Kapitel 2

Fidelma von Cashel lehnte sich gegen die Heckreling des Schiffes und sah zu, wie die auf und ab wippende Küstenlinie mit überraschender Schnelligkeit hinter ihr verschwand. Sie war an diesem Morgen als letzte an Bord gekommen, und im nächsten Moment hatte der Kapitän schon den Befehl gegeben, das mächtige viereckige Segel an seiner Rahe am Großmast hochzuziehen. Gleichzeitig holten andere Matrosen den schweren Anker ein. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, unter Deck zu gehen und ihre Kajüte zu besichtigen, bevor das Schiff in Fahrt kam. Sein Segel aus dünnem Leder knallte und bauschte sich im Wind wie eine Lunge, die sich mit Luft füllt. »Steuersegel setzen!« schrie der Kapitän mit Stentorstimme. Die Mannschaft rannte zu einem Mast, der schräg nach vorn wies. Ein kleines Segel wurde an einer Rahe gesetzt. Auf dem erhöhten Achterdeck standen neben dem Kapitän zwei kräftige, untersetzte Männer. Hier war an der Backbordseite des Schiffes das lange Steuerruder angebracht. Es war so groß, daß nur beide Matrosen gemeinsam es handhaben konnten. Der Kapitän rief einen Befehl, und die Matrosen drehten das Ruder. Das Schiff wurde von der Ebbe erfaßt und glitt durch die Wogen wie eine Sense durchs Korn.

So schnell lief die »Ringelgans« aus der Bucht von Ardmore aus, daß Fidelma beschloß, zunächst nicht unter Deck zu gehen, sondern oben zu bleiben und sich das Manöver anzusehen. Von ihren Mitreisenden war niemand zu erblicken außer zwei jungen Mönchen, die Arm in Arm mittschiffs an der Backbordreling standen, ins Gespräch vertieft. Fidelma nahm an, alle anderen Pilger hielten sich unter Deck auf. Ein halbes Dutzend Matrosen, die das Schiff über das stürmische Meer nach Iberia zu segeln hatten, gingen unter den wachsamen Augen des Kapitäns ihren verschiedenen Tätigkeiten nach. Fidelma fragte sich, warum wohl die anderen Passagiere einen der aufregendsten Augenblicke zu Beginn einer Seereise versäumten, das Auslaufen aus dem Hafen. Sie selbst hatte schon mehrere Reisen zu Schiff unternommen, aber was man beim Inseegehen sah und hörte, fesselte sie jedesmal, von dem ersten Wellenschlag gegen den Rumpf bis zum Auf und Ab der zurückweichenden Küstenlinie. Sie konnte stundenlang beobachten, wie das Land allmählich am Horizont verschwand.

Fidelma war eine geborene Seefahrerin. Oft war sie mit einem kleinen Boot an der wilden, sturmumtosten Westküste zu abgelegenen Inseln unterwegs gewesen und hatte nie Furcht empfunden. Vor einigen Jahren hatte sie Iona besucht, die Insel der Heiligen vor der Küste des gebirgigen Alba, auf ihrem Weg zur Synode von Whitby in Northumbria, und von dort war sie den ganzen Weg über Gallien bis nach Rom und zurück gereist, und selbst bei den heftigsten Schiffsbewegungen war sie niemals seekrank geworden.

Bewegung. An dem Begriff blieben ihre Gedanken hängen. War das vielleicht die Lösung? Von Kind auf war sie geritten. Sie hatte sich wohl an die Bewegungen der Pferde gewöhnt und reagierte deshalb auf die Bewegungen eines Schiffes nicht so wie jemand, der stets auf festem Boden gestanden hatte. Sie nahm sich vor, auf dieser Reise etwas über Seefahrt, Navigation und Entfernungen über See dazuzulernen. Was nutzte es, wenn man eine Seereise genoß, aber ihre praktische Seite nicht verstand?

Sie lächelte über das ziellose Wandern ihrer Gedanken und richtete sich an der hölzernen Reling auf, um noch einmal nach der verschwindenden Anhöhe von Ardmore mit den großen grauen Steingebäuden der Abtei zu spähen. Dort hatte sie als Gast des Abts die vorige Nacht verbracht.

Als sie an die Abtei des heiligen Declan dachte, fühlte sie sich plötzlich einsam.

