Kapitel 1

Das Arbeitszimmer des alten Privatgelehrten erstreckte sich über die volle Länge des kleinen Hauses. Der Raum mit seiner Balkendecke lag einige Fuß tiefer als die Eingangstür; die Sprossenfenster an der Rückseite wurden von einer Eibe beschattet, durch die jetzt die Spätnachmittagssonne ihre Strahlen schickte.

Etwas Unwirkliches liegt über der reichen, verschlafenen Schönheit der ländlichen Gegenden Englands, den saftigen dunklen Wiesen, den immergrünen Wäldern, den grauen Kirchtürmen und gewundenen weißen Landstraßen. Einem Amerikaner, der noch das Bild der heimischen, von Verkehrsdünsten umwogten und mit roten Tankstellen gesäumten Betonautobahnen in sich trägt, fällt dies besonders angenehm auf. Es weckt die Vorstellung, daß man hier sogar mitten auf der Straße zu Fuß gehen kann, ohne lächerlich zu wirken.

Tad Rampole beobachtete durch die Gitterfenster die Sonne und die dunklen roten Beeren, die in der Eibe schimmerten. Ihn erfaßte das Gefühl, das den Reisenden nur auf den Britischen Inseln überkommen kann - das Gefühl, die Erde sei alt und verwunschen; die Empfindung, all die flüchtigen Bilder, die das Wörtchen »früher« heraufbeschwört, seien Teil der Wirklichkeit. Frankreich ändert sich wie die Mode, es scheint nie älter zu sein als die Hüte der letzten Saison; in Deutschland haben sogar die Legenden, wie mechanisches Spielzeug aus Nürnberg, die Frische eines ratternden Uhrwerks. Doch dieses England mutet auf eine unbegreifliche Weise noch weit älter an als die efeubärtigen Türme, die es trägt; das Glockenläuten bei Einbruch der Dämmerung scheint aus fernen Jahrhunderten herüberzuklingen. Es herrscht eine große Stille, durch die Gespenster huschen und in der Robin Hood noch heute umhervagabundiert.

Tad Rampole blickte zu seinem Gastgeber hinüber. Dr. Gideon Fells massiger Körper ruhte in einem tiefen Ledersessel; während er eine Pfeife stopfte, wirkte es, als sinne er belustigt über eine Geschichte nach, die sie ihm soeben zugeraunt hatte. Dr. Fell war nicht sehr alt, doch gehörte er zweifellos zum Inventar dieses Raumes. Wirklich ein Raum, dachte der Gast, wie eine Illustration zu einem Dickensroman. Unter den Eichenbalken und dem rauchgeschwärzten Verputz war es düster und geräumig. Bis unter die hochgelegenen Fenster mit den geschliffenen Scheiben reichten die eichenen Mausoleen der Bücherregale, und man wußte sofort, daß einem alle Bücher in diesem Raum wohlgesonnen waren. Ein Geruch von staubigem Leder und altem Papier lag über allem, als hätten diese würdevollen, alten Bände ihre steifen Hüte abgelegt und sich zum Bleiben eingerichtet.

Dr. Fell keuchte ein wenig, selbst bei der leichten Tätigkeit des Pfeifestopfens. Er war sehr beleibt und benutzte beim Gehen stets zwei Stöcke. Der Schopf seines dunklen Haares, das eine weiße Strähne durchzog, wirkte im Gegenlicht der Vorderfenster wie ein Kriegsbanner. Eindrucksvoll und angriffslustig flatterte er ihm durchs Leben voran. Sein Gesicht war breit, rundlich und gerötet, und irgendwo oberhalb zahlreicher Kinnrollen zuckte ein Lächeln. Doch was tatsächlich auffiel, waren seine funkelnden Augen. Er trug einen Kneifer, der an einem breiten schwarzen Band befestigt war; wenn er seinen massigen Kopf vorbeugte, blinzelten die kleinen Augen über den Brillenrand. Er konnte ungestüm und kampflustig sein, dann wieder listig in sich hineinkichern - und irgendwie brachte er bisweilen beides gleichzeitig fertig.

