Kapitel 11

Als nächstes, beschloß Fidelma, sollte sie mit dem bre-tonischen Steuermann Gurvan reden, der das Schiff gründlich abgesucht hatte. Sie fragte Murchad, wo er zu finden sei, und der Kapitän antwortete, er sei unten und kalfatere. Sie wußte zwar nicht, was das heißt, doch Murchad winkte Wenbrit heran und befahl ihm, Fidelma zu Gurvans Arbeitsplatz zu führen.

Gurvan befand sich im vorderen Teil des Schiffes, wo offensichtlich Vorräte aufbewahrt wurden. Dieser Teil lag noch weiter vorn als der Raum, in dem die Matrosen der »Ringelgans« ihre Hängematten an den Decksbalken befestigten, so daß sie mit den Bewegungen des Schiffes hin und her schwangen. Einige von ihnen schliefen gerade darin, erschöpft von den Anstrengungen der durchwachten Sturmnacht. Wenbrit schlängelte sich zwischen ihnen hindurch und leuchtete ihr bis zu einer Kajüte, die mit Kisten und Fässern angefüllt war.

Gurvan hatte ein paar Kisten beiseite geschoben, um an die Schiffswand zu kommen. Auf den Kisten stand eine Laterne, und er hatte einen Eimer mit etwas, was wie Schlamm aussah, vor sich und schmierte die Masse zwischen die Planken. Wenbrit verließ sie, nachdem sie ihm versichert hatte, daß sie den Rückweg zum Hauptdeck finden werde.

Gurvan fuhr mit seiner Arbeit fort, und Fidelma hockte sich neben ihn. Sie beobachtete, daß hier und da kleine Rinnsale zwischen den Planken hereinkamen, und es wurde ihr klar, daß auf der anderen Seite dieser Planken das Meer war.

»Ist es gefährlich?« flüsterte sie. »Dringt die See ein?«

Gurvan grinste.

»Du meine Güte, nein, Lady. Sickerstellen treten auch bei den besten Schiffen auf, besonders nach einer so rauhen Fahrt, wie wir sie hatten, erst den Sturm und dann die Durchfahrt durch das Neck. Es ist schon ein Wunder, daß nicht ein paar Planken eingedrückt wurden. Aber das hier ist ein gutes und festes Schiff. Die Planken sind karweelgebaut und halten viel aus.«

»Und was machst du hier?« Sie war noch nicht ganz überzeugt und wollte nicht eingestehen, daß sie keine Ahnung hatte, was »karweelgebaut« bedeutete.

»Das nennt man kalfatern, Lady.« Er wies auf den Eimer. »Das sind Haselnußblätter. Ich drücke sie in die Spalten zwischen den Planken, und das macht sie wasserdicht.«

»Es sieht so ... so dünn aus gegenüber solch tobender See.«

»Es ist eine bewährte und zuverlässige Methode«, versicherte ihr Gurvan. »Die großen Schiffe unserer Vorfahren, der Veneter, gingen mit solcher Kalfaterung in die Schlacht gegen Julius Caesar. Aber du bist nicht hier heruntergekommen, um mich nach dem Kalfatern zu fragen, nicht wahr?«

Zögernd nickte Fidelma.

»Nein. Ich wollte dich fragen, wie du nach Schwester Muirgel gesucht hast.«

»Nach der Nonne, die über Bord ging?« Gurvan hielt inne und schien seine Arbeit zu prüfen. Dann sagte er: »Der Kapitän gab mir den Auftrag, nach ihr zu suchen. Auf einem Schiff von vierundzwanzig Meter Länge gibt es nicht viele Stellen, an denen sich ein Mensch verbergen kann, ob zufällig oder absichtlich. Es war bald klar, daß sich die Frau nicht an Bord befand.«

»Du hast überall gesucht?«

Gurvan lächelte geduldig.

»Überall, wo sich jemand verstecken könnte, wenn er wollte. An einer Stelle allerdings nicht, weil ich annahm, daß eine Frau da nicht reinginge, nämlich in der Bilge, das ist der Kielraum des Schiffes, in dem sich gewöhnlich Ratten, Mäuse und Abfall ansammeln.«

Fidelma erschauerte unwillkürlich. Gurvan lächelte etwas sadistisch bei ihrer Reaktion.

»Nein, Lady, außer in den Kajüten der Passagiere, die ja schon abgesucht waren, habe ich überall nachgeschaut. Es blieb nur die Folgerung, daß die arme Frau über Bord fiel.«

»Vielen Dank, Gurvan.« Fidelma erhob sich und ging durch das Schiff zurück.

Eigentlich hatte sie Schwester Gorman nicht als nächste befragen wollen, doch als sie an ihrer Kajütentür vorbeikam, klopfte sie an und blickte hinein. Schwester Gorman saß auf ihrer Koje und sah blaß und unglücklich aus.

»Störe ich?« fragte Fidelma, als sie auf Gormans Einladung eintrat.

