Kapitel 14

»Das verstehe ich nicht«, erklärte Murchad nicht zum erstenmal, kratzte sich den Kopf und starrte die Leiche an. Fidelma hatte ihn in die Kajüte gerufen, ohne jemand anderem etwas zu sagen. Er sah völlig perplex aus. »Bist du sicher, daß das Schwester Muirgel ist? Ich hab sie nur ganz kurz gesehen an dem Tag, als sie alle an Bord kamen. Kann es nicht eine der anderen Schwestern sein?«

Fidelma schüttelte entschieden den Kopf.

»Ich sah sie auch nur ein paar Minuten, als ich in ihre Kajüte ging, aber ich bin sicher, daß es dieselbe Frau ist. Es ist bestimmt keine der drei anderen.«

Murchad seufzte schwer und ratlos.

»Demnach scheint es so, als wäre diese Schwester Muirgel zweimal ermordet worden«, meinte er trocken. »Einmal in der ersten Nacht nach dem Auslaufen, als ihre blutbefleckte Kutte gefunden wurde, aber nicht ihr Leichnam, und jetzt zum zweitenmal, als ihr jemand die Kehle durchschnitt. Was hat das zu bedeuten?«

»Das bedeutet, daß Schwester Muirgel uns zunächst glauben machen wollte, sie wäre tot ... Während sie in Wirklichkeit noch an Bord war und sich irgendwo versteckt hielt ... Oder von jemandem versteckt wurde. Weißt du noch, was Wenbrit von den fehlenden Lebensmitteln erzählte? Da schöpfte ich gleich Verdacht. Deshalb wollte ich noch einmal suchen lassen. Muirgel spielte uns was vor. Doch das Messer ist nicht zu finden.«

»Aber warum wollte Muirgel uns glauben machen, sie sei erstochen oder vom Sturm über Bord gerissen worden?« fragte Murchad. »Warum hat man die Kutte so hingelegt, daß wir gleich einen Mord vermuten mußten?«

Fidelma besah sich das Kruzifix, das sie in der Hand hielt. Muirgel hatte es fallen lassen. Fidelma hatte es fast vergessen in den letzten Minuten, in denen sie nach einer Erklärung für das Rätsel suchte.

»Was ist das?« fragte der Kapitän, als er es sah.

»Ihr Kruzifix. Es muß ihr in den letzten Minuten ihres Lebens Trost gegeben haben. Sie hielt es umklammert, als sie starb.«

»Eine fromme Frau«, meinte Murchad und wies auf das größere, prunkvollere Kruzifix, das noch am Halse der Toten hing.

Fidelma schaute auf das Kruzifix in ihrer Hand. Es war ganz anders als das, welches Muirgel getragen hatte. Es war zwar kleiner, aber geschmackvoller gearbeitet, und ihr wurde plötzlich klar, daß dieses Kruzifix nicht Muirgel gehört hatte. Sie wendete es nachdenklich um. Erst beim zweiten Umwenden fiel ihr auf, daß ein Name eingeritzt war.

»Halte mal die Lampe näher«, bat sie Murchad. Der tat es.

Die Zeichen waren nur schwach markiert, doch der Name war gut zu lesen. Canair.

Fidelma überlegte.

»Bist du dieser Schwester Canair mal begegnet?« fragte sie Murchad.

»Die hab ich nie gesehen. Die Überfahrt wurde, wie deine auch, vor Ankunft der Pilger bezahlt, in diesem Fall von der Abtei des heiligen Declan. Ich kannte nur die Namen der Pilger, und die mußten mit der Zahl der bezahlten Plätze übereinstimmen. Elf waren bezahlt, aber nur zehn Leute, außer dir, kamen an Bord. Mir wurde gesagt, Schwester Canair, die Führerin der Pilgergruppe, sei nicht in Ardmore angekommen, und da wir mit der Ebbe auslaufen mußten .« Er zuckte abweisend die Achseln. »Was machen wir jetzt?«

Fidelma brauchte einen Moment, um zu einem Entschluß zu kommen.

»Ich forsche weiter, aber nun haben wir eine Leiche, die ein Verbrechen beweist. Zunächst einmal werden ein paar Dinge klarer. Zum Beispiel, daß Bruder Guss, der behauptete, er liebe Muirgel, nicht von Gram gebeugt war, als wir alle glaubten, sie sei über Bord gespült worden. Er wußte offensichtlich, daß sie noch am Leben war. Doch mein Verdacht ändert sich jetzt. Ich fürchte, ich bin der Lösung des Rätsels nicht näher als zuvor. Es sind noch zu viele Fragen offen.«

Fidelma schaute den Kapitän an.

