»Cian!«
Wie ein Gespenst aus einer geisterhaften Vergangenheit stand vor ihr der Mann, der ihre erste Liebe gewesen war, der in ihr, als sie noch ein junges Mädchen war, die Sinnlichkeit geweckt und sie dann wegen einer anderen fallengelassen hatte.
In einem atemlosen Augenblick durchfluteten sie diese Erinnerungen. Fidelma hatte ihre erste Begegnung noch so lebhaft im Gedächtnis, als sei es erst gestern gewesen. Doch seitdem waren zehn Jahre vergangen, zehn lange Jahre ...
Der alte Brehon Morann hatte seinen Schülerinnen frei gegeben, damit sie das alle drei Jahre stattfindende große Fest in Tara besuchen konnten, das Feis Teamh-rach. Hätte er ihnen nicht frei gegeben, wären sie wahrscheinlich trotzdem hingegangen, denn das große Fest war der Höhepunkt des Jahres. Es war vom Großkönig Ollamh Fodhla vor ungefähr vierzehn Jahrhunderten begründet worden. Sein offizieller Zweck bestand darin, die Gesetze der fünf Königreiche zu überprüfen. Der Großkönig und die Provinzkönige kamen zusammen, ebenso wie die hervorragendsten Vertreter aller gelehrten Berufe aus den fünf Königreichen.
Zwar hatten die Großkönige schon vor hundert Jahren Tara als Hauptresidenz aufgegeben wegen eines Fluchs, den der heilige Ruadan von Lorrha in Muman gegen den Ort ausgesprochen hatte, doch an dem großen Fest hatte das nichts geändert, es wurde weiterhin in jedem dritten Jahr abgehalten. An den sieben Tagen des Fests stand niemandem der Sinn nach Lernen. Es begann drei Tage vor dem Feiertag des Samhain und endete am dritten Tag danach.
Während Gelehrte und Rechtskundige und die Könige und ihre Ratgeber die Angelegenheiten des Staates und die Anwendung der Gesetze besprachen und erwogen, ob neue Gesetze vonnöten seien, und wenn ja, welche, gab es Spiele, Wettbewerbe und Festlichkeiten für die Allgemeinheit und für die Reichen, die kamen, um zu sehen und gesehen zu werden. Kaufleute reisten nicht nur aus den fünf Königreichen an, sondern von allen Enden der Welt, und ebenso strömten Gaukler, Sänger, Jongleure, Narren und Akrobaten zusammen. Es war eine Zeit, sich zu erholen und fröhlich zu sein, denn die alten Gesetze schrieben für die Dauer des Fests einen heiligen Waffenstillstand vor, der jeden vor Festnahme oder Verfolgung schützte, es sei denn, er bräche selbst den Frieden des Fests durch Rüpelei, Gewalttätigkeit oder Diebstahl.
Fidelma war knapp achtzehn Jahre alt und noch nie zu einem großen Fest wie dem von Tara gewesen. Sie und ihre Gefährtinnen aus Moranns Rechtsschule schoben sich durch die sich drängende Menge, betrachteten die Stände, an denen Essen und Trinken aller Art verkauft wurde und auch Waren aus fernen Ländern. Ab und zu bestaunten sie die Künste der Clowns und Jongleure, während Musiker und Sänger ein nicht unangenehmes Durcheinander von Tönen hervorbrachten.
Fidelma und ihre Freundinnen blieben vor einem der Jongleure stehen, der neun scharfe kurze Schwerter in den Händen hielt, die er eins nach dem anderen in die Luft warf, wobei er keines auf den Boden fallen ließ, sondern alle auffing und immer wieder emporschleuderte, ohne sich zu verletzen. Das schwirrende Geräusch, das die Schwerter in der Luft erzeugten, erinnerte an das Summen von Bienen.
Brausender Beifall lockte Fidelma und ihre Gefährtinnen an den Rand einer Menge, die einen Rasenplatz umstand, auf dem ein immän-Spiel im Gange war. Jeder Spieler war mit einem hölzernen camän bewaffnet, einem über einen Meter langen Stock aus Eschenholz, der sorgfältig bearbeitet und geglättet war, das untere Ende flach und gebogen. Damit versuchte er einen mit Wolle gefüllten Lederball zu schlagen. Der Name des Spiels bedeutete »Treiben«, während der Stock seinen Namen von dem Wort cam herleitete, das seinen gebogenen Teil beschrieb.
