Kapitel 22

Fidelma stand in der warmen Herbstsonne am Kai und atmete die exotischen Düfte der malerischen kleinen Hafenstadt ein, die sich im Schutz eines alten römischen Leuchtturms erstreckte, der als der »Turm des Herkules« bekannt war. Die »Ringelgans« lag am Kai vertäut. Die übriggebliebenen Passagiere hatten sich über Land auf ihre Pilgerschaft zum Schrein des heiligen Jakobus begeben. Fidelma hatte es abgelehnt, mit ihnen gemeinsam zu wandern, unter dem Vorwand, sie müsse einen Bericht über die Fahrt für den Oberrichter von Cashel verfassen, damit Murchad ihn auf der Rückreise gleich mitnehmen könne.

Schon eine Stunde, nachdem die »Ringelgans« in diesen Hafen an der Nordwestküste Iberias eingelaufen war, vielleicht demselben Hafen, von dem aus Go-lamh und die Kinder Gaels vor mehr als einem Jahrtausend nach Eireann übergesetzt hatten, war das Schlußdrama dieser Überfahrt vonstatten gegangen.

Cian war wieder vom Schiff verschwunden, aber diesmal mit Schwester Crella. Fidelma war davon nicht sonderlich überrascht.

»Erinnerst du dich noch, daß Cian vom Schiff auf die Insel Ushant geflohen ist?« fragte sie Murchad. »Es war klar, daß er dabei Hilfe gehabt hatte.«

Der Kapitän war verblüfft und sagte es auch.

»Ein Mann, der seinen rechten Arm nicht gebrauchen kann, ist nicht in der Lage, das Skiff zur Insel zu rudern, geschweige denn es zum Schiff zurückzubringen.«

Murchad schien beschämt, daß ihm das nicht aufgefallen war.

»Daran habe ich nicht gedacht.«

»Er mußte eine Komplizin haben. Er überredete Crella, ihm zu helfen, so wie jetzt auch. Vielleicht hätte ich versuchen sollen, sie davor zu warnen, sich noch einmal mit Cian einzulassen, aber ich glaube nicht, daß sie auf mich gehört hätte. Er wußte von jeher die Frauen zu nehmen. Wenn Not am Mann ist, kann er die Vögel auf den Bäumen bezaubern.«

»Wo wollen sie jetzt hin? Nach Eireann können sie doch sicher nicht zurück.«

»Wer weiß? Vielleicht ist er unterwegs zu dem Arzt Mormohec, um zu sehen, ob der seinen Arm heilen kann. Vielleicht auch nicht. Die arme Crella tut mir leid. Eines Tages wird sie ein böses Erwachen erleben.«

»Warum ist sie zu ihm zurückgekehrt, wenn er sie schon einmal als seine Geliebte abgelegt hat?« wollte Murchad wissen.

»Vielleicht hat sie noch nie davon gehört, daß man sich, wenn man einmal gebissen wurde, vor einem zweiten Biß in acht nehmen soll. Er wird sie abhängen, wenn er meint, er brauche sie nicht mehr. Wahrscheinlich werden wir ihn in Eireann nicht wiedersehen, aber nicht, weil er sich schuldig fühlt für das, was auf dieser Fahrt geschehen ist. Seine Arroganz hindert ihn daran, dafür irgendwelche Verantwortung zu übernehmen. Er wird sein Geburtsland meiden, um allen Zeugen aus dem Wege zu gehen, die ihn als den >Schlächter von Rath Bile< anklagen könnten.«

»Also wird er frei und ohne Strafe bleiben?«

»In solchen Dingen kommt oft der wirklich Schuldige straflos davon, und die werden bestraft, die er als seine Werkzeuge benutzt oder mit hineingezogen hat.«

Nicht lange danach war die überlebende Schar der Pilger unter der Führung von Bruder Tola aus der Hafenstadt aufgebrochen. Fidelma hatte beobachtet, wie Bruder Tola und Schwester Ainder sich in Gesellschaft von Bruder Dathal und Bruder Adamrae, die ihnen mit wenig Begeisterung folgten, auf den Weg gemacht hatten. Bruder Bairne begleitete sie, doch anscheinend ebenso widerwillig, wie sie seine Anwesenheit duldeten. Vergebung war offenbar kein Bestandteil des Glaubens, dem diese kleine Gruppe von Pilgern anhing.