»Es sitzen noch alle beim Frühstück, nehme ich an?

Könntest du wohl Bruder Tola und Bruder Guss herholen? Laß sie aber nicht in die Kajüte, ehe ich es sage. Ach, und kannst du einen Matrosen entbehren? Ich glaube, wir werden eine Wache vor die Kajüte stellen müssen.«

Wortlos ging Murchad los. Kurz danach klopfte es an der Tür. Ein rotgesichtiger Matrose steckte den Kopf herein. »Ich heiße Drogan, Lady. Der Kapitän hat mir gesagt, du brauchst hier unten jemand.«

»Ja. Bleib draußen und laß niemanden in die Kajüte, bis ich es dir sage.«

Drogan legte die Faust zum Gruß an die Stirn und zog sich zurück. Kurz darauf hörte sie draußen Bruder Tolas quengelige Stimme, der wissen wollte, was er hier sollte. Fidelma ging zur Tür.

»Komm rein, Bruder Tola«, befahl sie knapp. Als sie Bruder Guss hinter ihm erblickte, fügte sie hinzu: »Du wartest draußen. Ich habe gleich noch mit dir zu reden.«

Mit düsterer Miene trat Bruder Tola ein.

»Was ist denn jetzt los?« wollte er wissen und sah sich angewidert um.

Fidelma ging zur Koje und hielt die Lampe über der Leiche hoch.

Bruder Tola schnappte nach Luft und trat einen Schritt näher.

»Wer ist das, Bruder Tola?« fragte Fidelma und ließ ihn nicht aus den Augen.

Er sah völlig verwirrt aus und beugte sich kopfschüttelnd vor.

»Es ist Schwester Muirgel«, flüsterte er. »Was hat das zu bedeuten? Ich dachte, sie wäre über Bord gespült worden.«

Es stand außer Frage, daß seine Überraschung echt war.

»Geh zu den anderen zurück, Tola«, befahl ihm Fidelma leise, »aber erzähl nichts hiervon, bis ich nachkomme. Das wird bald sein. Sag Bruder Guss, er soll reinkommen, wenn du rausgehst.«

Mit leichtem Kopfschütteln verließ sie der erschütterte Mönch. Fidelma war enttäuscht. Sie hatte beinahe damit gerechnet, daß ein Anzeichen verraten würde, daß Tola nicht sehr erstaunt wäre über den Anblick der Leiche Muirgels. Ein so guter Schauspieler war er sicher nicht. Er war ebenso verblüfft von Mu-irgels Wiederauftauchen wie sie selbst. Dann trat mit einem leisen Hüsteln der junge Mönch ein.

Wieder hob Fidelma einfach die Lampe hoch und beobachtete sein Gesicht.

»Wer ist das, Bruder Guss?«

Der junge Mann wurde totenblaß und taumelte zurück. Fidelma glaubte einen Moment, er werde ohnmächtig. Er schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte herzzerreißend.

»Muirgel! O mein Gott, Muirgel!« Er wiegte sich auf den Fersen vor und zurück.

Fidelma hängte die Lampe an und schob ihn sacht auf einen Stuhl.

»Du hast mir einiges zu erklären, Bruder Guss. Als ich dich gestern befragte, wußtest du, daß Schwester Muirgel noch am Leben war. Du hast nicht diesen Schmerz gezeigt, als wir alle annahmen, sie sei über Bord gespült worden. Wo hatte sie sich versteckt und warum?«

»Ich habe Muirgel geliebt«, schluchzte der junge Mann leise.

»Und du wußtest, daß sie noch lebte?«

»Ja, das wußte ich«, bestätigte er zwischen seinem Schluchzen.

»Warum hat sie so ein Schauspiel inszeniert und vorgegeben, sie sei über Bord gefallen?«

»Sie fürchtete, daß man sie umbringen würde«, sagte er weinend.

Fidelma betrachtete ihn neugierig.

»Willst du damit sagen, daß sie sich irgendwo an Bord versteckte, weil sie ihr Leben in Gefahr glaubte?«

Er nickte und versuchte sein kummervolles Schluchzen zu unterdrücken.