Eine der beiden Mannschaften hatte gerade ein Tor erzielt, und als die jungen Studentinnen sich durch die Menge drängten, begann das Spiel von neuem damit, daß der Ball in der Mitte des Feldes in die Luft geworfen wurde. Die beiden Mannschaften standen an gegenüberliegenden Seiten des ebenen, grasbewachsenen Rechtecks, liefen nun los und bemühten sich, den Ball durch ihre Gegner hindurch in das von zwei Pfosten gebildete schmale Tor zu treiben.
Fidelmas Gruppe wartete, bis noch ein weiteres Tor gefallen war, und setzte dann in bester Stimmung ihren Weg fort. Es war ein glücklicher, sorgloser Tag, obgleich Fidelma im stillen wußte, daß ihr Lehrer, Brehon Morann, hoffte, seine Schülerinnen würden sich nicht nur auf dem Fest vergnügen, sondern auch den großen Debatten über die Gesetze lauschen und so ihr Wissen darüber erweitern. Daran wollte Fidelma gerade ihre Gefährtinnen erinnern, als sie sich in einer Menge wiederfanden, die den Beginn eines Pferderennens erwartete.
Cian war ihr sofort aufgefallen.
Er war nur ein oder zwei Jahre älter als sie und eine glänzende Erscheinung, groß, mit kastanienbraunem bis fast rötlichem Haar. Er hatte ein angenehmes Gesicht, war muskulös, und seine Kleidung verriet einen gewissen Rang. Für das Rennen hatte er sich leicht gekleidet in Hose und Hemd aus Leinen in verschiedenen Farben und einen kurzen Mantel aus gewebter Wolle mit Biberpelzbesatz. Er saß auf einem prächtigen, großartig gebauten Hengst, der wie sein Reiter kastanienbraun war, aber mit einem weißen Fleck auf der Stirn.
Die anderen Reiter, die sich neben Cian aufstellten, nahm Fidelma überhaupt nicht wahr. Sie schaute starr zu ihm auf, seltsam angezogen von seiner Jugend und Vitalität. Als er ihren Blick bemerkte, sah er ihr in die Augen und lächelte. Es war ein warmes, offenes Lächeln.
Dann ertönte der Ruf des Rennleiters, eine Flagge wurde gehoben, flatterte einen Moment über ihren Köpfen und senkte sich plötzlich. Unter den Anfeuerungsrufen der Menge stürmten die Pferde davon.
»Was für ein prächtiger Kerl!« flüsterte Fidelmas Gefährtin Grian. Grian war etwas älter als Fidelma und ihre beste Freundin in der Rechtsschule des Bre-hon Morann. Sie war eine gute Studentin, hatte aber einen frivolen Zug und schätzte den Genuß höher als ernsthaftes Studium, wenn sie zwischen beiden zu wählen hatte.
Gegen ihren Willen wurde Fidelma rot.
»Wen meinst du?« fragte sie möglichst harmlos.
»Den jungen Mann, mit dem du eben ein Lächeln getauscht hast«, neckte sie Grian.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, antwortete Fidelma und lief noch röter an.
Grian wandte sich an einen kleinen älteren Mann, der einen bestimmten Reiter angefeuert hatte.
»Weißt du, wer die Reiter sind?« fragte sie ihn.
Der Mann hörte mit seinem Rufen auf und sah sie erstaunt an.
»Würde ich denn auf das Ergebnis des Rennens wetten, wenn ich das nicht wüßte?« erwiderte er.
»Namen der Reiter, die Pferde und ihre Form, das ist das erste, wonach ich mich erkundige, bevor ich überhaupt herkomme.«
Grian lächelte einnehmend. »Dann kannst du uns vielleicht sagen, wie der Braune mit der weißen Blesse auf der Stirn heißt und wer ihn reitet?«
»Der junge Mann in dem roten Mantel?«
»Ja, genau der.«
»Ganz einfach. Der Braune heißt Diss .«
Hier mischte sich Fidelma ein. »Diss? Aber das bedeutet doch >schwach< oder >gebrechlich«
Der Mann tippte sich an die Nase und lächelte schlau: »Weil das Pferd eben alles andere als schwach oder gebrechlich ist.«
Diese Logik verwirrte Fidelma.
Grian ließ sich nicht ablenken und drängte: »Wie heißt also der Reiter?«
»Dem Reiter gehört auch das Pferd«, erwiderte der Mann. »Er heißt Cian.«
»Ein Häuptlingssohn, dem Aussehen nach«, bemerkte Grian verschmitzt.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nicht daß ich wüßte. Er ist aber ein Krieger, er dient in der Leibgarde des Großkönigs.«
Grian warf Fidelma einen triumphierenden Blick zu.
