Kapitel 18

Fidelma erwachte plötzlich mit heftig klopfendem Herzen. Es war dunkel, und sie wußte nicht, was sie mit solch einem Ruck geweckt hatte. Sie fühlte sich erschöpft: Es war ein langer Tag gewesen. Alle waren an Land gegangen mit Ausnahme von Cian und Toca Nia, die unter Bewachung in ihren Kajüten bleiben mußten. Die schiffbrüchigen Matrosen waren an Land gebracht worden, und die Pilger und einige Besatzungsmitglieder hatten den Gottesdienst und das Fest des Justus besucht. Es wurde Mitternacht, bis alle wieder an Bord waren; in Lampaul war niemand über Nacht geblieben, denn Murchad hatte angekündigt, er werde mit der Ebbe am Morgen auslaufen. Die Vorräte waren schon alle geladen worden. Je schneller er Iberia erreichte, meinte er zu Fidelma, desto eher könne er seine beiden lästigen Passagiere nach Ardmore zurückschaffen.

Während Fidelma noch überlegte, was sie wohl geweckt hatte, hörte sie ein merkwürdiges kratzendes Geräusch, das aus dem Raum unter den Decksplanken ihrer Kajüte zu kommen schien. Verwundert richtete sie sich auf. Dann fiel ihr ein, was Wenbrit gesagt hatte. Ratten und Mäuse bevölkerten die unteren Räume des Schiffes.

Sie langte nach dem schweren warmen Knäuel am Fußende ihrer Koje und streichelte das schwarze Fell des Katers.

»Nun mach schon, Mäuseherr«, flüsterte sie. »Gehst du nicht ziemlich säumig deiner Pflicht nach?«

Der Kater rollte sich auf und streckte sich zu voller Länge. Es überraschte Fidelma immer wieder, wie lang sich Katzen machen konnten. Das Tier gab ein merkwürdig zirpendes Geräusch von sich, mehr wie ein Vogel denn wie eine Katze, glitt von der Koje, schlich durch den Raum, sprang zum Fenster hoch und verschwand.

Das Kratzen hörte bald auf, und Fidelma erschauerte leicht, als sie an die Ratten in der Dunkelheit unter ihr dachte, von denen sie nur einige Planken trennten. Sie horchte angespannt. Jetzt war alles still. Vielleicht waren sie fort. Mäuseherr löste seine nächtlichen Aufgaben anscheinend sehr gründlich.

Gähnend ließ sie sich wieder in die Kissen fallen und schlief sofort ein. Gleich darauf, so schien es ihr, wurde sie von Gurvan wachgerüttelt. Der Steuermann war sichtlich beunruhigt.

»Komm bitte in die nächste Kajüte, Lady«, flüsterte er kaum hörbar.

Fidelma zog sich die Kutte um die Schultern und schwang sich aus der Koje. Gurvans Miene hatte ihr deutlich gesagt, daß keine Zeit mit unnützen Fragen zu verlieren war. Ihr fiel ein, daß es sich um Gurvans Kajüte handelte, in der Toca Nia eingesperrt war.

Gurvan stand im Gang und hielt ihr die Tür zu seiner Kajüte auf. In dem kleinen Raum brannte eine Laterne, denn die Morgendämmerung hatte noch nicht begonnen. Fidelma blickte hinein.

Toca Nia lag auf dem Rücken mit weit offenen Augen, seine Brust blutig zerfetzt.

»Mehrere Einstiche in der Herzgegend, würde ich sagen«, murmelte Gurvan hinter ihr, als brauche sie eine Erklärung.

Fidelma stand einen Augenblick wie gelähmt da.

»Ist Murchad verständigt?« fragte sie dann.

»Ich habe ihm Bescheid sagen lassen«, antwortete Gurvan. »Vorsicht, Lady, auf dem Boden ist viel Blut.«

Sie schaute hin und sah, daß der ganze Boden blutig war. Es war schon jemand hineingetreten, vermutlich Gurvan, aber ihr kam ein Gedanke.

»Bleib dort stehen«, ermahnte sie ihn. Dann ging sie zur Tür und verfolgte die klebrigen Spuren auf dem Boden. Offensichtlich war Gurvan über die ersten Abdrücke gelaufen, die von dem Mörder stammen mußten. Die Abdrücke gingen bis zu ihrer Kajütentür und nicht weiter. Das verblüffte Fidelma. Sie hätte gedacht, die Spuren würden zum Ausgang auf das Hauptdeck führen. Sie öffnete die Tür ihrer Kajüte. Ein paar schwächere Abdrücke zeigten, wo Gurvan bei ihr eingetreten war. Der Mörder hatte wohl erkannt, daß er eine Spur hinterließ, und sich das Blut von den Sohlen abgewischt, bevor er vom Tatort verschwand.

Instinktiv schaute sie in dem Beutel nach, in den sie das Messer getan hatte, das ihr Crella gegeben hatte. Es war fort. Sie ging zurück zu Gurvan.

»Schick am besten mal jemand zu Cians Kajüte«, schlug sie vor. Unter den gegebenen Umständen war dies das Naheliegendste.

Im selben Moment kam Murchad den Gang entlang. In seiner Miene drückte sich tiefe Besorgnis aus. Er hatte Fidelmas Anweisung gehört.