»Warum kam sie dann überhaupt an Bord, wenn sie um ihr Leben fürchtete? Ist ein Schiff nicht der letzte Ort, an dem man Zuflucht finden kann?«

»Sie begriff erst, daß sie das nächste Opfer sein würde, nachdem sie an Bord war. Da war es zu spät, wir waren schon ausgelaufen. So richtete sie es ein, daß sie sich versteckte, und ich half ihr dabei.«

»Das nächste Opfer?« fragte Fidelma.

»Schwester Canair war schon ermordet worden, bevor wir an Bord kamen.«

»Canair?« Fidelma war erstaunt. »Willst du damit sagen, Schwester Muirgel und du, ihr hättet schon gewußt, als ihr an Bord kamt, daß Schwester Canair tot ist?«

»Das ist eine lange Geschichte, Schwester«, erklärte Bruder Guss, der sich nun wieder ein wenig unter Kontrolle hatte.

»Dann fang mal an damit. Zu welchem Zweck hat sich Schwester Muirgel im Schiff verborgen, statt in ihrer Kajüte zu bleiben?«

»Sie wollte sich vor dem Mörder verstecken, und dann wollte ich sie im ersten Hafen, den wir anliefen, von Bord schmuggeln, wahrscheinlich auf Ushant. Wir hofften, daß wir in der Dunkelheit ankommen würden, und wollten uns dort verbergen, bis das Schiff mitsamt dem Mörder ausgelaufen war.«

»Ein merkwürdiger Plan. Warum habt ihr nicht einfach die Geschichte dem Kapitän berichtet? Wenn ihr wußtet, daß sich ein Mörder an Bord befand und weiter töten wollte .«

»Es war Muirgels Idee. Sie meinte, niemand würde ihr glauben. Jetzt müssen sie’s.« Der junge Bruder begann erneut zu schluchzen.

»Also der Mörder war an Bord. Weißt du, wer es ist?«

Guss schüttelte traurig den Kopf.

»Ich weiß es nicht, jedenfalls nicht sicher. Muirgel wußte es, wollte es mir aber nicht verraten, um mich nicht in Gefahr zu bringen. Ich kann nur vermuten, wer es sein könnte.«

Der junge Mann stand unter Schock, denn er sprach wie im Traum, langsam und bedächtig, mit leerem Blick.

Unter anderen Umständen hätte Fidelma sich um ihn gekümmert, aber sie mußte mehr erfahren, und zwar sofort. Sie langte in ihre Kutte, holte das kleine silberne Kruzifix hervor, das Schwester Muirgel in der Faust gehabt hatte, und hielt es ihm hin.

»Kennst du das?« wollte sie wissen.

Guss stieß ein hysterisches Lachen aus.

»Es gehörte Schwester Canair.«

»Woher weißt du, daß Canair tot ist? Oder wußte das auch nur Muirgel mit Sicherheit?«

»Ich hab ihre Leiche gesehen. Wir beide sahen sie.«

»Bist du sicher, daß es Canair war?«

»Den Anblick dieser Leiche vergesse ich nicht so leicht.«

»Wann war das?«

»In der Nacht, bevor wir an Bord gingen.«

»In der Abtei Ardmore?«

»Nicht in der Abtei. Muirgel und ich blieben dort nicht die ganze Nacht.«

Die plötzlichen Wendungen dieser Geschichte konnten Fidelma kaum noch überraschen.

»Ich dachte, eure ganze Gruppe übernachtete in der Abtei.«

»Wir kamen am späten Nachmittag zusammen in der Abtei an. Vorher hatte uns Schwester Canair erklärt, daß sie in der Nähe einen Besuch machen wollte, und sich von uns getrennt. Sie wollte später dazustoßen, meinte aber, wenn es zu spät würde, dann würde sie uns morgens am Kai treffen. Der Abt hatte unsere Überfahrt auf der >Ringelgans< schon mit dem Kapitän geregelt, wir brauchten uns also nur noch dort zu sammeln und an Bord zu gehen.«

»Ich verstehe. Aber Schwester Canair erschien am nächsten Morgen nicht am Kai, nicht wahr?«

»Nein. Da war sie schon tot.«

»Wann habt ihr erfahren, daß sie tot ist?«

»Wie ich bereits sagte, kamen wir in der Abtei an. Die meisten von uns waren müde und erschöpft und gingen zu Bett. Muirgel flüsterte mir zu, sie wolle vorher noch einen Spaziergang machen. Ich sollte mich, ohne mich sehen zu lassen, vor den Toren der Abtei mit ihr treffen. Crella hängte sich die ganze Zeit an sie und ging ihr auf die Nerven. Sie sagte, sie wolle mit mir allein sein. Du weißt doch, wir liebten uns.«