»Schwester Fidelma.« Das junge Mädchen blickte nervös auf. »Ich lasse mich gern stören. Diese Reise verläuft nicht so, wie ich es erwartet hatte.«

»Was hattest du denn erwartet?« fragte Fidelma und setzte sich.

»Ach.« Das Mädchen hielt inne, als müsse es darüber nachdenken. »Ich glaube, alles läuft immer anders, als man denkt, aber eine Pilgerfahrt, eine Reise zu einem Schrein, in dem ein Heiliger liegt, der noch den lebendigen Christus gekannt hat . Sollte das nicht eine ganz bedeutsame, erregende Fahrt sein?«

»Ist diese Fahrt nicht erregend genug? Nach all den Zwischenfällen hätte ich das angenommen.« Fidelma behielt einen leichten Ton bei.

Schwester Gorman kniff die Lippen zusammen. Als sie nicht antwortete, änderte Fidelma ihren Ton und wurde ernst. Sie rückte näher zu dem Mädchen heran.

»Der Verlust von Schwester Muirgel ist sicherlich ein schwerer Schlag für eure Gruppe.«

Das Mädchen rümpfte verächtlich die Nase.

»Ach die!« sagte sie voller Abscheu.

Fidelma griff das sofort auf.

»Mir scheint, du warst keine Freundin von Schwester Muirgel?«

»Es tut mir leid, daß sie tot ist«, erwiderte Schwester Gorman abweisend.

»Aber du mochtest sie nicht?«

»Ich fühle mich nicht schuldig, weil ich sie nicht mochte.«

»Meint jemand, du solltest dich schuldig fühlen?«

»Wenn jemand stirbt, fühlt man sich immer schuldig, falls man böse Gedanken gegen ihn gehegt hat.«

»Und du hast böse Gedanken gehegt?«

»Hat das nicht jeder gemacht?«

»Das weiß ich nicht, weil ich eine Fremde bin. Ich dachte, ihr wärt alle Pilger, die zusammen reisen.«

»Das stimmt. Es bedeutet aber nicht, daß wir uns alle mögen. Ich hab mit keinem in der Gruppe etwas gemein außer . « Sie hielt kurz inne und fuhr rasch fort: »Jedenfalls hat mich Schwester Muirgel schikaniert, und ich - ich habe sie gehaßt!«

Die Worte wurden noch dadurch betont, daß Schwester Gorman sie beinahe hinausspuckte. Fidelma sah sie ernst an.

»Und nun glaubst du, wegen dieses Hasses müßtest du dich schuldig fühlen?«

»Das tue ich aber nicht.«

»Weshalb hast du sie eigentlich gehaßt, Schwester Gorman?«

Das Mädchen saß da und überlegte.

»Sie hackte immer auf mir herum, weil ich jung war und aus einer armen Familie kam. Mein Vater war kein Fürst, sondern Gastwirt. Ich lernte etwas lesen und ging dann in die Abtei Moville, um weiter zu studieren. Muirgel und Crella zwangen mich dazu, ihr Dienstmädchen zu sein.«

»Sie zwangen dich?« Fidelma war nicht so naiv, daß sie nicht wußte, daß man hinter den Mauern von Abteien und Klöstern nicht nur freundlich miteinander umging, so wie in jeder anderen Anstalt. »Beide Schwestern, Muirgel und Crella, schikanierten dich?«

»Schwester Muirgel fing an, und Schwester Crella machte es ihr nach. Muirgel war immer die Anführerin dabei.«

»Demnach empfindest du keine Trauer über ihren Tod?«

»Heißt es nicht im Brief des Apostels Paulus an die Römer: >Segnet, die euch verfolgen; segnet, und fluchet nicht.< Wenn das so ist, dann ist meine Seele verloren. Aber das ist mir gleich.«

Fidelma lächelte dünn.

»Nun, unter diesen Umständen bin ich sicher, daß dir solche Gefühle vergeben werden. Es ist das Schwierigste von allem, seine Feinde zu lieben.«

»Aber ist nicht die Fähigkeit, seinen Feinden zu vergeben, eines der wichtigsten Zeichen der Gnade, die uns als von Gott gesegnet erkennen lassen?« fragte das Mädchen hartnäckig.

»Das Thema der Vergebung steht im Mittelpunkt der Evangelien«, erklärte Fidelma. »Die Evangelien lehren uns, daß Christi Bereitschaft, uns zu vergeben, von unserer Bereitschaft abhängt, unseren Feinden zu vergeben. Der alte Mensch muß neu geboren werden als ein liebender Mensch, wenn er in das ewige Reich Gottes aufgenommen werden soll.«

Schwester Gorman sah schmerzlich berührt aus.

»Dann lastet mein Schicksal schwer auf mir.«

»Doch jetzt, nachdem Muirgel tot ist . « begann Fidelma.

»Ich kann Schwester Muirgel das Leid, das sie mir zugefügt hat, immer noch nicht vergeben.«

Fidelma lehnte sich nachdenklich zurück.

