salzkörnern der feinen Gischt gereizt. Der Wind ließ nach. Sie sah, wie das Segel erschlaffte und fast leblos hing.

Murchad blickte auf und formte Worte, vielleicht war es ein Fluch. Das konnte sie ihm verzeihen. Dann stürmte Gurvan nach vorn und schrie einen Befehl. Zwei Mann blieben am Bug, die anderen stellten sich mittschiffs auf in Erwartung weiterer Befehle.

Die Felsen glitten immer noch vorbei, denn das Schiff verlor nur langsam an Fahrt und wurde von den Gezeiten geschoben.

Fidelma sah sich um. Hier mitten auf See, vom Branden der Wellen an den Felsen umtost, fühlte sie sich plötzlich schrecklich verletzlich und allein. Sie fröstelte und wurde von düsteren Ahnungen gepackt.

Unwillkürlich murmelte sie etwas vor sich hin.

»Deus misereatur...«

Überrascht stellte sie fest, daß sie einen Psalm sprach.

»Gott sei uns gnädig und segne uns;

Er lasse uns sein Antlitz leuchten,

Daß man auf Erden erkenne seinen Weg,

Unter allen Heiden sein Heil.«

Sie umklammerte die Reling mit weißen Knöcheln, wenn der Bugspriet in die Gischt tauchte und sich wieder daraus erhob wie ein sich aufbäumendes Pferd am Start eines Rennens. Sie hörte ein Knarren, blickte auf und sah mit Entsetzen, daß sich der Großmast an der Spitze bog wie eine Peitsche; die Rahen ächzten, als der Wind die Segel zu zerfetzen drohte. Murchad stand breitbeinig da und hielt das Ruder mit beiden Händen, das Gesicht ausdruckslos vor Konzentration.

Fidelma wußte, wenn jetzt jemand über Bord fiel, hätte er keine fünf Sekunden mehr zu leben. Hoffnung gäbe es nicht. Sie alle mußten sich auf Murchads Seemannskunst verlassen. Fidelma war immer unglücklich, wenn sie nicht einen gewissen Einfluß auf das Geschehen ausüben konnte. Hier konnte sie nichts tun, und das belastete sie.

Murchad stand regungslos da, sein Haar flatterte im Wind, die Augen hatte er zusammengekniffen. Seine einzigen Befehle galten seinem Nebenmann am Ruder.

Sie gerieten nun in eine enge Durchfahrt zwischen einer mächtigen Felseninsel an Steuerbord und zerstreuten, verborgenen Felsen und Riffen an Backbord. Das Wasser umschäumte und umtobte sie, und das Schiff schien unaufhaltsam von der Flut in sein Verderben gerissen zu werden. Fidelma betete, daß Murchad und sein Rudergänger das Ruder in eisernem Griff hielten.

Der Wind pfiff schrill durch die Spieren und das Tauwerk der Takelage, und das Schiff schien völlig außer Kontrolle gefährlich dicht an den gezackten Granitspitzen vorbei zu taumeln und zu bocken, die es ringsum bedrohten. Doch Murchad und sein Rudergänger hielten durch.

Ein Ruf vom Bug her wurde von anderen Matrosen aufgenommen. Fidelma beugte sich über die Reling, um zu sehen, was es gäbe.

Sie schienen geradewegs auf einen mächtigen schwarzen Felsen zuzutreiben, der sich mitten auf ihrem Kurs erhob. Gelblichweißer Schaum strömte an seinen Flanken herab, wenn die Wellen sich an ihm brachen. Große Wogen donnerten über verborgene Riffe hinweg. Es war wie in einem brodelnden Kessel. Einen Moment schloß Fidelma die Augen und glaubte, das Schiff werde von diesem Mahlstrom in Stücke geschlagen. Sie kam fast von den Beinen, als sich das Deck schräg stellte. Sie dachte, sie seien auf die Felsen geraten. Ein Arm legte sich um sie, und Gurvan zischte ihr ins Ohr. »Laß nur nicht die Reling los!«

Als sie die Augen öffnete, sah sie, wie die Felsen im Wellental an der Seite des Schiffes vorbeischossen. Sie hätte sie mit der ausgestreckten Hand berühren können. Auch der hohe schwarze Felsen flog vorbei, und dann befanden sie sich mit erstaunlicher Plötzlichkeit in ruhigem Wasser.