»Sprich weiter«, forderte ihn Fidelma auf, als er schwieg. »Hast du sie draußen getroffen?«

»Ja. Sie war guter Laune und . auch in einer sehr ungezogenen Stimmung. Sie meinte, am Fuße des Berges gebe es eine Herberge, und dort könnten wir die Nacht verbringen, ohne daß uns jemand fände oder störte.«

»Warst du damit einverstanden?«

»Natürlich.«

»Und ihr habt die Nacht in diesem Gasthaus verbracht?«

»Einen Teil davon.«

»Und Schwester Canair? Was hat das mit ihr zu tun?«

Bruder Guss holte tief Atem und stieß einen schweren Seufzer aus.

»Wir . nachdem wir . einige Zeit, nachdem wir im Bett waren - in der Herberge, meine ich -, hörten wir so etwas wie ein Handgemenge im Nachbarzimmer. Wir dachten uns nichts dabei. Dann vernahmen wir einen Schrei und wie jemand den Gang entlanglief. Wir hätten uns nicht darum gekümmert, wenn nicht ein Stöhnen aus dem Nebenzimmer gedrungen wäre.«

»Was tatet ihr?«

»Aus Neugierde ging Muirgel zur Tür und horchte. Dann schaute sie hinaus auf den Gang. Die Tür des anderen Zimmers stand leicht offen, und drinnen flak-kerte eine Kerze. Sie schaute hinein und wollte sehen, ob sie helfen könnte, denn jemand litt offensichtlich Schmerzen.«

Der junge Mann stockte. Sein Mund war wohl trocken, und Fidelma reichte ihm einen Krug mit Wasser. Danach fuhr er fort.

»Muirgel eilte zu mir zurück. Sie war erregt und entsetzt. Sie flüsterte: >Es ist Schwester Canair!< Ich ging in das Zimmer und sah Canair auf dem Bett liegen. Man hatte ihr mehrmals in die Brust gestochen, in der Herzgegend. Dann hatte man ihr die Kehle durchgeschnitten.«

Fidelma kniff die Augen zusammen.

»Das deutet auf einen Wutanfall hin.«

Bruder Guss ging nicht darauf ein.

Fidelma wollte mehr wissen.

»Doch du sagtest, daß sie noch lebte? Daß ihr sie stöhnen hörtet?«

»Ihre letzten Züge, wie sich herausstellte«, antwortete der junge Mann. »Als ich ins Zimmer kam, war sie schon tot. Ich deckte sie mit der Bettdecke zu und blies die Kerze aus. Dann kehrte ich zu Muirgel zurück.«

»War Canair schon tot, als Muirgel hineinging? Hat sie noch etwas gesagt, ehe sie starb?«

Bruder Guss schüttelte den Kopf.

»Als Muirgel die Wunden sah, geriet sie in Panik. Sie wagte sich nicht näher heran, aber Canair konnte ohnehin keine verständlichen Worte mehr herausbringen.«

»War etwas von der Waffe zu sehen, mit der man ihr die Wunden zugefügt hatte?«

»Ich sah keine Waffe, aber ich war auch zu erschüttert, um danach zu suchen. Wir besprachen lange, was wir tun sollten. Es war Muirgels Idee, daß wir einfach die Herberge verließen, zur Abtei zurückkehrten und so taten, als wären wir die ganze Nacht dort geblieben.«

»Aber der Herbergswirt konnte bezeugen, daß ihr dort wart.«

»Daran dachten wir nicht.«

»Warum habt ihr nicht Alarm geschlagen? Vielleicht hätte man den Mörder noch fassen können.«

»Damit hätten wir verraten, daß wir im Nebenzimmer waren. Der Mörder hätte von unserer Anwesenheit erfahren, und wir hätten auf die Reise verzichten müssen. Es hätte alle möglichen Schwierigkeiten gegeben.«

Er schaute beschämt drein.