Die Anfeuerungsrufe wurden immer lauter, und das Donnern der Hufe kam wieder näher. Die Reiter hatten die Rundstrecke beinahe zurückgelegt und näherten sich dem Zielpfosten.
Fidelma beugte sich vor, um das Feld zu sehen.
Der große Braune lag dicht hinter der führenden weißen Stute, und sein Reiter beugte sich tief über den Pferdehals. Beifall brandete auf, als Cian und sein Pferd Diss weiter aufholten, aber sie wurden von der weißen Stute und ihrem Reiter ganz knapp geschlagen.
Fidelma fühlte sich vorwärtsgeschoben, als die Menge an den Sieger herandrängte. Grian hing an ihrem Arm, und sie merkte, daß ihre Gefährtin sie ebenso nach vorne schob wie der Druck der Menge. Grian steuerte sie aber nicht auf den Sieger zu, sondern dort hin, wo Cian von seinem Hengst stieg.
»Was machst du denn?« protestierte Fidelma.
»Du willst ihn doch kennenlernen, nicht wahr?« erwiderte ihre Freundin selbstsicher.
»Nein, ich ...« Aber ehe sie weitere Einwände erheben konnte, befand sie sich schon in einer kleinen Gruppe, die den hübschen jungen Reiter bedauerte, weil er so knapp geschlagen worden war.
Cian lächelte freundlich und nahm ihre Komplimente entgegen. Als er Fidelma und ihre Gefährtin erblickte, wandte er sich ihnen mit einem breiten Lächeln zu. Mit hochroten Wangen senkte Fidelma den Blick und war wütend, weil sie in solch eine peinliche Situation geraten war.
Cian nahm die Zügel über den Arm und kam auf sie zu.
»Hat den Damen das Rennen gefallen?« erkundigte er sich. Fidelma fiel sofort auf, daß er eine angenehme, klangvolle Tenorstimme besaß.
»Ein großartiges Rennen!« antwortete Grian für sie beide. »Aber meine Freundin wunderte sich, daß dein Pferd Diss heißt. Deswegen wollte sie dich unbedingt treffen«, fügte sie mit mutwilligem Humor hinzu.
Der Reiter lachte vergnügt. »Es wird schwach genannt, ist aber stark und keineswegs winzig. Das ist eine lange Geschichte - vielleicht nehmen wir zusammen eine Erfrischung zu uns, wenn ich meinen Hengst versorgt und mich gewaschen habe?«
»Tut mir leid, aber .« wollte Fidelma ablehnen, als ihre Freundin sie heftig am Arm zog.
»Aber sehr gern«, antwortete Grian rasch und mit einem Lächeln, das Fidelma in Verlegenheit brachte.
»Ausgezeichnet«, erwiderte Cian. »Dann treffen wir uns in fünfzehn Minuten dort drüben an dem Zelt mit dem gelbseidenen Banner darauf.«
Er wandte sich ab und führte sein Pferd fort. Im Vorübergehen klopften ihm manche Leute auf die Schulter. Er schien sehr beliebt zu sein.
Zornig fuhr Fidelma ihre Freundin an.
»Wie konntest du das tun!« zischte sie gereizt.
Grian blieb unbeeindruckt.
»Weil ich dich kenne. Natürlich wolltest du ihn kennenlernen! Leugne das doch nicht. Statt mich anzufauchen, solltest du froh sein, daß du eine Freundin wie mich hast.«
Im tiefsten Innern wußte Fidelma, daß Grian recht hatte. Sie hatte wirklich den hübschen Krieger kennenlernen wollen.
Die Erinnerung an diese Begegnung kam und ging im selben Augenblick, aber sie stand ihr kristallklar vor Augen.
Jetzt, in der Dunkelheit des unteren Längsgangs der »Ringelgans«, starrte Fidelma den hochgewachsenen Mann an, den die schaukelnde Laterne beleuchtete, und wurde von dem Konflikt ihrer Gefühle fast überwältigt. Sie nahm kaum wahr, daß er eine Mönchskutte trug. Er stand in der Tür seiner Kajüte, hielt sich mit einer Hand am Türrahmen fest, und sein hübsches Gesicht zeichnete sich gegen die sich jagenden Schatten ab.
Sie erkannte, daß er älter aussah, auch reifer, und doch hatten sich seine Züge kaum verändert. Die Jahre hatten sein angenehmes Äußeres stärker ausgeprägt und - sie gab es ungern zu - ihn noch attraktiver gemacht.
»Fidelma!« Seine Stimme klang lebhaft. »Du hier? Ich kann es kaum glauben!«
Es wäre so einfach, auf dieses strahlende Lächeln einzugehen. Sie kämpfte einen Moment mit der Versuchung, und es gelang ihr, eine ausdruckslose Miene aufzusetzen. Erleichtert stellte sie fest, daß sie ihre Gefühle unter Kontrolle hatte.