Fidelma blieb in der Hafenstadt, während die Sturmschäden der »Ringelgans« repariert wurden. Sie nahm sich ein Zimmer in einem kleinen Wirtshaus mit Blick auf den Hafen, ruhte sich aus, gewöhnte sich wieder an das Gefühl, festen Boden unter den Füßen zu haben, und schrieb ihren Bericht. Als sie hörte, daß die »Ringelgans« zum Auslaufen bereit war, ging sie hinunter zum Kai.

Sie wollte sich an Bord von allen verabschieden, vor allem von Mäuseherr, für den sie am Kai Fische gekauft hatte. Der Kater hinkte leicht, schien sich aber von seiner Schnittwunde gut zu erholen. Er ließ sich von ihr streicheln und schnurrte ein bißchen, doch dann wandte er seine Aufmerksamkeit wichtigeren Dingen zu, wie etwa den Fischen, die sie vor ihm aufs Deck gelegt hatte.

Auf dem nun schon vertrauten Achterdeck sprach sie mit Murchad.

»Wann brichst du zum heiligen Schrein auf, Lady? Es sind schon mehrere Pilgerscharen hier durchgekommen, seit wir angelegt haben. Ich hatte gedacht, du wärst bereits fort.«

Fidelma erwiderte unbesorgt, sie würde schon eine passende Gruppe finden.

»Es gibt ein altes Sprichwort, Murchad: Sieh dir die Gesellschaft an, bevor du dich zu ihr setzt. Die Reisenden, die du an Bord hattest, hätte ich mir nicht als Gefährten ausgesucht, wenn ich gewußt hätte, was passiert.«

Murchad lachte verständnisvoll, war aber weiterhin besorgt um sie.

»Willst du allein wandern? Ich habe ebenfalls ein Sprichwort für dich: Heißt es nicht, daß ein gesundes Schaf auch eine räudige Herde als Gesellschaft nicht verschmäht?«

Fidelma erlaubte sich ein mutwilliges Grinsen.

»Ich glaube, das hast du umgedreht, Murchad. Das Sprichwort lautet: Es gab noch nie ein räudiges Schaf, das nicht gern eine Herde als Gesellschaft hatte. Aber ich danke dir für den Rat. Nein, ich will hier noch ein paar Tage warten, denn durch diesen Hafen kommen viele Schafe. Ich werde sehen, ob eine Herde dabei ist, die mir gefällt. Aber vielleicht trete ich die Reise auch allein an, wie du vermutest.«

»Wäre das klug, Lady?«

»Wie ich höre, sind die Banditen zwischen hier und dem Schrein nicht sehr zahlreich. Ich bin sicher, die Gefahren der Landstraße sind nicht größer als die, die mir auf der >Ringelgans< drohten.«

Murchad schüttelte den Kopf.

»Ich weiß immer noch nicht, wie du herausgefunden hast, daß Schwester Gorman die Schuldige war, und was meine Frau Aoife damit zu tun hatte.«

»Es war nicht deine Frau, wie ich dir schon sagte, es war der Name Aoife und die Sage von Lir. In der Geschichte der Kinder von Lir war Aoife die zweite der drei Töchter des Königs von Aran. Aoife war schön, doch der Meeresgott Lir heiratete ihre jüngere Schwester Albha. Albha starb, und Lir heiratete darauf ihre ältere Schwester Niamh. Niamh starb ebenfalls, und schließlich heiratete Lir Aoife.«

»Ich kann mich dunkel an die Geschichte erinnern«, meinte Murchad ohne Überzeugung.

»Nun, dann weißt du auch, daß Aoife auf alle eifersüchtig wurde, die Lir nahestanden, obgleich Lir sie liebte. Das wuchs sich zu einer solchen Besessenheit aus, daß sie völlig verbitterte und auf Böses sann und alle vernichten wollte, die Lir liebten, damit sie ihn ganz für sich allein haben könnte. Der Stachel unverständiger Eifersucht saß tief in ihrem Herzen, und sie mußte zerstören. >Eifersucht ist fest wie die Hölle<, wie Muirgel sagte.«

»Ich verstehe, wie das zu Gorman paßt, aber wie .?«

»Es fiel mir auf, wie sehr Gorman sich dafür interessierte, wie lange ich Cian kannte, schon gleich nachdem ich an Bord kam. Dann erklärte mir Crella, als ich sie am zweiten Tag der Reise befragte, daß Cian mit Gorman geschlafen habe. Ich achtete nicht weiter auf diese Dinge. Aber eine gute dalaigh muß ein hervorragendes Gedächtnis besitzen. Ich speicherte diese Tatsachen. Als ich dann ständig die Bibelzitate über Wollust und Eifersucht hörte, wurde mir allmählich klar, daß die Antwort in dieser Richtung zu finden war. Doch erst als du den Namen deiner Frau Aoife erwähntest und ich mich an die Eifersucht dieser Gestalt erinnerte, ging mir auf, wonach ich zu suchen hatte: nach unvernünftiger, rasender Eifersucht.