Von den Männern am Bug kam ein Triumphschrei.

Gurvans grimmiges Gesicht verzog sich zu einem schiefen Grinsen der Erleichterung.

»Sind wir durch?« fragte ihn Fidelma.

»Durch das Neck sind wir durch«, erwiderte Gur-van ernst. »In der ruhigen See hier können wir nach Süden abdrehen.«

Er rief Wenbrit zu, die Passagiere dürften wieder unter Deck gehen, wenn sie wollten.

Fidelma stand noch da, hielt die Reling umklammert und starrte auf die vorbeigleitenden schwarzen Wogen, als Cian zu ihr trat.

»Wie lange willst du diese Feindseligkeit noch bei-behalten?« begann er herausfordernd. »Ich versuche doch nur, freundlich zu dir zu sein. Schließlich werden wir noch eine Weile auf dem Schiff zusammen sein.«

Mit einem scharfen Atemzug kam Fidelma in die Gegenwart zurück. Sie setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich aber anders.

»Nach Lage der Dinge, Cian«, sagte sie knapp und wandte sich ihm zu, »habe ich sowieso mit dir zu reden.«

Darauf war Cian offensichtlich nicht vorbereitet. Einen Moment schaute er sie mit blankem Erstaunen an, dann setzte er eine triumphierende Miene auf.

»Na also, ich wußte doch, daß du mal zur Vernunft kommst.«

Fidelma haßte diesen siegessicheren Blick. Die Illusion wollte sie ihm sofort nehmen. Ihr Ton war kalt.

»Murchad hat mich gebeten, eine offizielle Untersuchung des Verschwindens von Schwester Muirgel anzustellen, damit ihn ihre Verwandten nicht wegen Fahrlässigkeit verklagen können. Ich muß dir ein paar Fragen stellen.«

Cians Gesicht zog sich in die Länge. Das war eindeutig nicht die Antwort, die er erwartet hatte.

»Wie ich höre, hast du es übernommen, die Gruppe zu führen.«

Cians Mund wurde hart, und er hob das Kinn.

»Ist jemand anderes besser dafür geeignet?«

»Es steht mir nicht zu, deine Fähigkeiten zu beurteilen, Cian. Ich gehöre deiner Gruppe nicht an. Ich habe das nur gefragt, damit es in meinem Bericht klar wird.«

»Einen Führer muß es geben. Das sage ich schon, seit wir die Abtei verlassen haben.«

»Ich dachte, Schwester Canair war die Leiterin dieser Pilgerfahrt?« fragte sie.

»Canair wurde ...« Er hielt inne und zuckte die Achseln. »Canair ist nicht hier.«

»Warum warst du gestern nacht plötzlich so besorgt um die Sicherheit deiner Gruppe? Was hat dich veranlaßt, beim Morgengrauen nach allen zu sehen? Das war doch wohl nicht deine Aufgabe? Hat dich der Sturm aufgeschreckt?«

»Er hat mich nicht aufgeschreckt.«

Bei dieser glatten Verneinung hob Fidelma leicht die Brauen.

»Ich dachte, die Heftigkeit des Sturms hätte uns alle aufgeschreckt«, meinte sie.

»Du weißt doch, daß ich Krieger bin, oder vielmehr war. Ich bin an Situationen gewöhnt, in denen .«

»Also hast du den Sturm verschlafen?« unterbrach ihn Fidelma.