»Es ist eine Überraschung, dich hier zu sehen, Ci-an«, antwortete sie in gemessenem Ton. Dann setzte sie hinzu: »Was machst du denn auf einem Pilgerschiff?«
In dem Moment, als sie die Frage stellte, bemerkte sie plötzlich, daß er in braunen Wollstoff gekleidet war und ein bronzenes Kruzifix an einer Lederschnur um den Hals trug.
Cian stutzte bei ihrem kühlen, sachlichen Ton und setzte ein schiefes Lächeln auf. Ein bitterer Ausdruck überflog sein hübsches Gesicht.
»Ich bin auf einem Pilgerschiff aus dem einfachen Grunde, weil ich ein Pilger bin.«
Fidelma schaute ihn spöttisch an. »Ein Krieger der Leibgarde des Großkönigs, ein Krieger der Fianna, geht auf Pilgerfahrt? Das ist kaum zu glauben.«
Lag es an dem unsicheren Licht, oder sah er seltsam aus?
»Das liegt daran, daß ich kein Krieger mehr bin.«
Trotz ihrer abweisenden Reaktion auf dieses Wiedersehen wollte Fidelma mehr erfahren.
»Willst du damit sagen, du hättest die Truppe des Großkönigs verlassen, um in einen Mönchsorden einzutreten? Das glaube ich dir nicht. Religion bedeutete dir nie etwas.«
»Kannst du mein ganzes Leben voraussagen? Darf ich meine Meinung nicht ändern?« Sein Ton wurde plötzlich feindselig. Fidelma beeindruckte das nicht. Sie hatte seine Ausbrüche in ihrer Jugend oft genug erlebt.
»Ich kenne dich sehr gut, Cian. Ich habe diese Kenntnis teuer genug erworben - oder erinnerst du dich nicht mehr daran? Ich jedenfalls weiß das noch. Ich konnte es wohl kaum vergessen.«
Sie wandte sich der Kajüte zu, die Wenbrit ihr gezeigt hatte, als Cian die Hand vom Türrahmen nahm, mit der er sich abgestützt hatte, und nach ihr langte. Durch die Bewegung des Schiffes kam er ins Straucheln. Wieder mußte er sich abstützen.
»Wir müssen miteinander reden, Fidelma«, sagte er eindringlich. »Zwischen uns sollte es keine Feindschaft geben.«
Ein seltsam verzweifelter Ton in seiner Stimme ließ sie aufhorchen. Sie zögerte, aber nur einen Moment lang.
»Wir haben später noch reichlich Zeit dazu, Cian. Es wird eine lange Fahrt . Vielleicht sogar eine zu lange«, fügte sie bissig hinzu.
Sie trat in die Kajüte und schloß die Tür hinter sich, bevor er antworten konnte. Einen Augenblick blieb sie schwer atmend, mit dem Rücken an die Tür gelehnt, stehen und wunderte sich, daß ihr kalter Schweiß ausbrach. Sie hätte nicht gedacht, daß ein Wiedersehen mit Cian nach all den Jahren solche Emotionen in ihr wiedererwecken würde. Nachdem er sie damals verlassen hatte, hatte sie viele Monate gebraucht, um sie zu unterdrücken.
Sie konnte nicht leugnen, daß sie sich bei dieser ersten Begegnung mit Cian auf dem Fest von Tara in ihn vernarrt hatte. Nein, wenn sie ehrlich sein wollte, mußte sie zugeben, daß sie sich in ihn verliebt hatte. Trotz seiner Arroganz, seiner Eitelkeit und seines Stolzes auf seine Tüchtigkeit als Krieger hatte sie sich zum erstenmal in ihrem Leben verliebt. Er hatte alles an sich, was Fidelma verabscheute, aber das half nichts gegen die unwillkürliche Verbindung zwischen ihnen. Ihre Charaktere waren völlig entgegengesetzt, und unweigerlich zogen sie einander an wie Magnete. Das war ein sicheres Rezept für eine Katastrophe.
Cian war ein junger Mann, der auf Eroberungen aus war, und Fidelma war eine junge Frau, die eine romantische Vorstellung von der Liebe hatte. In wenigen Wochen hatte er sie in einen Strudel widerstreitender Gefühle gestürzt. Selbst Grian begriff, daß Cians Werben um Fidelma ganz oberflächlich war. Ihre Freundin war jung, attraktiv und vor allem intelligent - und Ci-an wollte sich dieser Eroberung rühmen. Hatte er Erfolg, würde sie ihm gleichgültig werden. Und Fidelma, ob sie nun intelligent war oder nicht, weigerte sich zu glauben, ihr Liebhaber hätte so niedrige Motive. Daraus ergaben sich viele Streitereien mit Grian.