Eadulf! Die Ursache war ihr sofort klar.

Bruder Eadulf, der angelsächsische Mönch, war als Abgesandter des Erzbischofs Theodor von Canterbury an den Hof ihres Bruders, des Königs Colgü von Muman, nach Cashel gekommen. Bis vor ungefähr einer Woche war Eadulf fast ein Jahr lang ihr ständiger Begleiter gewesen, ihr hilfreicher Gefährte in vielen gefährlichen Situationen, während sie ihr Geschick als dalaigh, als Anwältin bei den Gerichten der fünf Königreiche von Eireann, zu beweisen hatte. Warum überkam sie plötzlich diese Erinnerung?

Es war schließlich ihre eigene Entscheidung gewesen. Vor ein paar Wochen hatte Fidelma beschlossen, sich von Eadulf zu trennen und diese Pilgerfahrt anzutreten. Sie hatte gemeint, sie brauche einen Ortswechsel und Zeit zum Nachdenken, denn sie war mit ihrem Leben unzufrieden. Fidelma fürchtete sich davor, sich an bestimmte Gefühle zu gewöhnen, und sie fand, daß sie das gerade tat; sie traute ihren eigenen Vorstellungen von ihrem Lebensziel nicht mehr.

Doch Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham war der einzige Mann ihres Alters, in dessen Gesellschaft sie sich wirklich ungezwungen bewegen und sich frei ausdrücken konnte. Eadulf hatte lange gebraucht, bis er ihren Entschluß, Cashel zu verlassen und auf diese Pilgerfahrt zu gehen, akzeptiert hatte. Eine Zeitlang hatte er versucht, sie davon abzubringen. Schließlich hatte er sich entschieden, nach Canterbury zu Erzbischof Theodor zurückzukehren, dem neuernannten griechischen Bischof, den er von Rom hierher begleitet hatte und dem er als Sondergesandter diente. Fidelma ärgerte sich darüber, daß sie Eadulf schon vermißte, während die Küste noch in Sicht war. Die kommenden Monate drohten einsam zu werden. Die Gespräche mit Eadulf würden ihr fehlen, ihre gegenseitigen Neckereien über ihre unterschiedlichen Meinungen und Lebensauffassungen und seine Art, immer gutmütig darauf einzugehen. Sie stritten sich oft heftig, aber niemals entstand Feindschaft zwischen ihnen. Sie lernten voneinander, indem sie ihre Sichtweisen prüften und ihre Vorstellungen besprachen.

Eadulf war wie ein Bruder für sie gewesen. Vielleicht war das das Problem. Er hatte sich ihr gegenüber immer untadelig verhalten. Sie fragte sich nicht zum erstenmal, ob es ihr anders lieber gewesen wäre. Mönche und Nonnen lebten schließlich zusammen, heirateten, und die meisten wohnten in conhospitae oder gemischten Häusern und erzogen ihre Kinder in christlichem Sinne. Wünschte sie sich das auch? Sie war eine junge Frau mit den Sehnsüchten einer jungen Frau. Eadulf hatte nie zu erkennen gegeben, daß er sich so zu ihr hingezogen fühlte, wie es einen Mann zu einer Frau hinzog. Einmal auf einer Reise hatten sie eine kalte Nacht auf einem Berg verbracht, und sie hatte Eadulf gefragt, ob er das alte Sprichwort kenne, eine Decke sei wärmer, wenn man sie doppelt benutze. Das hatte er nicht verstanden. Näher waren sie diesem Thema nie gekommen.

Auch darin, überlegte sie, war Eadulf ein getreuer Anhänger der römischen Kirche, die zwar den Klerikern noch gestattete, zu heiraten und mit einer Frau zusammenzuleben, aber schon deutlich auf das Zölibat zusteuerte. Fidelma wiederum gehörte der irischen Kirche an, die in vielen Gebräuchen und Riten von der römischen abwich, selbst in der Datierung des Osterfests. Sie war ohne jede Einschränkung ihrer natürlichen Gefühle aufgewachsen. Die Unterschiede zwischen ihrer Kultur und der jetzt von Rom propa-gierten waren der Hauptgrund für die Debatten zwischen ihr und Eadulf. Bei diesem Gedanken fiel ihr sofort der Prophet Arnos ein: »Mögen auch zwei miteinander wandeln, sie seien denn eins untereinander.« Vielleicht stimmte diese Weisheit, und sie sollte das Thema Eadulf ganz vergessen.