»Sie müssen Fell unbedingt einen Besuch abstatten«, hatte Professor Melson zu Rampole gesagt. »Erstens ist er mein ältester Freund und zweitens eine der Sehenswürdigkeiten Englands. Der Mann hat mehr obskure, nutzlose, aber auch faszinierende Kenntnisse als jeder andere Mensch, dem ich bisher begegnet bin. Er wird Sie mit Essen und Whisky abfüllen, bis Ihnen Hören und Sehen vergeht. Er wird endlos erzählen von Gott und der Welt, vorzugsweise aber von Glanz und Gloria des alten England. Er liebt Blasmusik, Melodramen, Bier und Slapstickkomödien. Ein großartiger alter Bursche, Sie werden ihn mögen.«

So war es, unbestreitbar. Rampole fühlte sich durch die Herzlichkeit und Natürlichkeit, das absolute Fehlen jedes affektierten Gehabes bei seinem Gastgeber schon fünf Minuten nach dem ersten Zusammentreffen wie zu Hause. Eigentlich sogar schon davor, mußte der Amerikaner eingestehen. Denn bevor Rampole sich einschiffte, hatte Professor Melson bereits an Gideon Fell geschrieben und von diesem einen kaum zu entziffernden Antwortbrief erhalten, der von witzigen kleinen Zeichnungen umrahmt war und mit einigen Versen über die Prohibition endete. Später hatte es dann dieses zufällige Zusammentreffen im Zug gegeben, kurz vor Rampoles Ankunft in Chatterham.

Chatterham in Lincolnshire liegt etwa hundertzwanzig Meilen von London entfernt, nicht weit von Lincoln selbst. Als Rampole bei Einbruch der Dunkelheit den Zug bestieg, war er nicht wenig deprimiert, denn dieses große graue London, voller Qualm und zähflüssigem Verkehr, konnte einen wirklich einsam machen. Man spürte diese Einsamkeit, wenn man, von den Strömen vorübereilender Pendler verwirrt, im verrußten Bahnhof umher-schlenderte, der vom Staub und dem eisernen Keuchen der Lokomotiven erfüllt war. Die Warteräume sahen schäbig aus, und die Pendler, die kurz vor der Abfahrt in der von Alkoholdunst durchzogenen Bar schnell noch einen Schluck zu sich nahmen, sahen noch schäbiger aus. Verbittert und verschlissen standen sie unter trüben Lichtern herum, die so glanzlos schienen wie sie selbst.

Tad Rampole hatte gerade erst das College hinter sich gebracht und war deshalb ängstlich bemüht, nicht provinziell zu wirken. Zwar war er eine ganze Weile in Europa umhergereist, jedoch immer unter behutsamer elterlicher Lenkung: Die Reise sollte sich »lohnen«, ihm war gesagt worden, wann er seine Augen offenzuhalten hatte. Das Ganze war eine Art bewegten Guckkastens gewesen, mit all den Sehenswürdigkeiten, die man auch immer auf Postkarten bewundern konnte - plus zusätzlichen Belehrungen. Auf sich selbst gestellt war er verwirrt, deprimiert und reichlich verstimmt. Mit Schrecken ertappte er sich dabei, wie er unvorteilhafte Vergleiche zwischen diesem Bahnhof und der Grand Central Station anstellte, was, wenn man anerkannten amerikanischen Romanautoren glauben wollte, einfach frevelhaft war.

Was soll's, zum Teufel damit...!

Er mußte grinsen, als er sich am Bücherstand einen Thriller kaufte und zu seinem Zug trottete. Immer diese Schwierigkeiten beim Jonglieren mit der Währung. Das englische Geld schien aus einer verwirrenden Vielfalt von Münzen zu bestehen, die alle von willkürlichem Wert waren. Das Errechnen der richtigen Summe glich dem Zusammenfügen eines Bilderpuzzles: Beides ließ sich nicht auf die Schnelle erledigen. Und da jede Verzögerung für ihn den Beigeschmack des Linkischen und Tölpelhaften hatte, reichte er gewöhnlich auch für kleinste Beträge eine Banknote hinüber und überließ dem anderen das Denken. Infolgedessen war er dermaßen mit Wechselgeld versorgt, daß es bei jedem seiner Schritte deutlich vernehmbar klimperte.