Plötzlich erklang in dem Dunkel der Kajüte ein so herzzerreißendes Stöhnen, daß Fidelma erstarrte und abrupt in die Gegenwart zurückgerufen wurde. Ihre wirren, bedrückenden Erinnerungen waren vergessen. Einen Moment mußte sie überlegen, wo sie sich befand. Sie hatte die Kajüte betreten, die Wenbrit ihr gezeigt hatte und die sie mit jemand teilen sollte. Nun stand sie hier in der Dunkelheit.
Das Stöhnen hörte sich an, als leide jemand starke Schmerzen.
»Was ist?« flüsterte Fidelma und versuchte die Richtung zu ergründen, aus der der Ton kam.
Erst trat Stille ein, dann rief eine Stimme kläglich: »Ich sterbe!«
Fidelma sah sich rasch um. Es war stockdunkel in der Kajüte.
»Gibt es hier kein Licht?«
»Wer braucht denn Licht zum Sterben?« kam die Erwiderung. »Wer bist du überhaupt? Das hier ist meine Kajüte.«
Fidelma machte die Tür wieder auf, damit ein wenig Licht vom Durchgang hereinfiel. An der Tür fand sie einen Kerzenstumpf, den sie an der Laterne entzündete. Zum Glück war Cian verschwunden.
Als sie nach wenigen Augenblicken zurückkam, sah sie eine Frau in der unteren der beiden Kojen der winzigen Kajüte liegen. Ihre Kutte schien in Unordnung, ihr Gesicht war totenblaß, aber immer noch recht hübsch. Sie war jung, vielleicht Anfang zwanzig. Neben der Koje stand ein Eimer.
»Bist du seekrank?« Sie sagte es mitfühlend und wußte, daß die Frage überflüssig war.
»Ich sterbe«, beharrte die Frau. »Ich möchte allein sterben. Ich wußte nicht, daß es so schlimm ist.«
Fidelma schaute sich rasch um. Sie sah, daß ihr Gepäck auf der anderen Koje lag.
»Das kann ich nicht zulassen, Schwester. Ich teile für diese Fahrt die Kajüte mit dir. Ich heiße Fidelma von Cashel«, fügte sie fröhlich hinzu.
»Du irrst dich. Du gehörst nicht zu meiner Gruppe. Ich habe allen Kajüten zugeteilt und ...«
»Der Kapitän hat mich hier eingewiesen«, erklärte Fidelma rasch, »und nun will ich dir helfen.«
Erst trat Schweigen ein. Dann stöhnte die junge blasse Schwester laut auf.
»Mach das Licht aus. Ich kann kein flackerndes Licht ertragen. Und geh weg und sag dem Kapitän, ich will allein gelassen werden, damit ich im Dunkeln sterben kann. Ich verlange, daß du weggehst!«
Fidelma holte tief Luft. Das hatte ihr gerade noch gefehlt, mit einer jammernden eingebildeten Kranken zusammengesperrt zu sein.
»Es würde dir sicher besser gehen, wenn du oben auf Deck wärst statt in dieser Enge hier«, erwiderte sie. »Wie heißt du übrigens?«
»Muirgel.« Die Stimme war kaum mehr als ein Ächzen. »Schwester Muirgel aus Moville.«
Fidelma hatte schon von der Abtei gehört, die der heilige Finnian vor hundert Jahren am Ufer des Loch Cüan in Ulaidh gegründet hatte.
»Nun, Schwester Muirgel, wir wollen sehen, was wir für dich tun können«, sagte Fidelma entschlossen.
»Laß mich in Frieden sterben, Schwester«, jammerte die Kranke. »Kannst du dir nicht eine andere Kajüte für deine Fröhlichkeit suchen?«
»Du brauchst Luft, frische Seeluft«, ermahnte sie Fidelma. »Die Dunkelheit und die stickige Luft in dieser Kajüte machen deine Krankheit nur noch schlimmer.«
Die Gestalt in der Koje würgte jämmerlich und gab keine Antwort.
»Ich habe gehört, wenn man den Blick fest auf den Horizont richtet, hört die Seekrankheit allmählich auf«, riet ihr Fidelma.
Schwester Muirgel versuchte den Kopf zu heben.
»Bitte laß mich einfach in Frieden«, stöhnte sie und fügte bockig hinzu: »Geh weg und ärgere jemand anders.«