»Ich habe schon nach Cian geschickt, Lady. Sobald ich die Nachricht bekam, wußte ich, daß du ihn sprechen wolltest. Aber er ist nicht mehr an Bord.«

»Was?« Fidelma hätte nie gedacht, daß Cian so etwas Dummes tun würde. Dann wurde ihr klar, daß sie nie ganz begriffen hatte, was in Cian vorging und welcher Logik er folgte.

»Drogan ist zu seiner Kajüte gegangen. Der Mann, der dort Wache halten sollte, schlief. Bairne, mit dem er die Kajüte teilt, erklärte, er habe nicht gehört, daß er hinausging. Ich glaube, meinem Matrosen können wir keinen Vorwurf machen. Wir sind es nicht gewohnt, Gefangene zu bewachen.«

Fidelma war nicht an Entschuldigungen interessiert.

»Wir müssen das noch einmal nachprüfen«, sagte sie bestimmt. »Würdest du das bitte tun, Gurvan?«

Der Steuermann ging sofort daran.

»Es scheint ziemlich klar, was passiert ist«, murmelte Murchad mit einem Blick auf Toca Nias Leiche.

»Cian hat seinen Ankläger getötet und ist an Land geflohen.«

Das schien die einzige logische Erklärung zu sein. Fidelma seufzte resigniert.

»So sieht es aus«, gab sie zu. »Aber er muß doch wissen, daß die Insel zu klein ist, als daß er sich darauf verstecken könnte. Es ist und bleibt eine Insel. Früher oder später finden wir ihn. Ich ziehe mich an. Wir müssen an Land und sofort nach Cian suchen.«

Murchad, Gurvan und Fidelma stiegen am Kai aus dem Skiff. Niemand regte sich im grauen Licht des frühen Morgens. Sie gingen sogleich den Pfad zur Kirche hinauf, und zu ihrer Überraschung löste sich eine Gestalt aus dem Schatten der Tür und begrüßte sie. Es war Pater Pol. Seine Miene war ernst.

»Ich weiß, wen ihr sucht«, sagte er.

Fidelma antwortete mit gleichem Ernst.

»Hat er dir gesagt, weshalb er hierher geflohen ist?« fragte sie.

»Ich weiß, wessen man ihn beschuldigt«, erwiderte der Priester.

»Weißt du, wo er ist? Es würde uns helfen, wenn du uns das sagen kannst, dann brauchen wir nicht Zeit damit zu verschwenden, die Insel nach ihm abzusuchen.«

»Das braucht ihr nicht, Schwester. Solche eine Suche würde ich auch nicht erlauben. Bruder Cian ist in der Kirche.«

Sie wunderte sich über den barschen Ton des Priesters, der ganz anders war als am Vortag.

»Dann bringen wir ihn zurück auf die >Ringelgans<, damit er sich verteidigen kann.«

Der Priester hob die Hand und gebot ihnen Einhalt.

»Das kann ich nicht dulden.«

Fidelma schaute Pater Pol überrascht an.

»Du kannst es nicht dulden?« wiederholte sie belustigt. »Gestern sagtest du noch, Cians Lage ginge dich nichts an. Jetzt sagst du, wir dürfen Cian nicht auf das Schiff zurückbringen. Was ist das für eine Logik?«

»Ich habe das Recht, euch daran zu hindern, Cian fortzuführen.«

»Das Verbrechen wurde auf Murchads Schiff begangen, nicht auf deiner Insel. Die Gerichtsbarkeit liegt eindeutig bei Murchad.«

Der Priester schien einen Moment verwirrt, dann kreuzte er die Arme in unbeweglicher Haltung.

»Erstens hat Bruder Cian in diesem Hause Asyl gesucht«, verkündete er. »Zweitens liegt das sogenannte Verbrechen, dessen man ihn beschuldigt, fünf Jahre zurück und wurde Hunderte von Meilen entfernt begangen. Ihr habt keine Befugnis, über solche Anschuldigungen an Bord eures Schiffes zu verhandeln. Das hast du gestern selbst gesagt.«

Murchad kratzte sich den Hinterkopf und schaute Fidelma ratsuchend an.

»Asyl?« fragte er unsicher. »Ich verstehe nicht ganz ...«

Pater Pol unterbrach ihn.

»Schwester Fidelma wird dir erklären, daß es im vierten Buch Mose steht, daß der Herr zu Mose sprach: >Und ihr sollt Städte auswählen, daß sie Freistädte seien, wohin fliehe, wer einen Totschlag unversehens tut. Und sollen unter euch solche Freistädte sein vor dem Bluträcher ...<«

»Wir wissen, was im vierten Buch Mose steht, Pater Pol«, pflichtete ihm Fidelma ruhig bei. Murchad erklärte sie: »Dieses Kirchenasyl ist vergleichbar unserem eigenen Gesetz Nemed Termann, nach dem jemand, der einer Gewalttat angeklagt ist, selbst wenn er schuldig ist, Asyl suchen kann für eine gewisse Zeit, bis eine ordentliche Verhandlung über seinen Fall stattgefunden hat. Doch unser Gesetz, Pater«, damit wandte sie sich wieder an Pater Pol, »sieht auch vor, daß ein Schuldiger, der Asyl sucht, dadurch nicht in die Lage versetzt wird, schließlich der Gerechtigkeit zu entgehen.«

Pater Pol neigte zustimmend den Kopf.