So stieß er auf das Mädchen in Grau.

Er stieß im Wortsinne auf sie. Schuld daran war sein Unbehagen, daß er beim Gehen ständig die Geräusche einer wandelnden Registrierkasse von sich gab. Er hatte versucht, seine Hände in die Taschen zu zwängen, um sie auf diese Weise von unten her zu entlasten. Dabei bewegte er sich zwangsläufig in einer Art Krebsgang vorwärts und war insgesamt so in Anspruch genommen, daß er nicht auf den Weg achtete. Er schreckte auf, als er mit jemand zusammenprallte. Er hörte, wie dieser jemand nach Luft schnappte, dann ein »Oh!« in Höhe seiner Schultern.

Seine Taschen quollen über. Undeutlich hörte er einen Münzregen auf die Holzbohlen des Bahnsteigs klingeln. Er wurde rot vor Verlegenheit, als er feststellte, daß er sich an zwei zierliche Arme klammerte und in ein unbekanntes Gesicht starrte. Wäre er überhaupt fähig gewesen, irgend etwas zu sagen, hätte es wie »Holla!« geklungen. Dann erholte er sich so weit, daß er das Gesicht wahrnehmen konnte. Das Licht des Waggons erster Klasse, neben dem sie standen, fiel darauf- ein schmales Gesicht mit fragend hochgezogenen Augenbrauen. Sie schien ihn wie von weither zu betrachten, belustigt, doch mit teilnehmendem Schmunzeln um die Lippen. Irgendwie war ihr Hut verrutscht und saß nun mit verwegener Nachlässigkeit auf dem sehr schwarzen und sehr glänzenden Haar. Ihre Augen waren von einem so dunklen Blau, daß sie ebenfalls fast schwarz aussahen. Den Kragen ihres grauen Mantels hatte sie hochgeschlagen, doch der Ausdruck ihres Mundes wurde dadurch nicht verdeckt.

Sie zögerte einen Moment. Dann sagte sie mit einem lachenden Unterton: »Ich muß schon sagen! Sind Sie aber reich... Würde es Ihnen etwas ausmachen, meine Arme loszulassen?«

Verlegen wurde er sich der verstreuten Münzen bewußt und trat hastig einen Schritt zurück.

»Du lieber Gott! Tut mir leid! Was bin ich doch für ein ungeschickter Tölpel. Ich - ist Ihnen etwas hingefallen?«

»Meine Handtasche, glaube ich. Und ein Buch.«

Er bückte sich und hob ihre Sachen auf. Selbst später, als der Zug schon durch die würzige Dunkelheit dieser angenehm kühlen Nacht rauschte, konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie ihr Gespräch seinen Anfang genommen hatte. Denn eine rußvernebelte, dämmrige Bahnhofshalle, die vom Rumpeln der Gepäckwagen widerhallt, scheint auf den ersten Blick nicht gerade der geeignetste Ort für so etwas zu sein. Doch irgendwie war sie genau richtig gewesen. Nichts sonderlich Geistreiches wurde gesagt, eher im Gegenteil. Sie standen bloß da und sprachen Worte, und in Rampoles Kopf begann es zu singen. Er machte die Entdeckung, daß beide Bücher, dasjenige, welches er sich gerade gekauft hatte und das, welches er ihr aus der Hand geschlagen hatte, vom selben Autor stammten. Da es sich dabei um Edgar Wallace handelte, wäre dieser Zufall kaum dazu geeignet gewesen, einen Außenstehenden aus der Fassung zu bringen; doch Rampole machte eine große Sache daraus. Er merkte, daß er sich verzweifelt an dieses Thema klammerte, denn er fürchtete, sie könnte jeden Moment verschwinden. Er hatte nämlich gehört, die englischen Frauen seien unnahbar und zurückhaltend. Deshalb fragte er sich, ob sie nur einfach höflich war. Doch da war noch etwas anderes - vielleicht im Ausdruck der dunkelblauen Augen, die zu ihm aufblickten. Sie lehnte sich, nachlässig wie ein Mann, gegen den Waggon, die Hände in die Taschen ihres wolligen grauen Mantels gestopft: eine elegante kleine Person mit einem verschmitzten Lächeln. Und plötzlich hatte er das Gefühl, daß sie ebenso einsam war wie er selbst...