»Wenn du sie gehaßt hast, wie du sagst, warum bist du dann mit auf diese Pilgerfahrt gegangen?«

»Es war ja Schwester Canair, die die Pilgerreise führen sollte. Aber Canair war auch ein schlechter Mensch.«

»In welcher Hinsicht?« Fidelma war überrascht. »Heißt das, daß sie dich ebenfalls schikaniert hat?«

»O nein.« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Schwester Canair hat mich einfach nicht beachtet. Sie nahm mich überhaupt nicht wahr. Wie ich sie alle gehaßt habe! Wie ich gewünscht habe . « Plötzlich erblaßte sie und sah Fidelma angstvoll an. »Ich wollte nicht, daß Schwester Muirgel auf diese Weise sterben sollte. Ich wollte nur, daß sie bestraft würde.«

»Bestraft? Was willst du damit sagen?«

Schwester Gorman blickte ängstlich drein.

»Ich schwöre, so habe ich es nicht gemeint.«

»Was gemeint?« fragte Fidelma. »Was hast du nicht gemeint, Schwester? Willst du damit sagen, daß du etwas mit Muirgels Verschwinden zu tun hast?«

Mit großen Augen starrte das Mädchen Fidelma an, als sei sie entsetzt bei diesem Gedanken.

»Ich habe ihr Böses gewünscht. Ich stand um Mitternacht vor ihrer Kajüte und habe sie verflucht.«

Fidelma wußte nicht, ob sie von dieser dramatischen Offenbarung belustigt oder entsetzt sein sollte.

»Du sagst, du hast um Mitternacht mitten im Sturm vor ihrer Kajüte gestanden und sie verflucht? Meinst du das wirklich?«

Schwester Gorman nickte langsam.

»Ich war dort während des Sturms.«

»Bist du in die Kajüte gegangen?«

»Nein. Ich stand da und fluchte ihr mit den Worten des Psalms.« Sie begann mit klagender Stimme zu rezitieren:

»Ihre Augen müssen finster werden, daß sie nichts sieht,

Und ihre Lenden laß immer wanken.

Gieße deine Ungnade auf sie,

Und dein grimmiger Zorn ergreife sie.

Laß sie in eine Sünde über die andere fallen,

Daß sie nicht komme zu deiner Gerechtigkeit.

Tilge sie aus dem Buch der Lebendigen,

Daß sie mit den Gerechten nicht angeschrieben werde.«

Fidelma staunte über die Heftigkeit in der Stimme des Mädchens und bemühte sich dann, die Sache leicht zu nehmen.

»Das ist aber keine genaue Übersetzung des Psalms neunundsechzig«, meinte sie.

»Aber sie hat gewirkt! Mein Fluch hat gewirkt!« Das Mädchen klang beinahe hysterisch. »Bald darauf muß sie an Deck gegangen und von Gottes rächender Hand über Bord gefegt worden sein.«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Fidelma trocken. »Wenn eine Hand im Spiel war, dann war es eine menschliche Hand.«

Schwester Gorman sah sie einen Moment an, und dann schlug ihre Stimmung plötzlich um. Ihr Blick wurde mißtrauisch.

»Was meinst du damit? Ich dachte, alle sagten, sie sei über Bord gespült worden.«

Fidelma merkte, daß sie mehr verraten hatte, als sie wollte.

»Ich meinte nur, daß dein Fluch und deine Anrufung Gottes nicht dafür verantwortlich waren.«

Schwester Gorman bedachte das einen Moment.

»Aber ein Fluch ist eine schreckliche Sache, und ich muß für meine Sünde Buße tun. Doch ich kann das nicht, indem ich Schwester Muirgel vergebe oder mich selbst schuldig fühle.«

»Erklär mir nur eins, Schwester Gorman«, sagte Fidelma, die sich allmählich ärgerte über die ichbezogene Haltung der jungen Nonne und ihr Festhalten an der Überzeugung, sie sei verantwortlich für Schwester Muirgels Tod. »Du hast also deine Kajüte gegen Mitternacht verlassen?«

Das Mädchen nickte.

»Du teilst die Kajüte mit Schwester Ainder, nicht wahr?«

»Ja.«

»Hat sie gesehen, wie du aus der Kajüte gingst?«

»Sie schlief noch tief. Sie hat einen festen Schlaf. Sie hat mich nicht hinausgehen sehen.«

»Der Sturm tobte bereits?«

»Ja.«

»Deine Kajüte liegt an der Treppe oder wie immer das heißt. Du sagst also, du bist den Gang entlang bis zu ihrer Kajüte gegangen und hast niemanden gesehen oder getroffen?«

Schwester Gorman schüttelte den Kopf.

»Um die Zeit war niemand unterwegs«, bestätigte sie. »Der Sturm war sehr schlimm.«

»Und nach deinen Worten hast du vor ihrer Tür gestanden, bist nicht hineingegangen, sondern hast sie verflucht. Hat das niemand gehört?«

»Der Sturm war noch im Anschwellen. Ich glaube, selbst jemand, der neben mir stand, hätte mich nicht gehört.«

Fidelma sah sie an und hatte Mühe, ihr zu glauben. Es schien so absonderlich, aber oft war das Unglaubliche die Wahrheit und das Einleuchtende die Lüge.