»Das verstehe ich, Schwester. Aber hier gelten nicht die Gesetze von Eireann. Unser Gesetz ist Gottes Gesetz, wie es uns in der Heiligen Schrift gegeben ist. Im zweiten Buch Mose heißt es: >Wer einen Menschen schlägt, daß er stirbt, der soll des Todes sterben. Hat er ihm aber nicht nachgestellt . so will ich dir einen Ort bestimmen, dahin er fliehen soll.< An diesem Ort findet er Asyl so lange, bis er eine ordentliche Verteidigung vorbereiten kann gegen die, die an ihm Rache nehmen wollen.«

»Pater Pol, wir wollen keine Rache. Aber Bruder Cian muß sich gegen den Vorwurf dieses Verbrechens verteidigen.«

»Er hat in ordentlicher Weise um Asyl nachgesucht, und es ist ihm gewährt worden.«

Fidelma überlegte rasch.

»In ordentlicher Weise?« fragte sie.

Sie war bemüht, sich so zu verhalten, wie es sich für eine dalaigh geziemte, also ohne Emotionen zu handeln und nur auf die Tatsachen zu achten, aber es war Cian, um den es ging, nicht irgendein Fremder, der vor dem Gesetz floh. Cian! Mochte sie ihn jetzt auch hassen, einmal hatte sie ihn geliebt. Sie mußte ihre gefühlsmäßige Bindung außer acht lassen, denn sie traute ihren Gefühlen nicht mehr. Sie durfte nur an das Gesetz denken. Nur auf das Gesetz kam es jetzt an.

»Er hat in ordentlicher Weise um Asyl ersucht?« wiederholte sie ihre Frage.

Pater Pol antwortete nicht, denn er merkte, daß sie auf etwas hinsteuerte.

»Du hast gerade aus dem zweiten Buch Mose zitiert, aber nicht bis zum Ende. Der nächste Vers lautet: >Wo aber jemand an seinem Nächsten frevelt und ihn mit List erwürgt, so sollst du denselben von meinem Altar nehmen, daß man ihn töte.< Stimmt das nicht?«

»Gewiß. Aber wo war im Krieg die List? Im Krieg kann getötet werden. Ein Krieger mag vom Kampffieber gepackt werden und die Beherrschung verlieren. Wenn das bei Cian der Fall war, muß er für die Folgen einstehen. Aber ich glaube kaum, daß man ihm Arglist in seinem Handeln unterstellen kann.«

»Wir sprechen nicht von den Verbrechen, die Toca Nia Bruder Cian vorwarf aus der Zeit, als er noch Krieger war«, erwiderte sie langsam. »Es geht darum, daß Toca Nia heute morgen in seiner Koje auf Mur-chads Schiff ermordet wurde zu der gleichen Zeit, als Bruder Cian von dort floh und bei dir um Asyl bat.«

Pater Pol erschrak und ließ die Hände sinken.

»Davon hat er nichts gesagt.«

Fidelma beugte sich vor wie eine Jägerin, die ihre Beute vor sich sieht.

»Dann darf ich dich an das Gesetz erinnern, das im Buche Josua steht. >Und der da flieht zu der Städte einer, soll stehen draußen vor der Stadt Tor und vor den Ältesten der Stadt seine Sache ansagen.< Hat er denn draußen gestanden und seine Sache in bezug auf den Mord an Toca Nia angesagt?«

Pater Pol war sichtlich beunruhigt.

»Davon hat er nicht gesprochen. Er suchte um Asyl nach nur wegen des Verbrechens, das ihm Toca Nia zur Last legte.«

»Dann hat er nach dem Kirchenrecht, auf das du dich beziehst, nicht in ordentlicher Weise seinen Fall dargelegt und hat keinen Anspruch auf Asyl.«

Pater Pol war hin und her gerissen. Schließlich entschied er sich, trat zurück und gab ihnen mit einer Geste den Weg frei.

»Wir werden mit Bruder Cian darüber reden«, sagte er ruhig.

Cian saß in dem schattigen Garten hinter der Kirche, als Pater Pol Murchad und Fidelma zu ihm führte. Er stand auf und blickte nervös von Murchad zu Fidelma.

»Mir ist Asyl gewährt worden«, verkündete er. »Das könnt ihr Toca Nia sagen. Ich bleibe hier. Du und deine Gesetze, ihr könnt mich hier nicht erreichen.«

Murchad öffnete den Mund, doch Fidelma winkte ihm zu schweigen.

»Meinst du wirklich, daß Toca Nia darauf hören wird?« fragte sie unschuldig.

»Du kannst doch mit Worten umgehen, Fidelma. Erklär ihm das Asylgesetz.«

»Ich fürchte, Toca Nia interessiert sich nicht mehr für das Gesetz.«

Cian stutzte.

»Meinst du damit, er zieht seine Anschuldigung zurück?«

Fidelma schaute Cian tief in die Augen. Sie las Mißtrauen darin, sogar Hoffnung, aber weder Verstellung noch Hinterlist.

»Ich meine damit, daß Toca Nia tot ist.«

Cians Reaktion verriet seine unverkennbare Überraschung.