Er erwähnte Chatterham als seinen Zielort und erkundigte sich nach ihrem Gepäck. Sie richtete sich auf. Schatten legten sich auf ihr Gesicht. Ihre leicht kehlige Stimme mit dem abgeschliffenen und undeutlichen Akzent klang unschlüssig. Sie sprach leise:

»Mein Bruder hat die Koffer.« Erneutes Zögern. »Ich fürchte, er -er wird den Zug verpassen. Da ist schon das Signal. Sie steigen besser ein.«

Schwach tutete das Horn durch die Halle, es klang hohl. Es war, als würde etwas von ihm gerissen. Eine Spielzeuglok begann zu puffen und zu stampfen, die erbebende Halle blinkte mit allen Lichtern.

»Sehen Sie«, sagte er laut, »wenn Sie einen anderen Zug nehmen - «

»Beeilen Sie sich lieber!«

Rampole fühlte sich plötzlich so hohl wie das Signalhorn. Hastig rief er: »Zur Hölle mit dem Zug! Ich kann einen anderen nehmen. Außerdem fahre ich eigentlich nirgendwo hin. Ich - «

Sie mußte ihre Stimme heben, und er sah, daß sie lächelte: strahlend, besserwisserisch und amüsiert. »Unsinn! - Ich fahre auch nach Chatterham. Wahrscheinlich sehen wir uns dann dort. Ab mit Ihnen!«

»Sind Sie sicher?«

»Natürlich.«

»Na gut, in Ordnung. Sie - «

Sie deutete auf den Zug, und er schwang sich hinein, als die Räder eben zu rollen begannen. Er reckte den Hals aus dem Korridorfenster, um noch einen kurzen Blick auf sie zu werfen, und vernahm ganz deutlich, wie ihre kehlige Stimme etwas hinter ihm herrief. Sie rief etwas sehr Merkwürdiges:

»Wenn Sie irgendwo Gespenster sehen, dann heben Sie welche für mich auf!«

Was, zum Teufel, hieß das denn? Rampole starrte auf die dunklen Reihen stehender Waggons, die vorüberhuschten, und auf die schummrigen Lichter des Bahnhofs, die mit den Schwingungen des Zuges zu vibrieren schienen. Er versuchte, den letzten Satz zu verstehen. Er war durch die Worte nicht wirklich beunruhigt, doch sie hatten schon ein wenig, nun - verquer - geklungen. Das war der richtige Ausdruck. Sollte das Ganze ein Witz sein? Oder handelte es sich vielleicht um die englische Version eines verspäteten Aprilscherzes? Einen Augenblick lang wurde ihm heiß unterm Kragen. Nein, zum Donner. So was hätte er doch gemerkt. Ein Schaffner, der in diesem Moment im Korridor vorüberging, bemerkte einen jungen Gentleman, offenbar Amerikaner, der seinen Kopf blindlings aus dem Fenster in einen Wirbelsturm aus Rauch und Asche reckte, um alles mit so tiefen und freudigen Atemzügen einzuziehen, als handle es sich um feinste Gebirgsluft.

Seine Depressionen waren verschwunden. Der kleine, schwankende Zug, fast ohne Fahrgäste, gab ihm das Gefühl, er sitze in einem Schnellboot. Die Stadt London war jetzt nicht mehr groß und übermächtig, das Land nicht länger ein Ort der Einsamkeit.

Er hatte etwas Starkes in einem seltsamen Land getrunken und fühlte sich plötzlich jemandem sehr eng verbunden.