»Wie lange hast du an der Kajütentür gestanden bei deinem sogenannten Verfluchen?« wollte sie wissen.

»Ich bin nicht sicher. Nicht lange, vielleicht eine Viertelstunde. Ich weiß es nicht.«

»Was tatest du, als du fertig warst damit?«

»Ich ging in meine Kajüte zurück. Schwester Ain-der schlief noch, und der Sturm tobte. Ich lag auf meiner Koje, schlief aber erst ein, als der Sturm nachließ.«

»Von draußen hörtest du nichts?«

»Ich glaube, ich hörte, wie die Tür der Kajüte gegenüber zugeschlagen wurde. Ich war gerade beim Einschlafen und wurde kurz noch einmal wach.«

»Wie kannst du das beim Tosen des Sturms gehört haben? Du sagtest gerade, niemand hätte dich hören können. Wie konntest du dann das Schließen einer Kajütentür hören?«

Schwester Gorman schob streitlustig das Kinn vor.

»Ich hörte es, weil es nach dem Abflauen des Sturms war.«

»Na gut«, meinte Fidelma. »Ich wollte nur sichergehen, daß ich dich richtig verstanden habe. Und diese Kajütentür, die du zuschlagen hörtest, war die gegenüber?«

»Die der Kajüte von Cian und Bairne.«

»Aha. Dann schliefst du wieder ein und wurdest nicht mehr gestört?«

Schwester Gorman sah beunruhigt aus. »Mein Fluch hat sie getötet, verstehst du? Ich glaube, ich werde dafür bestraft.«

Fidelma stand auf und sah das Mädchen mitleidig an. Schwester Gorman war unverkennbar labil. Sie brauchte dringend Hilfe von ihrer Seelenfreundin, der Gefährtin, die dafür da war, sich ihre Probleme anzuhören und sie mit ihr zu besprechen. Jeder in den Kirchen der fünf Königreiche wählte sich einen anam-chara, einen Seelenfreund.

»Du kennst wohl das alte Sprichwort nicht«, versuchte sie das Mädchen zu beruhigen: »Tausend Flüche zerreißen noch kein Hemd.«

Gorman blickte zu ihr auf.

»Ich habe Schwester Muirgel verflucht und ihr den Tod gebracht. Nun muß ich mich selbst verfluchen.«

Sie wiegte sich vor und zurück, die Arme um den Leib geschlungen, und sang leise vor sich hin:

»Der Tag müsse verloren sein, darin ich geboren bin,

Und die Nacht, welche sprach: Es ist ein Kind empfangen!

Derselbe Tag müsse finster sein, und Gott von oben herab

Müsse nicht nach ihm fragen; Kein Glanz müsse über ihn scheinen!

Finsternis und Dunkel müssen ihn überwältigen,

Und dicke Wolken müssen über ihm bleiben,

Und der Dampf am Tage mache ihn gräßlich!

Die Nacht müsse Dunkel einnehmen;

Sie müsse sich nicht unter den Tagen des Jahres

freuen Noch in die Zahl der Monden kommen!

Siehe die Nacht müsse einsam sein

Und kein Jauchzen darin sein!

Es müssen sie verfluchen ...«

Fidelma verließ das wirre junge Mädchen, das weiter vor sich hin sang, und ging fort mit einem Gefühl leichten Ekels. Welche der anderen merkwürdigen Nonnen sollte sie bitten, sich um Schwester Gorman zu kümmern? Das Mädchen brauchte Hilfe, aber Fidelma konnte diese Verantwortung jetzt nicht übernehmen. Es schien auch niemand sonst dazu geeignet. Schwester Ainder besaß nicht genug Mitgefühl, und Crella war selbst zu jung. Fidelma würde später nach ihr sehen müssen. Erst mußte sie noch Dathal, Adamrae, Bairne und Tola befragen.

Plötzlich fiel Fidelma auf, daß es ein Mitglied der Pilgerschar gab, das sie überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Es war Bruder Guss. Seit er an Bord gekommen war, hatte er seine Kajüte nicht verlassen, nicht einmal, als Murchad bei der gefährlichen Durchfahrt durch die Felsen alle an Deck beordert hatte. Er teilte eine Kajüte mit Bruder Tola. Sie hatte gesehen, daß Bruder Tola am Wasserfaß neben dem Großmast saß und las und hielt es für eine günstige Gelegenheit, sich den ihr bisher unbekannten Mönch vorzunehmen.

Sie klopfte an seine Kajütentür und wartete.

Man hörte, wie sich drinnen jemand bewegte, und dann eine Weile nichts. Sie klopfte erneut. Es kam eine leise Antwort, sie trat ein und blieb stehen, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit in der Kajüte gewöhnt hatten. Die schattenhafte Gestalt eines Mannes saß auf einer Koje.

»Bruder Guss, nehme ich an?«

Sie sah, wie der Mönch das Gesicht in ihre Richtung wandte.

»Ich bin Guss«, erwiderte er mit zitternder Stimme.