Cian schlief nur eine Nacht mit ihr, und in seiner Arroganz erinnerte er sich erst im letzten Moment wieder daran. Wie Aoife, die Frau Lirs, hatte Gorman den Verstand verloren. Ihr unverhohlener Haß war so offenkundig, daß ich sie zuerst als Verdächtige ausschloß.«

»Es ist schade, daß Schwester Gorman der Gerechtigkeit entging«, überlegte Murchad.

Fidelma dachte darüber nach, ehe sie antwortete.

»Ich meine, nein. Sie war geistesgestört, von einer Krankheit befallen, die einen ebenso verwirrt wie hohes Fieber. Ich glaube, ich kann verstehen, wie heftig die Eifersucht ist, die in einer Frau geweckt wird, wenn sie merkt, daß der Mann, von dem sie sich geliebt wähnt, sie betrügt.«

Fidelma errötete leicht, als sie das sagte, weil sie sich an ihre eigenen Gefühle erinnerte.

»Doch sie hat getötet. Müßte sie dafür nicht bestraft werden?«

»Ach, Bestrafung. Ich fürchte, ein neuer Moralbegriff dringt in unsere Kultur ein, Murchad. Das ist das einzige, was mir an dem neuen Glauben Sorgen bereitet. Die Bußgesetze der Kirche predigen Bestrafung statt Schadenersatz und Rehabilitierung wie unsere einheimischen Gesetze.«

»Aber das ist doch die Lehre des Glaubens.« Murchad war verwirrt. »Wie kannst du eine Glaubensschwester sein und diese Lehre nicht akzeptieren?«

»Weil es eine Lehre der Rache ist und nicht ein Gesetz der Gerechtigkeit. Unsere Gesetze verlangen Gerechtigkeit, nicht Rache. Juvenal schrieb, Rache bereite nur einem engstirnigen, kranken oder kleinlichen Geist Freude. Blut kann nicht mit Blut abgewaschen werden. Wir müssen Schadenersatz für die Opfer und Rehabilitierung der Übeltäter anstreben. Wenn wir das nicht tun, geraten wir in einen ständigen Kreislauf der Rache, und Blut wird immer wieder fließen. Diejenigen, die ihre Gesetze zum Fluch machen, werden unter diesen Gesetzen selbst leiden.«

»Hättest du es denn lieber gesehen, wenn das Mädchen entkommen wäre?«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Sie wäre sich selbst niemals entkommen. Ihr Geist war von diesem Wahnsinn so verstört, daß ich meine, in diesem Fall endete sie durch einen Akt der Gnade.«

Gurvan kam herbei und sah sie entschuldigend an.

»Gezeitenwechsel, Kapitän«, sagte er zu Murchad.

Murchad nickte ihm zu.

»Wir müssen in See stechen, Lady«, erklärte er respektvoll.

»Ich hoffe, eure Rückfahrt nach Ardmore wird nicht so abenteuerlich wie die Fahrt hierher.«

»Ich wäre nicht Seemann geworden, wenn ich Angst vor Stürmen und Piraten hätte«, grinste Murchad. »Mord an Bord habe ich allerdings noch nicht oft erlebt. Bleibst du lange in diesem Land, Schwester? Vielleicht machst du die Rückreise wieder auf meinem Schiff? Ich laufe diesen Hafen häufig an.«

»Das würde mich sehr freuen. Aber ich bin noch nicht sicher, was mir die Zukunft bringt. Kann schon sein, daß sich unsere Wege wieder kreuzen. Wenn nicht, möge Christus immer mit dir segeln. Und paß gut auf Wenbrit auf. Aus ihm kann noch mal ein guter Kapitän mit eigenem Schiff werden.«

Sie ging hinunter auf das Hauptdeck und verabschiedete sich von Gurvan, Wenbrit, Drogan und den anderen Besatzungsmitgliedern. Dann stieg sie auf den Kai. Murchad hob die Hand zum Gruß.