Sie wünschte, ihr alter Lehrer, der Brehon Morann, wäre hier und könnte ihr raten. Oder auch ihr Vetter, der pausbäckige, unbekümmerte Abt Laisran von Durrow, der sie als junges Mädchen erst dazu überredet hatte, Nonne zu werden. Was hatte sie hier überhaupt zu suchen? Lief sie davon, weil sie keine Lösung für ihre Probleme finden konnte? Falls es so war, würde sie diese Probleme in jeden Winkel der Erde mitnehmen. Am Ziel ihrer Reise würde keine Lösung auf sie warten.

Sie hatte sich diese Pilgerfahrt eingeredet zu dem Zweck, ihr Leben neu zu ordnen, ohne von Eadulf, von ihrem Bruder Colgü oder ihren Freunden in seiner Hauptstadt Cashel beeinflußt zu werden. Sie suchte einen Ort, der in keinerlei Beziehung zu ihrem bisherigen Leben stand, an dem sie nachdenken und sich über vieles klarwerden konnte. Doch sie befand sich an einem Scheideweg. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie weiter eine Nonne bleiben wollte! Sie erschrak darüber, daß sie so etwas auch nur dachte, und begriff, daß sie damit die Frage gestellt hatte, die sie seit mindestens einem Jahr verdrängte.

Sie hatte sich zum Leben in einer religiösen Gemeinschaft entschlossen, weil die meisten aus der gei-stigen Führungsschicht ihres Volkes das taten, alle, die einen geistigen Beruf ergreifen wollten, so wie ihre Vorfahren alle Druiden gewesen waren. Ihr Interesse und ihre Leidenschaft hatten der Rechtskunde gegolten, nicht der Religion in dem Sinne, daß sie sich einem Leben der Hingabe an Gott in einer Abtei geweiht hätte, abgesondert vom Rest ihrer Zeitgenossen. Sie erinnerte sich jetzt daran, daß die Oberin ihrer Abtei sie gescholten hatte, weil sie zuviel Zeit auf ihre Gesetzesbücher verwandte und nicht genug auf die religiöse Andacht. Möglicherweise sagte ihr das religiöse Leben nun nicht mehr zu.

Vielleicht war das der wirkliche Grund für ihre Pilgerfahrt - sie wollte sich über ihr Verhältnis zu Gott klarwerden und nicht über ihre Beziehung zu Bruder Eadulf nachdenken? Fidelma wurde plötzlich wütend auf sich selbst und wandte sich abrupt von der Reling fort.

Das große lederne Segel ragte hoch über ihr in den blauen Himmel. Die Mannschaft war weiterhin mit ihren verschiedenen Verrichtungen beschäftigt, doch arbeitete sie nicht mehr so hektisch wie unmittelbar beim Verlassen der geschützten Bucht. Von den anderen Pilgern war immer noch nichts zu sehen. Die beiden jungen Mönche unterhielten sich weiter angeregt. Sie fragte sich, wer sie wohl waren und weshalb sie diese Reise unternahmen. Plagte sie ein ähnlicher Konflikt? Sie lächelte trübselig.

»Ein schöner Tag, Schwester«, rief ihr der Kapitän des Schiffes zu. Er verließ seinen Platz neben den Steuerleuten und kam auf sie zu, um sie zu begrüßen. Als sie an Bord ging, hatte er sie kaum beachtet und sich voll darauf konzentriert, das Schiff in Fahrt zu bringen.

Sie lehnte sich wieder an die Reling und nickte freundlich.

»Wirklich ein schöner Tag.«

»Ich heiße Murchad, Schwester«, stellte er sich vor. »Es tut mir leid, daß ich dich nicht richtig begrüßen konnte, als du an Bord kamst.«

Dem Kapitän der »Ringelgans« sah man an, daß er nichts anderes als ein Seemann sein konnte. Murchad war stämmig und untersetzt, hatte ergrauendes Haar und ein wettergegerbtes Gesicht. Fidelma schätzte ihn auf Ende Vierzig. Seine vorspringende Nase hob den engen Stand seiner meergrauen Augen noch hervor. Sein Mund bildete eine feste Linie. Er hatte den wiegenden Gang aller Seeleute.