»Können wir hier etwas Licht bekommen?« fragte Fidelma und wartete die Antwort nicht ab, sondern nahm eine Laterne vom Gang und stellte sie in die Kajüte.

Beim Licht sah man, daß der Mönch noch jung war. Mehrere Dinge fielen ihr an ihm auf, das zerzauste rötliche Haar, die Sommersprossen auf seiner hellen Haut, seine angstvollen großen blauen Augen und seine hohe, sehnige Gestalt. Als sie ihm in die Augen schaute, senkte er wie ein schuldbewußtes Kind den Blick.

»Wir haben dich weder an Deck noch bei den Mahlzeiten gesehen«, begann sie und setzte sich neben ihm auf die Koje. »Bist du noch seekrank?«

Bruder Guss schaute sie mißtrauisch an. »Ich war krank - seekrank. Wer bist du?«

»Ich heiße Fidelma. Fidelma von Cashel.«

»Bruder Tola hat von dir gesprochen. Ich war krank«, wiederholte er.

»Das habe ich gehört. Aber jetzt geht es dir besser?«

Er antwortete nicht.

»Die See ist jetzt viel ruhiger, und es ist nicht gut, sich so lange in der Kajüte einzuschließen. Du mußt an Deck gehen und frische Luft schöpfen. Ich habe dich nicht einmal an Deck gesehen, als alle nach oben beordert wurden.«

»Ich dachte nicht, daß die Anordnung auch für mich galt.«

»Wußtest du nichts von den Gefahren?«

Der junge Mann antwortete nicht und sah sie weiter argwöhnisch an.

»Guss ist ein ungewöhnlicher Name«, begann Fidelma von neuem. »Es ist ein sehr alter Name, nicht wahr?« Am besten lockte man ihn aus seiner Defensive heraus, indem man ihn zum Reden brachte.

Der junge Mann neigte leicht den Kopf.

»Er bedeutet, wenn ich mich richtig erinnere, Kraft oder Wildheit. Vermutlich nennen dich die Leute Gu-san?« fügte sie hinzu und benutzte die Verkleinerungsform. Die Anspielung auf seine Jugend sollte ihn reizen.

Tatsächlich reagierte er mit einem finsteren Blick.

»Ich heiße Guss«, erwiderte er verärgert.

»Und du kommst aus der Abtei Moville?«

»Ich studiere in der Abtei«, bestätigte er. Er war wohl kaum mehr als zwanzig Jahre alt.

»Was studierst du?«

»Ich studiere die Sternkunde unter dem Ehrwürdigen Cummian und helfe bei der Aufzeichnung der Himmelserscheinungen.« Trotz seiner kläglichen Haltung klang Stolz aus seiner Stimme.

»Cummian? Der lebt also noch?« fragte Fidelma verwundert.

Der junge Mann runzelte die Stirn.

»Kennst du den Ehrwürdigen Cummian?«

»Ich kenne sein hohes Ansehen. Er studierte bei Mo Sinu maccu Min, dem großen Abt von Bangor, und er hat viele Bücher über astronomische Berechnungen geschrieben. Er muß aber schon sehr alt sein. Du bist Student bei ihm?«

»Einer seiner Studenten«, ergänzte Guss stolz.

»Doch ich habe schon den fünften Grad der Weisheit erreicht.«

»Ausgezeichnet. Es ist gut zu wissen, daß wir jemanden an Bord haben, der die Gestirne kennt und uns den Weg zurück über dieses stürmische Meer berechnen kann.«

So ermutigte ihn Fidelma, lockte ihn aus der Reserve und bemühte sich, seine anfangs feindselige Reaktion auf ihr Eindringen abzubauen. Sie bemerkte, daß er immer wieder mit der rechten Hand den linken Arm massierte. Auf dem Ärmel war ein dunkler Fleck.

»Du hast dich anscheinend am Arm verletzt«, meinte sie voller Mitgefühl. »Ist es eine Schnittwunde? Soll ich sie mir mal ansehen?«

Er errötete und machte ein finsteres Gesicht. »Nur ein Kratzer, weiter nichts.« Dann verfiel er in Schweigen.

Fidelma fragte weiter. »Weshalb bist du auf diese Pilgerfahrt gegangen, Bruder Guss?«

»Wegen Cummian.«

»Das verstehe ich nicht. Hat Cummian dir gesagt, du sollst auf diese Fahrt gehen?«

»Cummian hat einmal eine Pilgerfahrt zum Schrein des heiligen Jakobus unternommen und mir geraten, ich sollte für meine Ausbildung diese Fahrt auch machen.«

»Um fremde Länder zu sehen?« vermutete Fidelma.

Der junge Mann schüttelte überlegen den Kopf.

»Nein, um die Sterne zu sehen.«

Fidelma mußte einen Moment nachdenken, ehe sie begriff, was er meinte.