»Nicht völlig, aber .«

»Also wurdest du doch aufgeschreckt wie wir anderen auch?« Schadenfroh stellte Fidelma das klar. »Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Warum meintest du, du müßtest nach allen Mitgliedern deiner Gruppe sehen?«

»Wie ich schon sagte, irgend jemand mußte die Leitung übernehmen. Schwester Muirgel war dazu sichtlich nicht in der Lage.«

»Also wolltest du nur deinen Anspruch auf die Führung beweisen?«

Cian sah sie finster an.

»Ich wollte einfach sichergehen, daß niemand Probleme hatte.«

»Deswegen hast du dich zum Hüter ernannt und nach allen gesehen?«

»Wie sich herausstellte, war das auch gut so.«

»Es war also jeder sicher in seiner Kajüte, mit Ausnahme von Schwester Muirgel?«

»Da du es so genau nimmst«, höhnte er, »nein, es war nicht jeder in seiner Kajüte.«

»Kannst du das erläutern?«

»Als ich aufwachte, lag Bruder Bairne, mit dem ich eine Kajüte teile, nicht in seiner Koje. Später erfuhr ich, daß er auf dem Abort war.«

»Aha. War sonst noch jemand außer Muirgel nicht in seiner Kajüte?«

»Nein.«

»Wann hast du entdeckt, daß Muirgel fehlte?«

»Beinahe sofort. Wie du weißt, hat sie die Kajüte mir gegenüber. Als ich dort eintrat, war sie nicht da.«

»War ihre Tür verschlossen?«

»Warum sollte sie das sein?« fragte er stirnrunzelnd.

»Unwichtig. Sprich weiter. Was tatest du?«

»Ich verließ die Kajüte und traf im Gang Bruder Bairne, der vom Abort zurückkam. Er ging in unsere Kajüte.«

»Wo gingst du hin?«

»Ich schaute in Schwester Crellas Kajüte. Sie schlief.

Dann schaute ich bei Schwester Ainder und Schwester Gorman nach. Schwester Gorman war schon wach und angekleidet.«

»Hast du dich mit Gorman gestritten?«

Seine Miene wurde verschlossen.

»Weshalb sollte ich mich mit ihr streiten?«

»Schwester Ainder sagt, sie sei davon geweckt worden.«

»Quatsch! Ainder war ärgerlich, weil unsere Stimmen sie im Schlaf gestört hatten. Danach schaute ich in die anderen Kajüten, und jeder war an seinem Platz, mit Ausnahme von Schwester Muirgel.«

»Und dann?«

»Dann sah ich nach, ob bei dir alles in Ordnung war. Du schliefst noch. Da Schwester Muirgel als einzige nicht in ihrer Kajüte war, schaute ich noch auf dem Abort und in der großen Kajüte nach, in der wir essen. Dann traf ich Kapitän Murchad und teilte ihm mit, daß ich Schwester Muirgel nicht finden könne. Er sagte, er werde das Schiff absuchen lassen, und gab dem Bretonen Gurvan den Auftrag dazu. Als bei dieser Suche Muirgel auch nicht an Bord gefunden wurde, schloß Murchad, sie müsse vom Sturm über Bord gerissen worden sein. Er ließ Gurvan noch einmal nachsuchen, und damit bestätigten sich bekanntlich unsere schlimmsten Befürchtungen.«

»Du hast während der Nacht nichts gehört oder gesehen, was dieses Geschehnis erklären könnte?«

»Es ist so, wie ich gesagt habe, Fidelma.«

Sie schwieg nachdenklich.

»Wie gut kanntest du Schwester Muirgel?«

Cian sah sie mißtrauisch an.

»Wenn du etwas über Schwester Muirgel erfahren willst, mußt du Schwester Crella fragen. Sie war ihre beste Freundin und ihre Verwandte.«

»Ich möchte gern feststellen, was du über sie weißt. Du hast mir erzählt, daß du in die Abtei Bangor eingetreten bist. Ich hörte, du seiest häufig in Moville gewesen. Sicher hast du dort Muirgel kennengelernt.«

Cians Mund wurde schmal.