»Jetzt klingt es albern und selbstsüchtig, das gebe ich zu, aber damals erschien es uns nicht so, jedenfalls nicht, als wir im Zimmer neben dieser schrecklichen Leiche saßen. Du wirst uns sicher verurteilen. Aber es ist leicht, logisch zu denken, wenn Zeit vergangen ist und man Abstand vom Geschehenen hat.«

»Urteilen soll man erst, wenn alle Vorgänge geklärt sind. Sprich weiter.«

»Wir waren noch vor Tagesanbruch zurück in der Abtei.«

»Habt ihr nicht befürchtet, der Herbergswirt würde Alarm schlagen und ihr könntet wegen eurer Flucht in Mordverdacht geraten?«

»Wir hatten Geld für unser Zimmer hinterlassen. Die Tür zu Canairs Zimmer hatten wir geschlossen und hofften, daß die Leiche erst später entdeckt würde. Wir glaubten, daß alle noch schliefen, als wir aufbrachen, doch wir merkten, daß der Herbergswirt bei Fackellicht seinen Karren belud. Er sah uns nicht. Wir eilten zurück zur Abtei und nahmen unsere Plätze im Speisesaal ein, und als die anderen Mitglieder unserer Gruppe erschienen, kamen sie nicht auf die Idee, daß wir nicht die ganze Nacht dort verbracht hätten.«

Fidelma rieb sich die Nase und überlegte. Die Geschichte klang so seltsam, daß sie nicht an ihrer Wahrheit zweifelte.

»Alle anderen aus eurer Gruppe waren in der Abtei?«

»Ja.«

»Keiner hatte den Verdacht, daß ihr nicht die ganze Nacht dort geblieben wärt?«

Bruder Guss schüttelte den Kopf, fügte aber hinzu: »Ich glaube, Crella hatte Verdacht geschöpft. Sie warf uns böse Blicke zu.«

»Canair erschien also nicht am Kai, ihr beide habt keinem etwas von eurer Geschichte erzählt, und dann gingt ihr alle an Bord.«

Bruder Guss bejahte das mit einer Geste.

»Ich dachte, alles wäre in Ordnung. Muirgel hatte die Führung übernommen und die Kajüten zugeteilt, wie ich schon sagte. Sie nahm eine für sich allein in der Hoffnung, wir könnten später dort zusammenkommen. Doch sie rief mich noch vor dem Auslaufen zu sich. Sie war bleich und zitterte, war fast außer sich vor Furcht.«

»Hat sie dir erklärt, weshalb?«

»Sie sagte, sie wüßte, daß Canairs Mörder an Bord sei.« Er wies auf das Kreuz, das Fidelma noch in der Hand hielt. »Sie hatte jemanden gesehen, der dieses Kreuz trug. Es war Canairs Kreuz, das sie immer bei sich hatte. Sie hatte Muirgel einmal erzählt, es sei ein Geschenk von ihrer Mutter. Muirgel schwor, Canair habe es getragen, als sie uns verließ, um ihre Freunde zu besuchen. Es konnte ihr nur von der Person abgenommen worden sein, die sie tötete.«

»Aber das allein konnte doch Schwester Muirgel nicht solche Angst einjagen. Sie hatte offensichtlich die Person mit dem Kruzifix erkannt. Sie hätte zum Kapitän gehen und ihm alles berichten können.«

»Nein! Ich sagte dir schon - sie fürchtete sich sehr.

Sie meinte, sie wüßte, weshalb Canair umgebracht worden sei, und sie wäre das nächste Opfer.«

»Hast du eine weitere Erklärung von ihr verlangt?«

»Ich hab’s versucht. Als ich sie fragte, woher sie das wüßte, zitierte sie einen Vers aus der Bibel.«

»Welchen?« fragte Fidelma rasch. »Kannst du dich daran erinnern?«

»Die Worte lauteten etwa so:

>Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz

Und wie ein Siegel auf deinen Arm.

Denn Liebe ist stark wie der Tod,

Und Eifersucht ist fest wie die Hölle.

Ihre Glut ist feurig

Und eine Flamme des Herrn.<«

Fidelma blieb nachdenklich.

»Hat sie dir erklärt, was sie damit meinte?«

Bruder Guss errötete.

»Muirgel hatte . hatte andere Männer vor mir gekannt, das leugne ich nicht. Sie gestand mir, daß sie und Canair einmal in denselben Mann verliebt waren. Mehr wollte sie nicht sagen.«

»In denselben Mann verliebt? >Eifersucht fest wie die Hölle

»Nur, daß sie wüßte, daß dieselbe Person, die Ca-nair getötet hatte, auch sie umbringen würde, bevor die Seereise beendet wäre.«

»Aus Eifersucht?«

»Ja. Sie erklärte mir, sie werde sich den ganzen Tag in der Kajüte einschließen und vorgeben, sie wäre seekrank.«

»Dann kam ich an Bord, und Wenbrit meinte, ich sollte mit in ihre Kajüte ziehen«, sagte Fidelma.