»Zum Schrein des heiligen Jakobus vom Sternen-feld?«

»Cummian sagt, wenn man an dem Schrein steht, kann man in den klaren Nachthimmel hinaufschauen und den Weg der Weißen Kuh erkennen, der sich direkt bis zu den Königreichen von Eireann erstreckt. Man sagt, daß unsere Ahnen vor mehr als tausend Jahren dem Weg der Weißen Kuh folgten und so an die Küsten des Landes gelangten, das sie besiedelten.« Kurz klang Begeisterung in seinen Worten auf.

Fidelma wußte, daß der Weg der Weißen Kuh unter vielen Namen beschrieben wurde. Im Lateinischen hieß er Circulus Lacteus, die Milchstraße.

»Deswegen heißt der Ort ja Sternenfeld, weil die Sterne so klar sichtbar sind«, fügte er hinzu.

»Also schlug Cummian vor, du solltest auf diese Pilgerfahrt gehen?«

»Als Schwester Canair ankündigte, sie wolle die Reise organisieren, sorgte Cummian dafür, daß ich sie begleiten konnte.«

»Du kanntest aber Schwester Canair schon?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, ich lernte sie erst kennen, als Cummian mich ihr vorstellte. Wir Studenten der Sternkunde kommen nicht viel mit den anderen Abteilungen der Gemeinschaft zusammen.«

»Also kanntest du niemanden aus dieser Pilgergruppe?«

Bruder Guss runzelte die Stirn.

»Die Brüder Cian, Dathal, Adamrae und selbst Bruder Tola kannte ich nicht. Sie kommen alle aus Bangor. Einige der anderen kannte ich vom Sehen.«

»Schwester Crella zum Beispiel?«

Ein Ausdruck des Abscheus huschte über sein Gesicht.

»Crella kenne ich.«

Rasch beugte sich Fidelma vor.

»Du magst sie aber nicht?«

Guss wurde merklich vorsichtig.

»Es steht mir nicht zu, jemand zu mögen oder nicht zu mögen.«

»Doch du magst sie nicht«, wiederholte Fidelma. »Gab es dafür einen besonderen Grund?«

Guss zuckte die Achseln, sagte aber nichts.

Fidelma versuchte ihn anders zu nehmen.

»Kanntest du Schwester Muirgel gut?«

Bruder Guss stutzte und verschloß sich wieder.

»Ich habe sie ein paarmal in der Abtei getroffen, bevor die Pilgerfahrt angekündigt wurde.« In seiner Stimme schwang Spannung mit. Fidelma versuchte sie zu deuten.

»Du mochtest Muirgel?«

»Das leugne ich nicht«, erwiderte er.

»Mehr als das?« riet sie.

Mit steinerner Miene blickte er Fidelma in die Augen. Er zögerte mit der Antwort.

»Ich sagte - ich mochte sie!« Das klang wie ein Protest.

Fidelma überlegte einen Moment, was wohl in ihm vorgehen mochte.

»Nun, daran ist nichts verkehrt«, meinte sie. »Was hielt sie von dir?«

»Sie erwiderte meine Gefühle«, sagte er ruhig.

»Es tut mir leid.« Fidelma legte ihm unwillkürlich die Hand auf den Arm. »Ich war zu aufdringlich. Der Kapitän hat mich ersucht, die Umstände ihres Todes zu untersuchen, deshalb muß ich solche Fragen stellen. Das verstehst du doch, nicht wahr?«

»Die Umstände ihres Todes?« Der junge Mann konnte tatsächlich lachen, aber es war ein hartes, mißtönendes Bellen. »Die Umstände ihres Todes kann ich dir erklären. Sie wurde ermordet!«

Fidelma starrte in sein zorniges Gesicht, dann sagte sie ruhig: »Du glaubst also nicht daran, daß sie einfach über Bord gespült wurde? Und was, glaubst du, ist wirklich mit ihr passiert, Bruder Guss?«

»Ich weiß es nicht!« Kam seine Antwort etwas zu rasch?

»Und warum sollte sie möglicherweise jemand ermordet haben?«

»Aus Eifersucht vielleicht.«

»Wer war eifersüchtig? Wer könnte sie ermordet haben?« forschte Fidelma. Plötzlich fiel ihr ein, daß Schwester Crella bei dem Gedenkgottesdienst Bruder Bairne vorgeworfen hatte: »Du warst bloß eifersüchtig.« So hatten ihre Worte gelautet. Fidelma beugte sich vor. »War Bruder Bairne eifersüchtig?«

Bruder Guss war verblüfft.

»Bairne? Ja, der war schon eifersüchtig. Aber getötet hat sie Crella.«

Diese Antwort hatte Fidelma nicht erwartet, und sie verschlug ihr für einen Moment die Sprache.

»Hast du Beweise dafür?« fragte sie leise.

Er zögerte und schüttelte dann den Kopf.

»Ich weiß nur, daß Crella daran schuld ist.«

»Dann erzählst du mir am besten die ganze Geschichte. Wann hast du Schwester Muirgel kennengelernt? Wie war dein Verhältnis zu ihr wirklich?«

»Ich verliebte mich in sie, als sie in die Abtei kam. Erst nahm sie kaum Notiz von mir. Sie zog reifere Männer vor. Männer wie Bruder Cian, weißt du. Er war ein reifer Mann. Er war Krieger gewesen. Ihn mochte sie sehr.«

»Und mochte er sie?«

»Erst war sie viel mit ihm zusammen.«

»Hatten sie ein Verhältnis?«

Bruder Guss errötete, und seine Unterlippe zitterte leicht. Dann nickte er.