»Ich erledigte Botengänge für den Abt von Bangor und half im Obstgarten.«

»Hast du bei diesen Botengängen Schwester Muirgels Bekanntschaft gemacht?«

»Wie ich mich erinnere, hat Schwester Crella sie mir vorgestellt.«

»Hat sie dich auch mit Schwester Canair bekanntgemacht?«

»Das tat Muirgel. Warum?«

»Ich möchte nur wissen, wie du in diese Pilgergruppe gekommen bist.«

»Das habe ich dir schon gesagt.«

»Dann sag’s mir noch mal.«

»Ich kam dazu, weil ich von Mormohec gehört hatte, dem Heiler am Schrein des heiligen Jakobus.«

»Das hast du erwähnt. Deshalb hast du also Schwester Canair überredet, dich auf die Pilgerfahrt mitzunehmen, die sie organisiert hatte?«

»Von organisiert kann man kaum reden. Dieser Truppe fehlt Disziplin.«

»Es sind Pilger, Cian, keine Soldaten. Eins ist mir ein Rätsel. Wenn Schwester Canair die Organisatorin war, weshalb kam sie nicht an Bord, als das Schiff auslief?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Manche Leute kommen immer zu spät. Gibt es nicht ein altes Sprichwort, daß den Letzten die Hunde beißen? Die Letzte auch. Vielleicht dachte sie, daß die Gezeiten und der Wind auf sie warten.«

»Willst du damit sagen, daß Schwester Canair als unpünktlich bekannt war?«

»Das will ich nicht. Die Bemerkung sollte nur eine mögliche Erklärung für ihr Ausbleiben geben.«

»Trotzdem ist es eigenartig, daß die Leiterin der Gruppe nicht einmal das Schiff erreichte, nachdem sie die Schar den ganzen Weg von Ulaidh nach dem Süden von Muman geführt hatte.«

»Das Leben besteht aus eigenartigen Zufällen.«

»Wie zum Beispiel das vorzeitige Ableben von Schwester Muirgel?« ergänzte Fidelma ruhig.

»Das sehe ich nicht als eigenartig an. Schwester Muirgel war eine sehr starrköpfige Frau. Wenn sie sich zu irgend etwas entschlossen hatte, konnte nichts sie davon abbringen. So war es auch, als sie sich entschied, diese Fahrt mitzumachen.«

»Woher weißt du, daß jemand sie veranlassen wollte, ihre Absicht zu ändern?« Seine Anspielung interessierte Fidelma.

»Nachdem ich ihr davon erzählt und gesagt hatte, daß ich mich Schwester Canairs Gruppe anschließen wollte«, erwiderte Cian unbeeindruckt, »ging Schwester Muirgel sofort zu Schwester Canair und überredete sie, zwei andere Schwestern, die sie schon angenommen hatte, zurückzuweisen, damit Muirgel und Crella ihre Plätze einnehmen konnten. Schwester Mu-irgel besaß großen Einfluß auf andere.«

Fidelma überlegte.

»Du scheinst anzudeuten, daß Schwester Muirgel sich erst dazu entschloß, auf diese Pilgerfahrt zu gehen, als sie wußte, daß du auch daran teilnimmst.«

Cian schüttelte den Kopf.

»Das würde ich nicht sagen.«

»Ich habe jetzt den Eindruck, daß Schwester Muirgel größeren Einfluß auf die Zusammensetzung der Pilgergruppe hatte als Schwester Canair.«

»Die Reise wurde über Wochen vorbereitet. Ich vermute, daß Schwester Muirgel tatsächlich versuchte, Schwester Canair die Leitung abzunehmen. Darin wurde sie von Schwester Crella unterstützt, die ihr in allem folgte. Doch Schwester Canair war auch eine starke Persönlichkeit. Sie war den Befehlen unserer verlorenen Freundin mehr als gewachsen.«

»Du scheinst Schwester Muirgels Schwächen gut zu kennen.«

»Man lernt so manches, wenn ...« Cian suchte nach dem richtigen Ausdruck. »Wenn man mit Leuten reist. Man erkennt ihre Schwächen.«

»Du sagtest, du fändest ihren Tod nicht eigenartig wegen ihrer Starrköpfigkeit?«

»Damit meinte ich, daß sie querköpfig genug war, an Deck zu gehen trotz aller Ratschläge von anderen. Hatte sie sich etwas in den Kopf gesetzt, dann tat sie es auch.«

Fidelma horchte auf.