»Tot? Wie ist das möglich?«

»Toca Nia wurde ermordet etwa zur gleichen Zeit, als du vom Schiff geflohen bist.«

Cian trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Sein Erschrecken war echt, das ließ sich nicht spielen.

Pater Pol zuckte hilflos die Achseln.

»Das bringt mich in eine unangenehme Lage, Bruder. Nach unserem Kirchenrecht habe ich dir Asyl in dieser Kirche gewährt, aber nur wegen der gegen dich erhobenen Beschuldigungen. Jetzt jedoch ...«

Cian blickte verwirrt von dem Priester zu Fidelma.

»Aber ich weiß nichts von Toca Nias Tod. Was meint er denn?« fragte er sie.

»Leugnest du, daß es deine Hand war, die die tödlichen Streiche gegen Toca Nia führte?«

Cians Augen weiteten sich in noch größerer Verwirrung.

»Meinst du das im Ernst? Soll das heißen . daß ich des Mordes an ihm beschuldigt werde?«

Fidelma blieb ungerührt.

»Du streitest es also ab?«

»Natürlich streite ich das ab. Es stimmt nicht«, rief Cian empört.

Fidelma setzte eine spöttische Miene auf.

»Willst du behaupten, daß der Mord ein Zufall war? Daß du nichts davon weißt?«

»Nenn es, wie du willst. Ich habe ihn nicht getötet.«

Fidelma setzte sich auf die Bank, von der Cian aufgestanden war.

»Du mußt zugeben, wenn das ein Zufall war, dann kommt er dir äußerst gelegen. Vielleicht erklärst du uns, warum du von dem Schiff geflohen bist?«

Cian setzte sich ihr gegenüber und beugte sich vor. Seine Haltung war eindeutig bittend.

»Ich habe das nicht getan, Fidelma«, sagte er mit ruhigem Nachdruck. »Du kennst mich doch. Ich gebe zu, daß ich im Krieg getötet habe, aber ich habe nie kaltblütig gemordet. Niemals! Du mußt doch wissen, daß ich nie .«

»Ich bin dalaigh, Cian«, unterbrach sie ihn scharf.

»Berichte mir, was vorgefallen ist, so wie du es weißt. Weiter brauche ich nichts zu hören.«

»Aber ich weiß nichts. Ich kann dir nichts berichten.«

»Warum bist du dann von der >Ringelgans< geflohen und hast hier um Asyl nachgesucht?«

»Das sollte doch klar sein«, antwortete Cian.

»Falls du nicht Toca Nia umgebracht hast, würde ich sagen, daß es überhaupt nicht klar ist.«

Cian errötete vor Zorn.

»Ich habe nicht ...« setzte er an und stockte. »Ich bat hier um Asyl, weil ich Zeit zum Nachdenken brauchte. Als du mich nach Toca Nias Beschuldigung verhört hast, habe ich begriffen, daß du es ernst meintest, daß du und Murchad mich festsetzen, nach Laigin zurückschaffen und vor Gericht bringen wolltet. Sicher wäre ich wegen des Massakers in Rath Bile verurteilt worden.«

»Wie ich mich erinnere, hast du das Massaker zugegeben.«

»Als Tat ja, aber nicht als Verbrechen. Es war Krieg, und ich tat nur, was mir befohlen worden war.«

»Dann solltest du auch bereit sein, dich gegen die Anschuldigung zu verteidigen. Wenn du nicht des Mordes schuldig bist, solltest du auf das Gesetz vertrauen.«

»Ich brauchte Zeit zum Überlegen. Die Beschuldigung kam so plötzlich.«

Murchad unterbrach ihn barsch.

»Viel vordringender ist, daß man dich jetzt des Mordes an Toca Nia beschuldigt und du dich dagegen wehren mußt.«

Fidelma war derselben Meinung.

»Solange kein anderer Zeuge auftritt und dich anklagt, sind Toca Nias Beschuldigungen mit ihm gestorben. Deswegen können wir dich weder festsetzen noch dich zur Rechenschaft ziehen, denn er hat sie nicht gerichtlich zu Protokoll gegeben.«

Cian war total verblüfft.

»Heißt das, die Beschuldigung wegen Rath Bile fällt weg?«

»Toca Nia hat nicht offiziell Anklage erhoben, sie wurde weder niedergeschrieben noch durch Zeugen bestätigt. Die mündliche Beschuldigung eines Toten, falls sie nicht als sein letztes Wort zu verstehen und als solches von Zeugen beglaubigt ist, kann nicht als Beweismittel gegen dich verwendet werden.«

»Dann bin ich also von dieser Beschuldigung frei?«

»Es sei denn, es gibt andere Zeugen aus Rath Bile, die auftreten und gegen dich aussagen. Da keine hier sind, bist du davon frei.«

Auf Bruder Cians Gesicht trat ein breites Lächeln, doch dann besann er sich und wurde wieder ernst.

»Ich schwöre bei der Heiligen Dreifaltigkeit, daß ich Toca Nia nicht getötet habe.«

Fidelma hörte die Wahrheit aus seiner Stimme heraus, doch ihr persönliches Mißtrauen ließ sie an seinen Unschuldsbeteuerungen zweifeln. Was hatte Horaz einst gesagt? Naturam expellas furca, tamen usque re-curret - Treib die Natur mit der Forke hinaus: Stets kehret sie wieder. Cian war ein geborener Betrüger, und an der Wahrheit seiner Worte mußte man immer zweifeln. Mit einem leichten Schuldgefühl stellte sie fest, daß sie ihn schon wieder aus ihrem persönlichen Empfinden heraus verurteilte.