»Warum war Crella eifersüchtig?«

»Sie war eifersüchtig auf jeden, der ihr Schwester Muirgel wegnahm. Aber in diesem Fall ...« Er schien zu überlegen.

»In diesem Fall ... was?« hakte Fidelma nach.

»War es Schwester Muirgel, die Cian Crella weggenommen hatte.«

Fidelma hatte Mühe, ihre Miene zu beherrschen. Bruder Guss hatte einige Überraschungen für sie parat.

»Willst du damit sagen, daß Cian ein Verhältnis mit Crella hatte und dann von ihr zu Muirgel überwechselte?«

»Schwester Muirgel gab zu, daß es ein Fehler war. Es dauerte überhaupt nur ein paar Tage.«

»Hattest du ein Verhältnis mit Schwester Muirgel?« Nun wurde Fidelma direkt.

Der junge Mann nickte.

»Wann fing es an?«

»Kurz vor Beginn dieser Pilgerfahrt. Als ich Muirgel erzählte, ich ginge auf Pilgerschaft, weil mein Lehrer es mir geraten hatte, zwang sie Canair, sie auch aufzunehmen. Natürlich mußte Crella ebenfalls mitkommen.«

»Sie muß dich sehr gern gehabt haben, wenn sie deinetwegen die Reise mitmachen wollte.«

»Ehrlich gesagt, ich hätte nie gedacht, daß ich solche Chancen bei ihr hätte, wenn du weißt, was ich meine. Doch sie suchte mich auf und erklärte mir ganz offen, daß sie sich zu mir hingezogen fühlte. Ich hatte bis dahin noch nichts zu ihr gesagt, weil ich dachte, sie würde mich überhaupt nicht anschauen. Als sie mir das gestand . Nun, wir kamen zusammen, und wir liebten uns.«

»Wußte Crella von diesem Verhältnis? Sie glaubt, Muirgel hätte immer noch ein Verhältnis mit Cian gehabt.«

Sein Blick wurde trübe.

»Ich glaube, sie wußte davon. Ich meine, sie wußte es und neidete Muirgel ihr Glück. Muirgel sagte mir, daß sie sich bedroht fühlte.«

»Was - Muirgel hat dir erzählt, daß Crella sie bedrohte? Hast du von einem Streit zwischen ihnen gehört?«

»Ja, sie haben sich gestritten. Ein paar Tage, bevor wir Ardmore erreichten. Wir kehrten in einem Gasthaus zum Essen ein, und Muirgel ging zu einem nahen Bach, um sich zu waschen. Ich hatte Ale geholt und wollte es Muirgel bringen. Als ich dorthin kam, wo sich Muirgel wusch, hörte ich, wie sich Crella mit erhobener Stimme mit ihr stritt.«

»Kannst du dich daran erinnern, um was es ging? An ihre genauen Worte?«

»Ich weiß nicht, ob ich die Worte noch genau im Gedächtnis habe, doch Crella warf Muirgel vor ...« Er zögerte und wurde rot ». mit meinen Gefühlen zu spielen. Das waren ihre Worte. Mit meiner Liebe zu spielen, wie sie mit der Liebe anderer gespielt hatte. Crella glaubte, daß Muirgel immer noch Cian liebte.«

»Mit deinen Gefühlen zu spielen?« wiederholte Fidelma. »Du bist also sicher, daß Muirgel ihr Verhältnis mit Cian beendet hatte? Daß sie dich nicht benutzte, um sich an Cian dafür zu rächen, daß er das Verhältnis beendet hatte?«

Guss wurde zornig.

»Da bin ich mir ganz sicher. Wir zeigten uns unsere Liebe so, wie es alle normalen, gesunden Menschen tun.«

Es war klar, was er damit sagen wollte.

»Ihr fandet Zeit und Gelegenheit dafür auf einer Reise mit anderen Mönchen und Nonnen?« Fidelma bemühte sich, ihre Zweifel nicht anklingen zu lassen.

»Ich lüge nicht«, erwiderte Guss empört.

»Natürlich nicht«, antwortete Fidelma.