»Sind dir schon Seebeine gewachsen?« fragte er mit seiner trockenen, rauhen Stimme, die mehr für Kommandorufe als für höfliche Konversation geeignet war.

Fidelma lächelte.

»Ich glaube, du wirst feststellen, daß ich ganz gut zurechtkomme, Kapitän.«

Murchad lachte skeptisch.

»Ich sag dir meine Meinung, wenn wir das Land außer Sicht haben und auf dem offenen Meer sind«, antwortete er.

»Das ist nicht meine erste Schiffsreise«, versicherte ihm Fidelma.

»Tatsächlich?« Er klang belustigt.

»Ja«, entgegnete sie ernst. »Ich bin nach Alba hinübergefahren und von der Küste Northumbrias nach Gallien.«

»Pah!« Murchad verzog verächtlich das Gesicht, doch in seinen Augen blitzte der Schalk. »Das ist nichts weiter als über einen Teich paddeln. Wir gehen jetzt auf eine richtige Seefahrt.«

»Ist sie länger als die von Northumbria nach Gallien?« Fidelma wußte viel, aber die Entfernungen über See kannte sie noch nicht.

»Wenn wir Glück haben ... wenn«, betonte Murchad, »dann sind wir in einer Woche am Ziel. Das hängt vom Wetter und den Gezeiten ab.«

Fidelma war überrascht.

»Ist das nicht eine lange Zeit ohne Sicht auf Land?« fragte sie vorsichtig.

Murchad schüttelte lächelnd den Kopf.

»Um Himmels willen, nein. Ein paarmal werden wir unterwegs Land sichten. Wir halten uns dicht an der Küste, damit wir uns orientieren können. Zum erstenmal sollten wir morgen früh wieder Land sichten, allerdings nur, wenn wir auf dem ganzen Weg nach Südosten günstigen Wind finden.«

»Und wo wäre das dann? Im Reich der Briten in Cornwall?«

Murchad sah sie anerkennend an.

»In der Geographie weißt du Bescheid, Schwester. Wir berühren aber die Küste von Cornwall nicht. Wir segeln westlich an einer Gruppe von Inseln vorbei, die mehrere Meilen vor der Küste liegen - sie heißen Syli-nancim. Wir legen dort nicht an, sondern segeln weiter, wie ich hoffe, mit günstigem Wind und ruhiger See. Dann wäre das nächste Land, das wir sichten, eine andere Insel namens Ushant, die vor der Küste Galliens liegt. Die sollten wir am nächsten Morgen oder bald danach erreichen. Damit sehen wir zum letztenmal Land für mehrere Tage. Wir nehmen anschließend Kurs genau nach Süden, und so Gott will, erreichen wir die Küste von Iberia, noch bevor die Woche um ist.«

»Nach Iberia innerhalb einer Woche?«

Murchad bestätigte das mit einem Nicken.

»So Gott will«, wiederholte er. »Und wir haben ein gutes Schiff, das uns fährt.« Dabei schlug er mit der Hand auf das Holz der Reling.

Fidelma schaute sich um. Sie hatte sich das Schiff mit besonderem Interesse angesehen, als sie an Bord kam.

»Es ist ein gallisches Schiff, nicht wahr?«

Murchad war etwas überrascht von ihrer Kenntnis.

»Du hast einen scharfen Blick, Schwester.«

»Ich habe ein solches Schiff schon früher einmal gesehen. Ich weiß, daß die starken Planken und die Art der Takelung typisch sind für die Werften von Mor-bihan.«

Murchad sah noch überraschter aus.

»Dann erklärst du mir wohl gleich noch, wer das Schiff gebaut hat«, meinte er trocken.

»Nein, das weiß ich nicht«, antwortete sie. »Aber wie gesagt, gesehen habe ich solche Schiffe schon.«

»Nun, du hast recht«, gestand Murchad. »Ich habe es vor zwei Jahren in Kerhostin gekauft. Mein Steuermann .« Er wies auf einen der beiden Männer am Steuerruder, den mit dem finsteren Gesicht: »Das ist Gurvan, mein Steuermann und Stellvertreter hier an Bord. Er ist Bretone und hat die >Ringelgans< mitgebaut. Wir haben auch Leute aus Cornwall und Galicia in der Mannschaft. Die kennen die ganze See von hier bis Iberia.«

»Es ist gut, daß du eine so kundige Mannschaft dabei hast«, bemerkte Fidelma mit trockenem Humor.