Sie setzte zum Sprechen an, als in der Nähe ein lauter Ruf ertönte.

Pater Pol sah stirnrunzelnd auf, als einer der Inselbewohner, ein schmächtiger Bursche in Fischerkleidung, um die Ecke der Kirche gerannt kam. Bei ihrem Anblick blieb er jäh stehen und rang nach Luft.

»Was ist los, Tibatto?« fragte Pater Pol unwirsch. »Du solltest wissen, daß man nicht so ungestüm zum Haus Gottes kommt.«

»Angelsachsen!« keuchte der junge Mann atemlos. »Angelsächsische Räuber!«

»Wo?« fragte der Priester nur, während Murchad entsetzt herumfuhr und nach dem Messer im Gurt langte.

»Ich war auf der Landspitze oberhalb Rochers .«

»An der Nordküste«, warf Pater Pol zu ihrer Erklärung dazwischen.

»Da sah ich ein angelsächsisches Schiff nach Süden auf die Bucht zu kreuzen. Es ist ein Kriegsschiff mit einem Blitz auf seinem Segel.«

Murchad wechselte einen raschen Blick mit Fidelma, die ebenso wie Cian aufgesprungen war.

»Wie bald werden sie in der Bucht sein?« fragte der Priester mit düsterer Miene.

»In einer Stunde, Pater.«

»Schlag Alarm. Wir führen die Leute ins Innere der Insel«, entschied er. »Komm, Murchad, bring deine Mannschaft und die Pilger an Land. Es gibt Höhlen, in denen wir uns verstecken und schlimmstenfalls auch verteidigen können.«

Murchad schüttelte entschlossen den Kopf.

»Ich überlasse mein Schiff keinem Piraten, ob Angelsachse, Franke oder Gote! Die Gezeiten wechseln gerade. Ich segle aus der Bucht heraus. Wenn einer meiner Passagiere an Land gehen will, ist das seine Entscheidung.«

Pater Pol starrte ihn einen Moment entgeistert an.

»Du schaffst es auf keinen Fall, in Fahrt zu kommen, bevor sie die Mündung der Bucht blockieren. Wenn sie schon auf der Höhe von Rochers sind, brauchen sie nur noch eine halbe Stunde, bis sie das Vorgebirge umrundet haben.«

»Lieber bin ich auf dem Schiff, als daß ich hier auf der Insel sitze und darauf warte, bis sie landen und alles niedermachen«, erwiderte Murchad. Er wandte sich an Gurvan. »Ist noch jemand an Land außer uns?«

»Niemand, Kapitän.«

»Kommst du mit, Lady?« fragte er Fidelma.

Sie zögerte keinen Augenblick.

»Wenn du versuchst, ihnen zu entkommen, dann bin ich dabei, Murchad.«

»Also los!«

Cian hatte daneben gestanden, während sie das besprachen. Jetzt trat er vor.

»Wartet! Nehmt mich mit.«

Murchad schaute ihn überrascht an.

»Ich dachte, du suchst Asyl«, spottete er.

»Ich sagte doch schon, ich suchte um Asyl nach, weil ich Zeit haben wollte, meine Verteidigung gegen die Beschuldigungen Toca Nias vorzubereiten.«

»Aber jetzt mußt du dich womöglich gegen die Beschuldigung, ihn ermordet zu haben, verteidigen«, gab ihm Fidelma zu bedenken.

»Darauf lasse ich es ankommen. Aber ich möchte nicht hier wehrlos diesen Räubern ausgeliefert sein. Nehmt mich mit.«

Murchad zuckte die Achseln. »Wir haben keine Zeit zu verschwenden. Komm mit oder bleib hier. Wir gehen jetzt.«

Ein zorniges, warnendes Hornsignal ertönte. Als sie die Kirche verließen, sahen sie, wie die Leute in alle Richtungen auseinanderrannten, Frauen mit schreienden Kindern, Männer mit Waffen, die sie gerade zur Hand hatten.

Murchad verabschiedete sich von dem Priester.

»Viel Glück, Pater Pol. Ich glaube, dieses angelsächsische Schiff hat es hauptsächlich auf uns abgesehen, nicht auf deine Insel. Wir sind ihm schon einmal entkommen, vielleicht schaffen wir es wieder.«

Murchad führte sie rasch den Pfad hinunter zur Bucht.

Fidelma schaute sich um und sah Pater Pol sie mit erhobenem Arm segnen, dann verschwand er. Jetzt war es seine Pflicht, dafür zu sorgen, daß die Menschen auf der Insel in Sicherheit gebracht wurden.

Wortlos eilten die vier den Pfad hinab zum Kai, wo ihr Skiff lag. Erst als sie im Boot saßen und Gurvan und Murchad sie mit kraftvollen Schlägen zur »Ringelgans« hinüberruderten, begegnete Cian dem forschenden Blick aus Fidelmas grünen Augen. Er hielt ihm stand, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Ich habe Toca Nia nicht umgebracht, Fidelma«, erklärte er ruhig. »Ich habe erst erfahren, daß er tot ist, als ihr zu Pater Pol kamt und es mir gesagt habt. Das schwöre ich.«

Beinahe glaubte ihm Fidelma, aber sie wollte sichergehen. Sie konnte Cian nie trauen, das hatte sie schon vor langer Zeit gelernt.