»Ja - sie wehrte sich dagegen, aber auch als du woanders untergebracht wurdest, fühlte sie sich noch bedroht. Da faßte sie den Plan, sich zu verstecken und die blutbefleckte Kutte in ihrer Kajüte zu hinterlassen. Die Leute sollten denken, der Mord sei schon verübt worden, und deshalb nicht mehr nach ihr suchen.«

»Wollte sie vorgeben, vom Sturm über Bord gerissen worden zu sein?«

»Nein. Wir wußten ja nicht, daß ein Sturm über uns hereinbrechen würde. Die blutige Kutte sollte den Anschein erwecken, als sei sie erstochen worden. Die Leute sollten annehmen, sie sei in der Nacht umgebracht und über Bord geworfen worden. Der Sturm machte es nur schwieriger. Die Leute dachten, sie sei nachts über Bord gerissen worden. Jetzt ärgerten wir uns, daß wir die Kutte zurückgelassen hatten, weil dadurch alles komplizierter wurde.«

»Allerdings; hättet ihr die Kutte nicht in der Kajüte gelassen, wären wir davon ausgegangen, daß Muirgel das Opfer eines Unfalls geworden wäre.« Fidelma lächelte düster. »Und du hast wahrscheinlich das Blut für die Kutte geliefert.«

Bruder Guss faßte automatisch mit den rechten Hand den linken Arm, dann zuckte er die Achseln.

»Ich habe mir in den Arm geschnitten, um Blut auf die Kutte zu schmieren«, gab er zu. »Ich wußte nicht, daß du die Kutte schon gesehen hattest, und wunderte mich, weshalb du dich so für meinen verletzten Arm interessiertest. Ich mußte etwas erfinden.«

»Das ließ mich jedenfalls vermuten, daß du an ihrem vorgetäuschten Tod beteiligt warst. Wo hatte sie sich versteckt? Der Steuermann hat das Schiff abgesucht und keine Spur von ihr gefunden.«

»Ganz einfach, sie lag unter meiner Koje. Bruder Tola schläft fest, den würden nicht einmal die Posaunen des Jüngsten Gerichts aufwecken. Aus natürlichen Gründen mußte sie ab und zu mal hinausgehen, aber das tat sie in der Nacht oder kurz vor Tagesanbruch, bevor jemand anders auf war. Es war ganz problemlos. Wer dachte schon daran, unter meiner Koje nachzusehen?«

»Und heute morgen?«

»Sie stand früh auf und meinte, sie wäre sicher, wenn sie nun in ihre eigene Kajüte zurückginge. Da sie jetzt offiziell tot wäre, erklärte sie mir, würde niemand mehr nach ihr suchen. Nach dem Frühstück sollte ich zu ihr kommen.«

»Was meinst du, was dann geschah?«

»Sie wurde von derselben Person, die Schwester Canair getötet hatte, gesehen und umgebracht.«

»Nun gut. Du hast angedeutet, du wüßtest, wer sie umgebracht hat, oder besser, du hättest jemanden im Verdacht. Meinst du damit dieselbe Person, der du bei unserem Gespräch gestern die Schuld gegeben hast?«

»Crella? Ja, ich glaube, sie war es, die in der Nacht vor Muirgels Tür stand und vor sich hin sprach. Crella hat uns nachspioniert. Sie war eifersüchtig auf Canair, und sie war eifersüchtig auf Muirgel, obwohl sie so tat, als wäre sie Muirgels beste Freundin.«

»Aber du hast doch gesagt, daß Muirgel den Namen der Person, die sie im Verdacht hatte, nicht preisgab? Sie hat dir den Namen der Person, die sie mit Canairs Kreuz gesehen hat, nicht genannt? Ist es lediglich deine Vermutung, daß sie Schwester Crella gemeint hat?«

»Ich hab dir doch gesagt, ich glaube ...«

»Ich brauche Tatsachen«, unterbrach ihn Fidelma scharf, »nicht deine Vermutungen. Hat Muirgel gesagt, vor wem sie sich fürchtete?«

Der junge Mann schüttelte den Kopf.

»Nein, das hat sie nicht«, gab er zu.