»Hat ihr jemand geraten, bei dem Sturm nicht an Deck zu gehen?« fragte sie rasch.

Cian schüttelte den Kopf.

»Ich habe das nur als Beispiel erwähnt. So war sie eben. Nun habe ich dir alles gesagt, was ich darüber weiß.«

Cian wandte sich ab, doch Fidelma hielt ihn zurück.

»Noch eins .«

Erwartungsvoll drehte er sich um.

»Ich möchte mehr darüber hören, unter welchen Umständen die Gruppe sich von Schwester Canair trennte. Ich verstehe immer noch nicht, wie sie die Abfahrt verpassen konnte und warum sie nicht mit den anderen an Bord kam.«

Cian sah sie einen Moment unsicher an.

»Warum interessierst du dich so für Schwester Ca-nair, wenn du nachforschst, wie Schwester Muirgel über Bord gehen konnte?« fragte er zurück.

»Schreib es meiner natürlichen Neugierde zu, Cian. Du weißt sicher noch, daß ich in jüngeren Jahren nicht neugierig war, bis mir beigebracht wurde, daß ich mich lieber für die Gründe und Motive des Verhaltens der Menschen interessieren sollte.«

Ein aggressiver Ausdruck trat auf Cians Gesicht, verschwand aber sofort wieder.

»Soweit ich mich erinnere, trennten wir uns von Schwester Canair bereits, bevor wir Ardmore erreicht hatten«, sagte er.

»Und warum?«

»Wir wollten die Nacht in der Abtei des heiligen Declan verbringen, aber Schwester Canair verließ die Gruppe etwa eine Meile vor der Abtei.«

»Weshalb verließ sie euch?«

»Sie erklärte uns, sie wolle sich mit einer Freundin oder Verwandten treffen, die in dieser Gegend wohnte. Sie versprach, in der Abtei wieder zu uns zu stoßen, in der wir übernachteten, doch sie kam nicht, und als sie zur angesetzten Abfahrtszeit des Schiffes auch nicht am Kai erschien, übernahm Schwester Muirgel die Leitung. Damit hatte sie endlich erreicht, was sie wollte - die Führung der Gruppe.«

»Diese Führung hat nicht lange gedauert«, meinte Fidelma trocken. »Zwei eurer Führerinnen haben diese Stellung nicht lange genossen. Bist du sicher, daß du sie immer noch anstrebst?« Ein spöttisches Lächeln umspielte ihren Mund.

Cian Gesicht spannte sich.

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

Fidelmas Lächeln wurde breiter.

»Das war nur eine Randbemerkung. Hab Dank für deine Zeit und deine Antworten.«

Wieder wandte sich Cian ab und zögerte dann. Mit einer seltsam hilflosen Geste hob er den gesunden Arm.

»Fidelma, wir sollten nicht Feinde sein. Diese Bitterkeit .«

Sie schaute ihn verächtlich an.

»Ich habe dir schon einmal gesagt, Cian, daß wir nicht Feinde sind. Feindschaft würde bedeuten, daß es noch Gefühle zwischen uns gäbe. Es gibt nichts mehr zwischen uns. Nicht einmal Bitterkeit.«

Schon als sie es aussprach, wußte Fidelma, daß sie log. Ihre gegenwärtige Verachtung für Cian bedeutete, daß es doch noch ein Gefühl gab - und das gefiel ihr gar nicht. Wenn sie wirklich das Leid, das er ihr zugefügt hatte, überwunden hätte, dann würde sie tatsächlich nichts mehr empfinden. Das beunruhigte sie mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte.

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