»Du wirst später noch genügend Zeit haben, deine Unschuld zu beweisen«, antwortete sie kurz.

Sie legten am Schiff an. Fidelma ging als vorletzte an Bord, denn Murchad war sofort an Deck gesprungen und brüllte Befehle. Gurvan folgte ihr als letzter und machte das Skiff fest.

»Alles seeklar?« rief Murchad, als Gurvan zu ihm auf das Achterdeck kam. Die Mannschaft war schon durch Murchads Zuruf gewarnt worden, als sie sich dem Schiff näherten.

»Jawohl, Kapitän«, antwortete der Steuermann und übernahm mit dem Matrosen Drogan das Steuerruder.

Fidelma stellte sich wie selbstverständlich neben Murchad.

»Was können wir tun, Murchad?« fragte sie und spähte zur Mündung der Bucht.

Sein Gesicht war eine ausdruckslose Maske, seine meergrauen Augen waren zusammengekniffen, so starrte er über die tief eingeschnittene Bucht. Sie konnten die dunklen Umrisse des angelsächsischen Schiffes erkennen, das das südliche Vorgebirge umrundete und ihr Entkommen aus der Bucht verhindern wollte. Von ihrem Ankerplatz waren es drei Kilometer bis zur Mündung der Bucht, die an der breitesten Stelle höchstens einen Kilometer maß. Die Seeräuber hatten genügend Zeit, jeden Fluchtversuch zu vereiteln.

»Sie sind hartnäckig, diese Teufel von Angelsachsen«, knurrte Murchad. »Das muß man ihnen lassen. Ihr Kapitän muß so viel Seeverstand gehabt haben, daß er merkte, daß wir neulich nachts hinter ihm kehrtgemacht haben. Daß er uns bis hierher verfolgen konnte, spricht für ihn.«

»Diesmal verbirgt uns keine Dunkelheit«, warf Fidelma ein.

Murchad schrie den Befehl, die Pilger sollten wieder unter Deck, denn Cian, sich selbst überlassen, war unter Deck gegangen und hatte seine Gefährten mit der Nachricht vom Auftauchen der Seeräuber aufgeschreckt. Dann blickte Murchad finster zum leicht diesigen blauen Himmel empor, über den lange Streifen kleiner weißer Wölkchen zogen.

»Das kann man wohl sagen«, antwortete er Fidelma. »Das ist ein Schäfchenhimmel da oben - klar, aber unbeständig. Der hüllt uns weder in Dunkelheit noch in Nebel. Käme Nebel, würde ich versuchen, an ihm vorbeizusegeln. Ha! Das ist das erstemal, daß du einen Seeemann um Nebel bitten hörst!«

Fidelma hatte den Eindruck, er rede nur, um ihr die Angst zu nehmen.

»Mach dir keine Sorgen um mich, Murchad. Wenn wir angegriffen werden, wollen wir wenigstens nicht kampflos zugrunde gehen.«

Er sah sie anerkennend an.

»Das ist nicht wie von einer Nonne gesprochen, Lady.«

Fidelma erwiderte sein grimmiges Lächeln.

»Das spricht eine Prinzessin der Eoghanacht. Vielleicht soll ich mein Leben so beschließen, wie ich es begonnen habe, als Tochter von König Failbe Fland und Schwester von König Colgü. Wenn wir kämpfend untergehen, dann wollen wir dafür sorgen, daß unsere Feinde einen hohen Preis dafür bezahlen.«

Gurvan verließ seinen Posten und trat zu ihnen. Seine Miene war ernst.

»Also ich jedenfalls habe nicht vor, kämpfend unterzugehen«, erklärte er. »Ein guter Rückzug ist besser als eine schwache Verteidigung.«

Murchad kannte Gurvan zur Genüge und hörte etwas aus seinem Ton heraus.

»Heißt das, du hast eine Idee?«

»Das hängt vom Wind und vom Segeln ab«, antwortete Gurvan mit einem kurzen Nicken. »Der Angelsachse ist sich sicher, daß er uns in der Falle hat. Er liegt beigedreht bei Pointe de Pern im Norden und will uns entern, wenn wir herauskommen. Wie eine Katze vor dem Mauseloch, was?«

»Das merkt man auch, wenn man kein Seemann ist«, stimmte ihm Fidelma zu.

»Seht ihr die kleine Insel da vor uns?« Gurvan zeigte auf den Ausgang der Bucht.

»Die sehe ich, ungefähr einen Kilometer vor uns«, meinte Murchad.

»Nun guck dir das angelsächsische Schiff an«, sagte Gurvan.

Sie spähten hinüber.

Das große längliche Segel wurde gerefft.

»Der Kapitän will sich zum Angriff wieder auf die Ruder verlassen. Das hat schon beim vorigen Mal nicht geklappt«, murmelte Gurvan.

Murchad lächelte anerkennend, denn ihm war plötzlich klar, was sein Steuermann im Sinn hatte.