Fidelma rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Wir können nicht auf einen Verdacht hin vorgehen, Guss. Wenn du mir keine handfesten Beweise vorlegen kannst, dann .« Sie ließ den Satz unvollendet.

»Dann läßt du Crella entwischen?« hielt ihr Bruder Guss zornig vor.

»Mir geht es darum, die Wahrheit herauszubekommen.«

Der junge Mann starrte sie einen Moment herausfordernd an, dann wandelte sich seine Miene in ein Bild des Schmerzes.

»Ich habe sie geliebt! Ich hätte alles für sie getan.

Jetzt fürchte ich um mein eigenes Leben, denn Crella wird nun wissen, daß ich Muirgels Geliebter war und sie versteckt hatte. Wie weit wird sie in ihrer Eifersucht noch gehen?«

Fidelma schaute den jungen Mann mitleidig an.

»Wir werden aufpassen, Bruder Guss. In der Zwischenzeit kannst du in dem Gedanken Trost finden, daß du Muirgel geliebt hast, und wenn sie, wie du sagst, dich auch geliebt hat, dann warst du doppelt gesegnet. Denk an das Hohelied Salomos, denn daraus ist der Vers, den Muirgel zitiert hat. Der nächste Vers lautet:

>Daß auch viele Wasser nicht mögen die Liebe

auslöschen

Noch die Ströme sie ertränken.<«

Bruder Guss brachte es nicht über sich, zu den Gefährten zurückzukehren, sondern ging in seine eigene Kajüte um dort seinem Kummer nachzuhängen. Fidelma traf Murchad vor der Tür von Muirgels Kajüte, wo er mit dem Matrosen Drogan zusammenstand.

»Halte hier Wache, Drogan, und laß niemand hinein ohne meine oder Murchads Erlaubnis«, wies sie ihn an. Dann fragte sie den Kapitän: »Sind noch alle beim Frühstück?«

Er nickte.

»Was wirst du ihnen sagen?« erkundigte er sich.

»Ich werde ihnen die Wahrheit sagen. Der Mörder kennt die Wahrheit, warum also sollen die anderen sie nicht auch kennen? Je eher alles aufgedeckt ist, desto eher macht der Mörder vielleicht einen Fehler.«

Murchad folgte Fidelma zum Messedeck, wo Wen-brit gerade die Reste der Frühstücksmahlzeit abräumte. Die Pilger saßen schweigend da. Bruder Tola war wieder unter ihnen, und obgleich er sich geweigert hatte, ihnen zu sagen, was geschehen war, merkten doch alle, daß etwas Schlimmes passiert sein mußte. Als Fidelma eintrat und sich ans Kopfende des Tisches stellte, versuchte nur Cian, sie zu begrüßen. Sie reagierte nicht darauf. Alle Blicke waren auf sie gerichtet, und jeder bemühte sich zu erraten, um was es ging.

Selbst Wenbrit spürte das und blieb stehen, die gebrauchten Teller noch in den Händen.

»Wir haben die Leiche von Schwester Muirgel gefunden«, verkündete Fidelma.

Schwester Crella erhob sich halb und sank dann mit einem schmerzlichen Stöhnen zurück. Schwester Gorman kicherte vor Aufregung.

Bruder Tola, der bisher hatte Schweigen bewahren müssen, stellte die erste Frage.

»Heißt das, daß sie die ganze Zeit an Bord war? Daß sie nicht über Bord gefallen war?«

»Ja.«

»Das verstehe ich nicht. Wie konnte sie denn ertrinken, wenn sie nicht über Bord gefallen war?« wollte Schwester Ainder wissen.

Fidelma sah sie mit einem kühlen Lächeln an.

»Das ist ganz einfach: Sie ist nicht ertrunken. Man hat ihr innerhalb der letzten Stunde die Kehle durchgeschnitten.«

Schwester Crellas Stöhnen steigerte sich zu einem schrillen Schreien.

Fidelma sah sich rasch am Tisch um. Schwester Crella war anscheinend die einzige, die sichtlich erschüttert war, obgleich alle eine gewisse Bewegung zeigten.

»Bist du sicher?« Diese Frage kam von Cian.

»Sicher worin?« fragte sie zurück.

Cian wurde verlegen unter ihrem durchdringenden Blick.

»Sicher, daß es Schwester Muirgel ist, von der wir reden«, erklärte er lahm. »Erst heißt es, sie ist tot, dann wieder ist sie lebendig und jetzt wieder tot. Was ist sie denn nun wirklich?«

Fidelma schaute Bruder Tola an.