»Nun, wie gesagt, wenn wir günstigen Wind haben und den Segen unseres Schutzpatrons, des heiligen Brendan des Seefahrers, dann kann es eine schöne Reise werden.«

Bei der Erwähnung des heiligen Brendan erinnerte sich Fidelma an die anderen Pilger.

»Ich wundere mich, weshalb die meisten anderen Passagiere den besten Teil der Reise versäumen«, meinte sie. »Ich finde, das Auslaufen aus dem Hafen auf die offene See ist immer das Spannendste daran.«

»Vom Standpunkt des Reisenden, hätte ich gedacht, wäre es aufregender, in einen fremden Hafen einzulaufen, als einen bekannten zu verlassen«, erwiderte Murchad. Dann zuckte er die Achseln. »Vielleicht haben deine Mitreisenden nicht so gute Seebeine wie du und die beiden jungen Brüder da drüben.« Er nickte hinüber zu den beiden Mönchen, die immer noch in ihr Gespräch vertieft waren. »Mir scheint allerdings, die beiden jungen Männer merken kaum, daß sie auf einem Schiff sind - anders als manche ihrer Mitbrüder.«

Es dauerte einen Moment, bis Fidelma begriff, worauf er anspielte.

»Sind einige bereits seekrank?«

»Mein Kajütenjunge meint, mindestens zwei. Ich habe schon Pilger gehabt, die selbst bei ruhiger See darum beteten, daß der Tod sie erlösen möge, weil sie so seekrank waren, daß sie es nicht mehr aushalten konnten.« Er grinste bei der Erinnerung. »Ich kannte einen Pilger, der wurde seekrank, sobald er einen Fuß auf das Schiff setzte, und blieb es, auch wenn wir im geschützten Hafen vor Anker lagen. Manchen Menschen gefällt es auf See, und andere sollten lieber an Land bleiben.«

»Was habe ich denn für Mitreisende?« fragte Fidelma.

Murchad sah sie einigermaßen erstaunt an.

»Du kennst sie nicht?«

»Nein. Ich gehöre nicht zu ihrer Gruppe. Ich reise allein.«

»Ich dachte, du kämst aus der Abtei.« Murchad wies mit der Hand auf die weit entfernte Küste hinter ihnen.

»Ich komme aus Cashel - ich bin Fidelma von Cashel. Ich bin gestern am späten Abend in der Abtei angekommen.«

»Na.« Murchad erwog ihre Frage einen Augenblick. »Deine Mitreisenden lassen sich wahrscheinlich als die übliche Schar von Mönchen und Nonnen beschreiben.

Tut mir leid, Schwester, aber durch die Kutte kann man den einzelnen Menschen schlecht erkennen.«

Diesen Standpunkt konnte Fidelma durchaus teilen.

»Sind sie eine gemischte Gruppe, Mönche und Nonnen?«

»Also das kann ich dir genau sagen. Außer dir sind es vier Nonnen und sechs Mönche.«

»Zehn im ganzen?« fragte Fidelma erstaunt. »Das ist eine merkwürdige Zahl. Gewöhnlich reisen doch Pilger in Trupps von zwölf oder dreizehn?«

»So kenne ich das auch. Auf dieser Reise sollten es wohl sechs Nonnen und sechs Mönche sein. Doch man hat mir gesagt, eine Nonne hätte die Reise nach Ardmore nicht geschafft und eine andere sei heute morgen einfach nicht am Kai erschienen. Wir warteten bis zum letzten Moment, aber ein Schiff kann dem Wind und den Gezeiten keine Vorschriften machen. Wir mußten absegeln. Vielleicht hatte die fehlende Nonne es sich anders überlegt. Es ist allerdings merkwürdig, wenn eine Frau diese Pilgerfahrt allein unternimmt«, setzte er forschend hinzu.

Fidelma zuckte fast unmerklich die Schultern.