Sie sah zu, wie die Gangway auf den Kai zurückge-zogen wurde, die Taue gelöst wurden und die »Ringelgans« langsam ablegte. Sie winkte ihnen allen stürmisch zu, und dann überkam sie Heimweh, so daß sie langsam zu dem Wirtshaus zurückkehrte, in dem sie wohnte. Trotz der Traurigkeit empfand sie auch Erleichterung. Sie war im wesentlichen mit zwei Absichten auf diese Pilgerfahrt gegangen, und sie wußte, daß sie eine davon erreicht hatte. Es gab keinen Konflikt mehr zwischen ihren Rollen als Nonne und als dalaigh. Ihre Leidenschaft für das Recht ließ ihr keine Wahl: Sie würde es immer dem kontemplativen Leben vorziehen. Als sie beim Wirtshaus anlangte, war auf der »Ringelgans« schon das Segel gesetzt worden, und sie lief aus dem Hafen aus.

Fidelma setzte sich auf eine Holzbank im Schatten eines Weinstocks und schaute nachdenklich über das blaue Wasser der Bucht dem verschwindenden Schiff nach.

Der Wirt kam heraus und brachte ihr ein Glas mit einem Getränk aus frisch gepreßter Zitrone und kaltem Wasser. Schon in der kurzen Zeit ihres Hierseins hatte Fidelma gelernt, daß dies die beste Art war, den Durst zu löschen und trotz der Hitze kühl zu bleiben. Zu ihrer Überraschung reichte er ihr außerdem noch ein Stück gefaltetes Pergament. Sie verstand nicht ganz, was er sagte, doch er wies auf ein schlankes Fahrzeug, das erst vor einer Stunde eingelaufen war.

»Gratias tibi ego.« Sie dankte ihm auf Latein, der einzigen Sprache, in der sie sich etwas verständigen konnten.

Sie bezwang ihre Neugier, denn sie wollte zusehen, wie Murchads Schiff den Hafen verließ. Sie blieb noch eine Weile sitzen, nippte an ihrem Getränk und beobachtete, wie die »Ringelgans« die Meeresbucht entlangsegelte, die man hier ria nannte, bis sie hinter dem Vorgebirge verschwand. Es war angenehm, so in der Wärme der Sonne zu sitzen. Doch dann überwältigte sie wieder ein Gefühl der Verlassenheit. Sie versuchte es zu ergründen. War Verlassenheit das richtige Wort für ihre Stimmung? Es war besser, allein zu sein als in schlechter Gesellschaft - und sie trug wahrhaftig kein Verlangen danach, jemals wieder Cian gegenüberzustehen. Doch das hatte auch seine positive Seite; sie war froh, daß sie ihm noch einmal begegnet war.

All die Jahre war Cian ein Stachel in ihrem Herzen gewesen, denn sie erinnerte sich immer wieder der Ängste und der Leidenschaften ihrer Jugend. Nun war ihr ein Wiedersehen mit Cian gewährt worden, und sie hatte ihn aus dem Blickwinkel der Reife betrachtet. Sie hatte ihn studiert, und ihr war die Torheit der bittersüßen Heftigkeit ihrer jugendlichen Liebe klargeworden. Ohne jede Reue hatte sie Cian verabschiedet und sich eingestanden, daß das, was einmal war, nun vorbei war. Sie konnte es als eine Erfahrung des Erwachsenwerdens ansehen und nicht mehr als eine schwere Bürde, die sie ewig zu tragen hätte. Nein, Ci-an hatte keine Macht mehr über sie, und sie empfand das nicht als einen Verlust - eine enorme Last war ihr von den Schultern gefallen.

Irgendwie kehrten ihre Gedanken mit einer Plötzlichkeit zu Eadulf zurück, die sie für einen Moment so erschreckte, daß ihre Hand mit dem Glas zitterte.

Eadulf! Sie spürte, daß er ihr als ein verschwommener Schatten auf der ganzen Reise gefolgt war, als ein ätherischer Hauch auf ihrem Weg.

Warum kamen ihr gerade Worte von Publilius Sy-rus, ihrem Lieblingsautor von Maximen, in den Sinn?

Amare et sapere vix deo conceditur.

Selbst einem Gott ist es kaum vergönnt, gleichzeitig zu lieben und weise zu sein.

Plötzlich erinnerte sie sich an das gefaltete Stück Pergament, und sie nahm es zur Hand. Überrascht stellte sie fest, daß es von ihrem Bruder Colgü in Cashel einen Tag nach Antritt ihrer Seereise geschrieben worden war. Als sie die wenigen Worte las, durchfuhr sie ein eisiger Schreck, dem eine panische Angst folgte, wie sie sie noch nie gespürt hatte. Die Botschaft war kurz: Komm sofort zurück! Eadulf wird des Mordes beschuldigt!

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