»Jetzt weiß ich, was du meinst. Wir steuern erst die kleine Insel an und passieren sie im Süden außer Sicht. Dann weiß er nicht, wo wir hinaus wollen. Das verschafft uns einen Vorsprung.«

Fidelma schaute unsicher drein.

»So ganz verstehe ich euren Plan nicht, Murchad.«

Der Wind zerrte an dem gerefften Segel und dem Tauwerk. Die Mannschaft wartete gespannt.

»Keine Zeit für Erklärungen«, rief Murchad. »Wir müssen in Fahrt kommen!« Er wandte sich um und schrie: »Alle Mann an die Brassen!«

Seine Mannschaft reagierte sofort.

Fidelma trat zurück und beobachtete, wie die Matrosen das Segel setzten. Gurvan und Drogan packten das Steuerruder. Das gewohnte freudige Klatschen

zeigte an, daß die Brise das lederne Segel erfaßt hatte. Rasch wurde der Anker gelichtet. Dann schoß die »Ringelgans« vorwärts.

Über das Wasser der Bucht hinweg kam der mächtige Ruf »Woden!« von dem Seeräuberschiff. Die Ruderblätter wurden gehoben, das Wasser auf ihnen funkelte im Sonnenlicht, und der hohe Bug des Schiffes schien auf sie zuzustürmen.

Wie Gurvan vermutet hatte, ruderten die Angelsachsen ihnen entgegen, um sie abzufangen, und hielten sich dabei an die breite nördliche Durchfahrt. Der Wind wehte nach Südwest, und bald schäumte das Wasser um den Bug der »Ringelgans«, die der südlichen Durchfahrt im Schutz der kleinen Insel zustrebte.

»Das wird gefährlich«, hörte sie Murchad rufen.

»Stimmt schon«, erwiderte der Steuermann. »Aber ich kenne diese Gewässer.«

»Ich gehe zum Bug und lotse dich durch die Durchfahrt«, antwortete Murchad.

Verwirrt sah Fidelma zu, wie der Kapitän nach vorn ging. Mittschiffs blieb er stehen und gab seinen Matrosen ein paar Anweisungen. Ein halbes Dutzend von ihnen verschwanden unter Deck und kamen kurz darauf wieder mit ein paar traditionellen Bogen von anderthalb Meter Länge und Köchern mit Pfeilen. Murchad ließ keine Chance aus. Wenn er kämpfen mußte, dann würde er auch kämpfen. Inzwischen war die »Ringelgans« in den Schutz der kleinen Insel gelangt. Die schien an ihr vorbeizufliegen, und als sie hinter der Insel hervorkamen, sah sie, daß der Kapitän des angelsächsischen Schiffes gezögert hatte, weil er annahm, seine Beute werde das Segel reffen, Treibanker auswerfen und hinter der Insel mit ihm Verstek-ken spielen wollen. Andererseits konnte die »Ringelgans« auch versuchen, kehrtzumachen und doch die nördliche Durchfahrt zu nehmen. Sein Zögern hatte der »Ringelgans« einen kleinen Vorsprung verschafft, weil sie gerade durch die südliche Durchfahrt hinter der Insel gesegelt war. Sobald die Angelsachsen das begriffen hatten, wendeten sie ungeschickt ihr Schiff und setzten ihnen mit wütenden Ruderschlägen nach.

Gurvan grinste Fidelma an und hob den Daumen.

»Jetzt brauchen wir nur noch dafür zu beten, Lady, daß sich ihr Kapitän entschließt, das Segel zu setzen und uns hinterherzujagen.«

Fidelma war immer noch verwirrt.

»Ich dachte, das angelsächsische Schiff wäre unter Segeln mit dem Wind von achtern schneller als wir.«

»Das hast du dir gut gemerkt - aber wir wollen hoffen, daß er das alte Sprichwort nicht kennt: Ein Blick voraus ist besser als zwei zurück.«

Gurvans belustigte Miene sagte Fidelma nichts.

Die »Ringelgans« legte sich weit über, als sie vor dem Wind an der Südseite der Bucht nur wenige Meter von der Felsenküste entfernt dahinbrauste. Fidelma merkte, daß Gurvan das südliche Vorgebirge umrunden wollte. Sie konnte sich aber nicht vorstellen, was er danach vorhatte, denn dann wären sie auf offener und ziemlich ruhiger See. Dort würden die Angelsachsen sie leicht einholen können.

Lag die Antwort in den langen Bogen, die die Mannschaft an Deck gebracht hatte? Wollten Murchad und Gurvan es einfach auf einen Kampf auf offener See ankommen lassen?

In dem Augenblick erkannte sie, was vor ihnen lag: Ein wahrer Irrgarten von Felsen und winzigen Inseln, durch die starke Strömungen tobten und schäumten. So weit sie sehen konnte, erstreckten sich unzählige Riffe. Ihr erschienen sie noch bedrohlicher als die bei den Sylinancim-Inseln, die sie passiert hatten.

Gurvan bemerkte die Anspannung, die sie erfaßt hatte.