Das Gepäck! Einen Moment lang erstarrte er, doch dann erinnerte er sich, daß ein Träger die Koffer bereits in einem Abteil in der Nähe verstaut hatte. Das war also in Ordnung. Er spürte, daß der Boden unter seinen Füßen vibrierte. Der Zug ruckte und schlingerte mit stampfendem Fauchen voran, und als er immer schneller wurde, schickte die Pfeife einen langgezogenen Signalton nach hinten. So hatten Abenteuer zu beginnen. >Wenn Sie irgendwo Gespenster sehen, dann heben Sie welche für mich auf.< Eine heisere Stimme, die irgendwie so klang, als habe ihre Besitzerin auf Zehenspitzen gestanden, wehte den Bahnsteig entlang...

Wenn sie eine Amerikanerin gewesen wäre, hätte er sie nach ihrem Namen fragen können. Wenn sie Amerikanerin gewesen wäre... Aber plötzlich merkte er, daß er gar nicht wollte, daß sie Amerikanerin war. Ihre weit auseinanderstehenden blauen Augen, das Gesicht, das nur ein klein wenig zu eckig war, um vollkommen schön zu sein, und der rote, verschmitzt lächelnde Mund: Alles kam ihm auf einmal exotisch und zugleich so echt angelsächsisch vor wie die backsteinerne Zuverlässigkeit von Whitehall. Er mochte die Art, wie sie die Worte betonte, die Andeutung von Spott, die darin mitschwang. Sie wirkte gelassen und frisch, wie jemand, der ausgeruht und zufrieden durch die Gegend schlendert. Als er sich vom Fenster abwandte, hatte Rampole das starke Verlangen, sich mit einem Klimmzug an einer der Abteiltüren hochzuziehen. Er hätte das auch gemacht, wäre da nicht ein sehr mürrischer und sehr steifer Herr mit einer gewaltigen Pfeife gewesen, der, seine Reisekappe auf einer Seite wie ein Barett übers Ohr gezogen, ihn mit glasigen Augen durch das Fenster eines nahen Abteils anstarrte. Die Gestalt glich so exakt der Karikatur eines Engländers, daß Rampole erwartete, der Mann käme heftig schimpfend und schnaubend den Korridor entlanggelaufen, wenn er sähe, daß hier jemand solchen athletischen Aktivitäten frönte.

Der Amerikaner sollte bald wieder an diesen Mann erinnert werden. Im Moment war er bloß gut gelaunt und hungrig und brauchte etwas zu trinken. Der Speisewagen weiter vorn fiel ihm ein. Nachdem er sein Gepäck in einem Raucherabteil geortet hatte, bahnte er sich auf der Suche nach etwas Eßbarem seinen Weg durch die engen Korridore. Der Zug ratterte jetzt durch die Vorstädte, quietschend, stampfend und schwankend unter schrillem Kreischen der Signalpfeife. An beiden Seiten glitten beleuchtete Häuserwände vorüber. Der Speisewagen war zu Rampoles Überraschung fast besetzt; man fühlte sich beengt, und es roch stark nach Bier und Salatöl. Als er einem anderen Gast gegenüber auf einen Sitz rutschte, dachte er, daß es da doch mehr Krümel und Flecken gab als nötig. Und erneut verwünschte er seinen Provinzialismus. Der Tisch bebte vom Rattern des Zuges, Lampen klirrten gegen Nickel und Holz, und er beobachtete, wie der Mann gegenüber ein gewaltiges Glas Guinness gekonnt unter seinen ebenso gewaltigen Schnäuzer führte. Nach einem gesunden Schluck setzte der andere das Glas wieder ab und begann zu reden.