»Ich kam erst gestern abend in der Abtei des heiligen Declan an und erkundigte mich nach einem Schiff nach Iberia. Der Abt erklärte mir, dein Schiff wolle heute morgen auslaufen, und er glaube, du hättest noch Platz für einen Passagier. Er nahm mich auf und schickte einen Boten aus, der die Überfahrt für mich bestellte. Meine Mitreisenden sind mir in der Abtei nicht begegnet, und ich kenne keinen von ihnen.«

Murchad schaute sie nachdenklich an und rieb sich seine große Nase.

»Es stimmt, daß der Bote des Abts mich gestern abend in Collas Gasthaus aufsuchte und die Überfahrt für dich bestellte.« Er runzelte die Stirn. »Mir fällt auf, daß du eine seltsame Nonne bist, Schwester. Der Abt beherbergt dich und schickt einen Boten für dich aus? Aber wie eine Oberin eures Ordens siehst du auch nicht aus.«

In dieser Feststellung lag zugleich eine Frage.

»Die bin ich auch nicht«, antwortete sie und wünschte, das Thema wäre nicht aufgekommen.

Er betrachtete sie forschend.

»So einen Vorzug zu genießen ist ungewöhnlich.« Er hielt inne, und dann blitzte in seinen scharfen, hellen Augen die Erkenntnis auf. »Fidelma von Cashel? Natürlich!«

Fidelma seufzte resigniert, als sie merkte, daß er von ihr gehört hatte. Doch in der Enge seines Schiffes wäre wohl früher oder später ohnehin bekannt geworden, wer sie war.

»Ich verlasse mich darauf, Murchad, daß du geheimhältst, wer ich bin«, verlangte sie. »Das geht schließlich meine Mitreisenden nichts an.«

Murchad atmete tief durch.

»Daß die Schwester des Königs von Cashel auf meinem Schiff reist? Das ist eine Ehre, Lady, und meine Neugier ist befriedigt.«

Fidelma schüttelte tadelnd den Kopf.

»Schwester«, verbesserte sie ihn scharf. »Ich bin nichts weiter als eine gewöhnliche Nonne auf einer Pilgerfahrt.«

»Nun gut, ich werde dein Geheimnis bewahren. Aber eine Prinzessin und zugleich eine Anwältin in Gestalt einer Nonne, diese Zusammenstellung trifft man selten an. Ich habe die Geschichte gehört, wie du das Königreich gerettet hast ...«

Fidelma hob das Kinn leicht an. Ihre Augen funkelten bedrohlich, als sie erwiderte: »War nicht Brendan auch ein Prinz, und stammte nicht Colmcille aus dem Königshaus der Ui Neill? So ungewöhnlich ist es doch wohl nicht, daß Personen von königlichem Rang dem Glauben dienen? Jedenfalls bleibt dieses Thema unter uns und wird nicht vor den anderen Pilgern besprochen.«

»Ich muß es aber dem Jungen sagen, der dich während der Reise bedient.«

»Es wäre mir lieber, wenn du das nicht tust. Und nun, Kapitän, wolltest du mir etwas über meine Mitreisenden erzählen«, lenkte sie von dem Thema ab, das ihr peinlich war.

»Viel weiß ich nicht über sie«, gestand Murchad. »Sie übernachteten zwar gestern in der Abtei, aber ich glaube nicht, daß sie zu ihr gehören. Ihrem Dialekt nach zu urteilen, kommen die meisten von ihnen - jedenfalls die, die ich gehört habe - aus dem Norden, aus dem Königreich Ulaidh.«

Fidelma wunderte sich.

»Das ist doch ein langer Weg für Pilger aus Ulaidh, wenn sie bis Ardmore wandern und dann erst aufs

Schiff gehen, statt direkt von einem Hafen im Norden abzufahren?«

»Vielleicht.« Murchad schien das nicht zu interessieren. »Als Schiffseigner bin ich froh, wenn ich Passagiere bekomme, ganz gleich aus welchen Gründen. Du hast noch Zeit genug, Lady, sie kennenzulernen und ihre Motive für die Reise zu erfahren.«

Plötzlich blickte er zu den Wimpeln auf, die am Großmast wehten, und beschattete seine Augen.