»Verlaß dich auf mich, Lady«, rief er, den Blick nach vorn gerichtet. »Was du siehst, ist der Grund, weshalb kein Schiff das südliche Vorgebirge dieser Insel umsegelt. Hier herrschen Wind und Gezeiten, und wenn sie ein Schiff auf die zerklüftete Felsenküste treiben, schlagen sie es in tausend Stücke. Deshalb nehmen wir diesen Kurs. Ich bin hier schon einmal durchgefahren, und ich hoffe, ich schaffe es wieder. Wenn nicht ... na, dann lieber in Freiheit sterben, als versklavt werden oder durch das Messer der Angelsachsen fallen.«

»Und wenn die Angelsachsen hinter uns her kommen?«

»Dann sollten sie zu ihrem Gott Woden beten, daß ihr Kapitän ein guter Seemann ist. Ich glaub es nicht, und wenn er die breitere Durchfahrt außerhalb der Felsen nimmt, haben wir viele Meilen Vorsprung vor ihm.«

Sie schaute nach vorn, wo Murchad am Bug des Schiffes stand. Mit den Händen gab er Zeichen, die Gurvan und seinem Gefährten am Steuerruder offensichtlich etwas sagten, denn sie schienen auf jedes Signal zu reagieren. Fidelma spürte, wie die Strömung die »Ringelgans« erfaßte und sie noch schneller dahintrieb. Einmal schrammte ein Felsen mit einem seltsam stöhnenden Geräusch an ihrer Seite entlang.

Sie schloß die Augen und sprach ein kurzes Gebet.

Dann war der Felsen vorüber und das Schiff noch heil.

»Kannst du mal zurückschauen, Lady?« rief Gur-van. »Siehst du was von den Angelsachsen?«

Fidelma hielt sich an der Heckreling fest und spähte nach hinten.

Sie erschauerte, als sie das schäumende Kielwasser sah und wie die Riffe und Felsen vorbeiflogen. Dann hob sie den Blick in die Ferne.

»Da hinten ist das Segel der Angelsachsen«, rief sie aufgeregt. Sie hatte gerade das Zeichen des Blitzes auf dem Segel erkannt, auf das Murchad sie aufmerksam gemacht hatte.

»Da hinten sind sie«, rief sie noch einmal. »Sie folgen uns durch diese Durchfahrt.« Ihre Stimme war hoch vor Erregung.

»Dann möge ihnen ihr Gott Woden helfen«, antwortete Gurvan mit einem wilden Lachen.

»Möge Gott uns helfen«, flüsterte Fidelma.

Die »Ringelgans« rollte derartig, daß der Horizont sich heftig bewegte und sie das Segel des Verfolgers immer wieder aus dem Blick verlor.

Das Schiff stampfte und bockte beunruhigend. Gur-van und Drogan stemmten sich mit ganzer Kraft gegen das Steuerruder und riefen noch einen weiteren Mann zu Hilfe, weil sie den Druck nicht mehr bewältigten.

Murchad machte unentwegt Zeichen vom Bug, und die »Ringelgans« schoß in schwindelerregender Fahrt durch die schaumumtosten Felsen und Inselchen, bis sie schließlich in ruhigeres Wasser hinausgeschleudert wurde. Beinahe noch ehe sie wieder auf ebenem Kiel lag, kam Murchad mit besorgtem Gesicht aufs Achterdeck gerannt.

»Wo sind sie?« schnaufte er.

»Ich hab sie aus den Augen verloren«, antwortete Fidelma. »Sie folgten uns durch die felsige Durchfahrt.«

Mit zusammengekniffenen Augen spähte Murchad zurück zu der Felsenküste, die auf diese Entfernung unter einem feinen Dunst zu liegen schien.

»Gischt von den Felsen«, erklärte er ungefragt. »Da kann man schwer etwas ausmachen.«

Er schaute zu den schwarzen Zacken, die aus dem weißen Schaum herausragten.

Fidelma erschauerte, nicht zum erstenmal. Es war kaum zu glauben, daß sie unversehrt dieser Wasserhölle entronnen waren.

»Dort!« rief Murchad plötzlich. »Ich sehe sie!«

Fidelma strengte die Augen an, konnte aber nichts erkennen.

Kurze Zeit herrschte Schweigen, dann seufzte Murchad.

»Ich dachte, einen Moment hätte ich ihren Großmast gesehen, aber jetzt ist er weg.«

»Wir haben einen guten Vorsprung, Kapitän«, rief Gurvan. »Sie müssen schon ganz schön schnell segeln, wenn sie uns einholen wollen.«

Murchad wandte sich um und schüttelte langsam den Kopf.

»Ich glaube, wegen denen brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen, mein Freund«, meinte er ruhig.

Fidelma blickte zurück auf die rasch verschwindende Küste der Insel. Von einem verfolgenden Schiff war nichts mehr zu entdecken.

»Meinst du, sie sind auf die Riffe geraten?« fragte sie.

»Hätten sie die Durchfahrt geschafft, würden wir sie jetzt schon sehen«, sagte Murchad düster. »Entweder wir oder sie, Lady. Gott sei Dank hat es sie erwischt. Nun sind sie in ihren heidnischen Heldenhimmel eingegangen.«

»Das ist ein schrecklicher Tod«, meinte Fidelma ernst.

»Tote beißen nicht mehr«, war Murchads einziger Kommentar.

Fidelma murmelte ein kurzes Gebet für die Ertrunkenen. Es war ein angelsächsisches Schiff, ob nun heidnisch oder nicht, und sie mußte an Bruder Eadulf denken.

Загрузка...