»Es ist Schwester Muirgel«, bestätigte er ruhig. »Ich habe die Leiche erkannt, ebenso Bruder Guss ...« Er blickte sich um und merkte erst jetzt, daß Guss nicht zurückgekommen war.

Fidelma erriet, wonach er fragen wollte.

»Bruder Guss hat sich in seiner Kajüte hingelegt«, erklärte sie allen. »Er war auch sehr erschüttert.«

Am Tisch gab es keinen Laut außer dem Schluchzen Schwester Crellas.

»Schwester Muirgel wurde im Laufe der letzten Stunde ermordet«, fuhr Fidelma fort. »Könnt ihr alle darüber Rechenschaft geben, wo ihr in dieser Zeit wart?«

»Was?« Schwester Gorman war völlig aus dem Häuschen.

»Behauptest du, es war einer von uns?«

Fidelma sah sie alle der Reihe nach an.

»Jedenfalls war es keiner von der Mannschaft!« Sie lächelte dünn. »Schwester Muirgel kannte ihren Mörder. Sie hatte ihr Verschwinden vorgetäuscht, um ihrem Mörder zu entgehen. Sie versteckte sich am Tage und kam nachts oder im Morgengrauen heraus, um zu essen und sich Bewegung zu verschaffen.« Da fiel Fidelma etwas ein. »An dem Morgen nach der Nacht, in der sie über Bord gegangen sein sollte, als dichter Nebel das Schiff einhüllte, traf ich sie an Deck und erkannte sie nicht. Wir können davon ausgehen, Wen-brit, daß sie die Lebensmittel verzehrt hat, die dir fehlen.«

Der Junge schaute sie erstaunt an.

»Willst du damit sagen, daß Schwester Muirgel es so eingerichtet hat, daß wir denken sollten, sie sei über Bord gefallen?« Schwester Ainder hatte immer noch Mühe, das zu begreifen. »Warum denn?«

»Sie wollte ihren Mörder irreführen.«

Bruder Tola stieß ein ungläubiges Lachen aus.

»Wo in Gottes Namen könnte sie sich auf dem Schiff versteckt haben? Es gibt doch keinen Platz dafür.«

»Verzeih, aber darin kann ich dir nicht zustimmen.« Fidelma war versucht, ihm zu erklären, daß Muirgel die erste Nacht nur eine Armlänge von ihm entfernt verbracht hatte, während er schlief. »Wichtiger ist jedoch, daß der Mörder Schwester Muirgels unserer Gruppe angehört. Wo wart ihr alle innerhalb der vergangenen Stunde?«

Sie sahen einander mißtrauisch an.

Bruder Tola nahm für sie das Wort.

»Wir setzten uns alle zum Frühstück hin. Das war etwa vor einer Stunde.«

Wie sich herausstellte, wollte jeder davor in seiner Kajüte gewesen sein, mit Ausnahme von Schwester Ainder, die erklärte, sie habe die defectora aufgesucht, und Cian, der sagte, er habe an Deck Freiübungen gemacht.

»Warst du in deiner Kajüte, Bruder Bairne?« erkundigte sich Fidelma.

»Ja.«

»Sie liegt neben der von Muirgel. Hast du etwas gehört?«

»Willst du mich beschuldigen?« entrüstete sich der junge Mann und wurde rot im Gesicht. »Eine solche Anschuldigung müßtest du beweisen.«

»Ich würde eine solche Beschuldigung nur erheben, wenn ich sie beweisen könnte«, erwiderte Fidelma fest. »Ich muß mit jedem von euch noch einmal einzeln sprechen.«

»Mit welchem Recht?« fauchte Schwester Ainder empört. »Das ist doch alles lächerlich. Leute werden über Bord gespült, und dann sind sie’s gar nicht. Unfälle verwandeln sich in Morde. Hier gibt’s sogar Leichen, die nicht tot sind!«

»Du kennst mein Recht und meine Befugnis zu dieser Untersuchung bereits«, unterbrach Fidelma ihren Redeschwall.

Bruder Tola sah Murchad an.

»Ich nehme an, Fidelma handelt weiterhin mit deiner Billigung, Kapitän?«

»Ich habe Fidelma von Cashel unbeschränkte Vollmacht in dieser Sache erteilt«, sagte Murchad. »Und dabei bleibt es.«

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