»Wirklich nicht!« Ihr Ton schien ihn zu reizen. »Hör nicht darauf, was Crella in ihrer Eifersucht behauptet.«

»Also gut. Kommen wir zu dem Morgen, an dem das Schiff auslief. Bist du mit Muirgel zusammen an Bord gegangen?«

»Wir gingen alle zur selben Zeit an Bord, mit Ausnahme von Schwester Canair.«

»Wie seid ihr alle zusammen an Bord gekommen?«

»Wir verließen die Abtei nach dem Frühstück und gingen hinunter zum Kai. Von Schwester Canair war nichts zu sehen, also übernahm Muirgel die Führung. Murchad erklärte uns, wir müßten an Bord kommen, sonst verpaßten wir die Ebbe, und dann wäre das Geld für die Überfahrt verfallen. Daraufhin gingen wir alle an Bord.«

»Hat jemand Einwände dagegen erhoben, daß ihr ohne Schwester Canair abgefahren seid?«

»Alle waren der Meinung, wenn Schwester Canair wirklich die Absicht gehabt hätte, mit uns zu fahren, dann hätte sie die Verabredung am Kai eingehalten. Crella wies darauf hin, daß sie nicht einmal eine Nachricht geschickt hatte.«

»Warum übernahm Schwester Muirgel die Führung?«

»Sie war die Rangälteste von denen aus der Abtei.«

»Bruder Tola oder Schwester Ainder sind doch sicher älter.«

»Tola kommt aus der Abtei Bangor. Schwester Ain-der war nur nach Jahren älter.«

»Aber jetzt hat anscheinend Bruder Cian die Führung übernommen. Er ist ja auch aus Bangor.«

»Er hat kein Recht dazu. Schwester Muirgel hat es ihm nicht erlaubt. Sie war sich ihres Ranges sehr bewußt. Es hätte schon einer sehr starken Persönlichkeit bedurft, ihr die Führung zu entreißen.«

»Also sie übernahm die Führung der Gruppe, und ihr kamt an Bord. Was geschah weiter?«

»Wir gingen gleich in unsere Kajüten.«

»Wer hat die Unterbringung eingeteilt?«

»Das tat Muirgel.«

»Wann?«

»Sobald wir an Bord waren.«

»Warum zogen Muirgel und Crella nicht zusammen, wenn sie doch so eng befreundet waren?«

»Muirgel wollte das nicht, aus dem Grunde, den ich dir genannt habe. Muirgel und Crella stritten sich meinetwegen.«

»Crella hat mir erklärt, sie hätte versprochen, ihre Kajüte mit Canair zu teilen.«

»Davon höre ich zum erstenmal.« Bruder Guss glaubte das nicht. »Außerdem war Schwester Canair nicht da.«

»Also war Schwester Muirgel nicht sofort so krank, daß sie ihre Pflicht als Führerin der Gruppe nicht erfüllen konnte?«

»Sie war sich ihrer Verantwortung bewußt«, erwiderte Guss. »Aber sie wußte nicht, daß du an Bord kommen würdest. Sie richtete es so ein, daß sie eine Kajüte für sich hatte. Wir wollten später . « Er erschauerte und schlug die Hände vors Gesicht.

»Es muß sie sehr gestört haben, als ich unangemeldet in ihre Kajüte kam«, meinte Fidelma.

»Das hat es«, bestätigte Guss.

»Woher weißt du das?« fragte Fidelma rasch.

Guss blieb gelassen.

»Ich ging zu ihr«, sagte er.

»Aber sie war doch so krank geworden, daß sie mir sagte, sie wolle niemanden sehen.«

»Mich wollte sie sehen.«

»Na gut. Wann hast du sie zuletzt gesehen?«

»Das muß bald nach Mitternacht gewesen sein. Der Sturm tobte mit voller Stärke.«

»Erzähl mir, was geschah.«

»Ich brachte ihr etwas zu essen und zu trinken, und wir redeten ein bißchen. Das war alles. Ach, und einmal hörten wir jemanden draußen vor der Kajüte. Wir hörten die Stimme trotz des schrecklichen Sturms, aber ich glaube nicht, daß sie mit jemandem sprach. Es klang eher so, als rezitiere sie laut etwas gegen den Wind und das Brüllen der See.«

»Wer war das?«

»Das weiß ich nicht. Es war eine Frauenstimme. Wer die Person auch war, sie klopfte nicht an und kam nicht herein, sondern stand nur draußen und redete. Als sie aufhörte, ging ich zur Tür und sah hinaus, aber sie war verschwunden. Ich glaubte noch zu hören, wie sich eine Kajütentür schloß.«

»Was tatest du dann?«

»Muirgel meinte, sie wolle die Nacht über ruhen und ich solle in meine Kajüte zurückkehren, wir würden noch bessere Gelegenheiten finden. Das tat ich auch. Am Morgen kam dann Cian mit der Nachricht, sie sei über Bord gespült worden. Das glaubte ich nicht.«

»War es wegen dieses Schocks, daß du seitdem in deiner Kajüte geblieben bist?«

Bruder Guss zuckte die Achseln.

»Ich konnte den Anblick der anderen nicht ertragen, besonders den Crellas nicht.«

Fidelma stand auf und ging zur Tür.

»Vielen Dank, Bruder Guss. Du hast mir sehr geholfen.«

Der junge Mann blickte zu ihr auf.

»Schwester Muirgel wurde nicht über Bord gespült«, sagte er finster.

Fidelma antwortete nicht. Im stillen gab sie ihm recht. Aber eins beunruhigte sie. Bruder Guss zeigte keineswegs die Anzeichen von Trauer, die man von einem Mann erwartete, der gerade die Frau verloren hatte, die er zu lieben behauptete.

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