»Guten Abend«, meinte er leutselig, »Sie sind der junge Rampole, nicht wahr?«

Wenn der Fremde hinzugefügt hätte: »Wie ich sehe, kommen Sie aus Afghanistan«, hätte Rampole nicht überraschter sein können. Ein behäbiges Kichern belebte die Kinnrollen des anderen. Er hatte die Angewohnheit, genau so liebenswürdig >Hihihi< zu kichern wie ein Schurke auf einer Varietebühne. Die kleinen Augen strahlten den Amerikaner über einen Kneifer hinweg an, der von einem breiten schwarzen Band gehalten wurde. Das massige Gesicht rötete sich stärker, und sein Haarschopf tanzte im Rhythmus seines Kicherns, vielleicht auch des Zuges, oder von beidem. Er streckte Rampole die Hand entgegen.

»Ich bin Gideon Fell, wissen Sie. Bob Melson hat mir von Ihnen geschrieben, und sobald Sie den Wagen betraten, wußte ich: Das muß er sein. Lassen Sie uns darauf eine Flasche Wein leeren, oder besser zwei Flaschen. Eine für Sie und eine für mich, ja? Hihihi. Ober!«

Er wälzte sich wie ein mittelalterlicher Feudalherr in seinem Stuhl herum und winkte gebieterisch.

»Meine Frau«, fuhr Dr. Fell fort, nachdem er die gargantueske Bestellung aufgegeben hatte, »meine Frau hätte es mir nie verziehen, wenn ich Sie verpaßt hätte. Sie regt sich so schnell auf, wissen Sie, über irgendwelchen Verputz, der im Schlafzimmer von den Wänden fällt, oder über unseren neuen drehbaren Rasensprenger, der erst funktionierte, als der Pfarrer zu Besuch kam: Da hat ihm das Ding eine anständige Dusche verpaßt.

Hihihi. Trinken Sie. Ich weiß nicht, was für Wein es ist, danach frage ich nie. Es ist Wein, das langt mir.«

»Auf Ihre Gesundheit, Sir.«

»Danke, mein Junge. Erlauben Sie mir«, meinte Dr. Fell, wohl in vager Erinnerung an seinen Amerikaaufenthalt, »daß ich Sie so einfach anmache. Nunc bibendum est. Hihi. Also Sie sind Bob Melsons bestes Pferd im Stall, was? >Englische Geschichte< glaube ich, hat er gesagt. Sie wollen Ihren Doktor machen und dann unterrichten?«

Rampole kam sich plötzlich, trotz des liebenswürdigen Leuchtens in den Augen des Doktors, wie ein dummer Junge vor. Er murmelte irgend etwas Unverbindliches.

»Ausgezeichnet«, sagte der andere. »Bob rühmte Sie sehr. Er meinte nur: >Etwas zuviel Phantasie, der Junge<, so hat er's ausgedrückt. Pah! Jedem das Seine, sage ich immer, jedem das Seine. Als ich damals bei euch drüben in Haverford Vorlesungen hielt, da haben die Studenten bei mir vielleicht nicht viel über englische Geschichte gelernt, aber sie jubelten, mein Junge, sie jubelten, wenn ich ihnen die Schlachtszenen beschrieb. Ich entsinne mich«, fuhr der Doktor paffend fort, und sein massiges Gesicht glühte wie ein herzerquickender Sonnenuntergang, »ich entsinne mich, daß ich ihnen das Trinklied der Männer Gottfrieds von Bouillon beibrachte, vom ersten Kreuzzug 1187. Ich selbst führte den Chor an. Sie begannen alle zu singen und auf den Boden zu stampfen. Aber dann kam so ein verrückter Mathematikprofessor heraufgestapft, raufte sich die Haare und meinte -erstaunlich beherrschter Bursche übrigens -, ob wir nicht so freundlich sein und damit aufhören könnten, die Tafeln im Raum darunter von den Wänden zu trampeln. >Das ist doch ungehörig<, sagte er, >ähäm, sehr ungehörig. >Ganz und gar nicht<, erwiderte ich ihm, >das ist die Laus Vini Exercitus Crucis.< >Zum Teufel<, sagte er, >glauben Sie, ich könnte nicht Wir machen durch bis morgen früh erkennen, wenn ich es höre?< Daraufhin mußte ich ihm also die klassische Herkunft des Liedes erklären... Hallo, Payne!« dröhnte der Doktor, indem er seine Erzählung abbrach und mit der Serviette zum Mittelgang winkte.