»Entschuldige, Lady. Ich muß halsen - ich meine, den Kurs des Schiffes ändern -, denn der Wind dreht.« Sie wollte ihn schon rügen, weil er sie mit »Lady« statt mit »Schwester« angeredet hatte, als er fortfuhr: »Wenn du an Deck bleiben willst, geh lieber hinüber zur Leeseite, aus dem Wind raus.« Er bemerkte ihre Ratlosigkeit und zeigte auf die Seite, die dem Wind gegenüberlag, wenn er den Kurs geändert hatte. Der Wind hatte sich überraschend gedreht, seit sie an dem Vorgebirge vorbei auf die offene See herausgekommen waren.

»Wenn es dir recht ist, Kapitän, gehe ich jetzt nach unten und suche meine Kajüte«, antwortete sie.

Er wandte sich um und brüllte so unerwartet los, daß sie zusammenfuhr.

»Wenbrit! Durchsagen, Wenbrit zum Kapitän!« Er schaute sie wieder an. »Ich muß dich für den Augenblick verlassen. Der Junge bringt deine Plünnen nach unten und zeigt dir deine Kajüte, Lady .«

Er drehte sich um, ehe sie ihn fragen konnte, was »Plünnen« bedeutete, und eilte zu den Männern am Steuerruder. Dann brüllte er: »Leinen klar zum Halsen.«

Das Schiff stampfte und rollte so heftig, daß Fidelma ständig ihre Haltung ändern mußte, um senkrecht zu bleiben.

»Bißchen rauh für dich, was, Schwester?«

Sie schaute in das Koboldsgesicht eines dreizehnoder vierzehnjährigen Jungen, der breitbeinig, die Hände in den Hüften, vor ihr stand und sich mühelos im Gleichgewicht hielt, während das Schiff schlingerte und rollte, als die Mannschaft es auf den neuen Kurs manövrierte. Er hatte kupferrotes Haar, eine Menge Sommersprossen auf seiner hellen Haut und meergrüne Schalksaugen. Sein breites Grinsen verriet selbstbewußten Stolz. Er sprach zwar mühelos irisch, doch mit einem Akzent, der seine Herkunft verriet: Er war Brite.

»So rauh nun auch nicht«, versicherte sie ihm, obgleich sie sich an der Reling abstützen mußte.

Bei ihrer Antwort verzog er ungläubig das Gesicht.

»Na«, meinte er, »wenigstens hältst du dich besser als ein paar von deinen Freunden unter Deck. Die kotzen wie die Reiher.« Angeekelt rümpfte er die Nase. »Und wer hat das alles sauberzumachen?«

»Ich nehme an, du bist Wenbrit?« fragte Fidelma lächelnd. Trotz des Schlingerns des Schiffes spürte sie keine Übelkeit. Es kam nur darauf an, das Gleichgewicht zu halten.

»Ja«, antwortete der Junge. »Du willst jetzt wohl nach unten gehen?«

»Ja, ich möchte mir meine Kajüte ansehen.«

»Dann folge mir, Schwester, und halte dich gut fest«, sagte er und nahm ihre Tasche. »Bei kräftigem Seegang ist es unter Deck manchmal gefährlicher als auf Deck. Wenn ich Kapitän wäre, würde ich meine Passagiere erst nach unten lassen, wenn sie wüßten, wie das ist. Wenn sie erst Seebeine gekriegt haben, dann können sie sich auch in der Dunkelheit unter Deck verkriechen.«

Mit diesen spöttischen Reden ging er ihr stolz und sicher voran, die hölzernen Stufen vom Achterdeck hinunter auf das Hauptdeck. Als er sich umwandte, bemerkte Fidelma einen weißen Streifen an seinem Hals, die Narbe einer Abschürfung. Das reizte ihre Neugier, doch es war nicht der Ort und nicht die Zeit, danach zu fragen. Am Fuß der Treppe beobachtete er kritisch, wie sie herabstieg. Rasch war sie unten, und er nickte in widerwilliger Anerkennung.

»Einer deiner Freunde fiel die Treppe runter, als wir noch vor Anker lagen«, erklärte er fröhlich. »Landratten!«

»Hat er oder sie sich verletzt?« fragte Fidelma, von der Gefühllosigkeit des Jungen entsetzt.

»Nur in ihrer Würde, wenn du verstehst, was ich meine«, erwiderte er lässig. »Hier lang, Schwester.«

Er ging durch eine Tür - die korrekte seemännische Bezeichnung dafür hatte Fidelma nicht behalten - und eine enge schmutzige Treppe hinunter in den Kajütenraum unter Deck. Später lernte sie, daß das Niedergang hieß. Eine einzige Sturmlaterne schwang an einer Kette in dem Korridor und verbreitete ein nur schwaches Licht.