Rampole drehte sich um und erkannte den ungewöhnlich mürrischen und steifen Herrn mit Pfeife, den er zuvor bereits im Korridor des Zuges bemerkt hatte. Die Kappe hatte er abgesetzt, ein längliches braunes Gesicht und ein sorgfältig geschorener Schädel mit bürstenartigem weißem Haar waren zu sehen. Er schlurfte den Gang entlang, offenbar auf der Suche nach einem freien Platz. Er murmelte etwas nicht sonderlich Freundliches und blieb an ihrem Tisch stehen.

»Mr. Payne, Mr. Rampole«, stellte Dr. Fell sie einander vor. Payne wandte sich mit einem überraschten Blick dem Amerikaner zu. Er schien argwöhnisch zu sein. »Mr. Payne ist Chatterhams Rechtsberater«, erklärte der Doktor. »Wo sind bloß Ihre Schützlinge, Payne? Ich hatte gedacht, der junge Starberth würde ein Glas Wein mit uns trinken.«

Paynes schmale Hand fuhr zu seinem Kinn hinauf und strich darüber. Seine Stimme klang trocken, mit einem vorsichtigen Räuspern und Zögern, als setzte sie sich nur langsam in Gang.

»Nicht angekommen«, antwortete der Anwalt kurz.

»Hm. Nicht angekommen?«

Rampole fragte sich, ob Paynes Knochen vom Rattern des Zuges nicht bald auseinanderfielen. Der Anwalt blinzelte und fuhr fort, sein Kinn zu massieren.

»Nein. Ich nehme an«, sagte er und deutete unvermittelt auf die Weinflasche, »er hat bereits zuviel davon. Vielleicht kann uns Mister - ähäm - Rampole ja mehr darüber sagen. Mir war schon klar, daß er keinen Gefallen an dem netten Stündchen im Hexenwinkel finden würde, ich hätte aber nicht gedacht, daß irgendein Gefängnisspuk ihn doch tatsächlich davon abhalten könnte. Er hat natürlich noch Zeit.«

Dies war zweifellos das verwirrendste Kauderwelsch, das Rampole je zu Ohren gekommen war. >Nettes Stündchen im Hexenwinkels >Gefängnisspuk<. Und dieser braungebrannte, klapprige Herr mit den tiefen Falten um die Nase stand herum, verdrehte die Augäpfel und fixierte Rampole mit dem gleichen blaßblauen glasigen Blick, mit dem er ihn schon vorher im Korridor angestarrt hatte. Der Amerikaner fühlte sich bereits ein wenig vom Wein beschwipst. Trotzdem. Was zum Teufel hatte dies alles zu bedeuten?

Er sagte: »Wie - wie bitte?« und schob sein Glas von sich. Ein weiteres Räuspern und Knarren aus Paynes Kehle. »Es mag sein, daß ich mich irre, Sir. Aber ich glaube, ich sah Sie kurz vor Abfahrt des Zuges mit Mr. Starberths Schwester. Ich dachte, vielleicht - « »Mit Mr. Starberths Schwester, allerdings«, erwiderte der Amerikaner und merkte, wie ihm das Herz bis zum Halse schlug. Er bemühte sich, gefaßt zu wirken. »Mit Mr. Starberth selbst bin ich nicht bekannt.«

»Aha«, sagte Payne mit Krächzen in der Kehle. »So ist das also. Na dann - « Rampole glaubte zu sehen, daß Dr. Fells kleine, kluge Augen sehr wachsam hinter den jovial wirkenden Augengläsern dreinblickten; er beobachtete Payne scharf.

»Ich denke, Payne«, meinte der Doktor, »er hat wohl keine Angst zu sehen, wie jemand zum Galgen geführt wird, oder?«

»Nein«, meinte der Anwalt. »Entschuldigen Sie mich jetzt, Gentlemen. Ich muß etwas essen.«

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