»Du hast eine Kajüte mit einer anderen Schwester zusammen dort am hinteren Ende.« Der Junge wies mit der Hand dorthin. »Die anderen Reisenden haben die Kajüten hier entlang. Wenn ich nicht an Deck bin, schlafe ich in der großen Kajüte hier drüben.« Er zeigte nach vorn. »Dort bereiten wir die Mahlzeiten zu und essen. Es heißt das Messedeck. Ich bin immer zu erreichen, wenn was gebraucht wird.« Stolz wölbte er die Brust. »Der Kapitän - also der möchte, daß sich die Passagiere erst an mich wenden, und wenn es was Wichtiges ist, dann gebe ich es an ihn weiter. Er möchte nicht soviel mit den Reisenden auf seinem Schiff zu tun haben.« Er hielt inne, als erwarte er eine Reaktion.

»Sehr wohl, Wenbrit«, bestätigte Fidelma feierlich, »wenn es Probleme gibt, frage ich zuerst dich.«

»Es gibt eine Mahlzeit am Mittag, und an der wird der Kapitän teilnehmen und euch allen erklären, wie man sich an Bord zu verhalten hat. Aber im allgemeinen speist er nicht mit den Passagieren. Am ersten Tag macht er eine Ausnahme, um sicherzugehen, daß alle Bescheid wissen. Mit warmen Mahlzeiten dürft ihr natürlich nicht rechnen. Dabei fällt mir ein, wenn ihr unter Deck Kerzen brennt, laßt sie niemals ohne Aufsicht. Ich hab schon von Schiffen gehört, die Feuer gefangen haben wie eine Zunderbüchse.«

Fidelma verbarg nach Kräften ihre Belustigung über die bemüht selbstsichere Art des Jungen, der wie ein erfahrener Seemann redete.

»Am Mittag gibt es eine Mahlzeit, sagtest du?«

»Ich läute eine Glocke, die die Passagiere zum Essen ruft.«

»Sehr gut.« Fidelma wandte sich der Tür der Kajüte zu, auf die der Junge gezeigt hatte.

»Ach, noch eins .«

Sie drehte sich fragend um.

»Ich soll dir noch sagen, daß diese Kajüten im hinteren Teil des Schiffes liegen. Das ist das Heck. Auf dem Deck darüber sind die Kajüte des Kapitäns und andere Unterkünfte. Vorn ist in dieser Richtung. Das heißt auch der Bug. Im Heck gibt es einen Abort, hinter der Tür da. Vorn am Bug ist noch einer. Den kann dir jeder zeigen, wenn nötig. Wenn es Probleme gibt und wir das Schiff verlassen müssen, dann sind dafür zwei kleine Boote mittschiffs quer festgezurrt. Da müßt ihr hin, wenn wir in Not geraten. Macht euch keine Sorgen, einer von der Mannschaft sagt euch dann, was ihr zu tun habt.«

Der Junge drehte sich rasch um und eilte an Deck.

Fidelma blieb stehen, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Offensichtlich hatte Wenbrit keine hohe Meinung von »Landratten«, wie er die Passagiere nannte. Sie wandte sich wieder der Kajütentür zu, die er ihr gezeigt hatte. In dem Moment ging hinter ihr auf der anderen Seite des Korridors eine Tür auf. Sie vernahm ein überraschtes Atemholen, und dann sagte eine sanfte männliche Stimme: »Fidelma! Was um Himmels willen machst du denn hier?«

Sie fuhr herum und versuchte die Stimme zu erkennen, die aus einer lange zurückliegenden Erinnerung kam, einer Erinnerung, die auszumerzen ihr schon beinahe gelungen war.

Ein hochgewachsener Mann stand da im unsicheren Licht der pendelnden Laterne.

Unwillkürlich trat Fidelma einen Schritt zurück und langte wie Halt suchend nach der hölzernen Wand. Zum erstenmal, seit sie an Bord der »Ringelgans« gekommen war, wurde ihr schwindlig, und es kam nicht von dem Wogen des Meeres, sondern vom Aufwallen ihrer eigenen Gefühle.

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