Rampole wußte nicht, was er sonst erwartet hatte. Er stand dicht neben dem Doktor, während die anderen instinktiv zurückgewichen waren. Während eines kurzen Momentes der Stille hörten sie hinter der Täfelung die Ratten rascheln.
»Nun?« forschte der Pfarrer mit erhobener Stimme.
»Ich sehe nichts«, sagte Dr. Fell. »Hier, junger Freund, zünden Sie ein Streichholz an, ja?«
Rampole verwünschte sich selbst, als er den Kopf des ersten Streichholzes abbrach. Er nahm ein neues, doch die sauerstoffarme Luft im Tresor ließ auch dieses verlöschen, kaum daß er es hineinhielt. Er betrat das Kabinett und versuchte es noch einmal. Es war modrig und feucht darin, und Spinnweben streiften seinen Nacken. Jetzt endlich brannte eine winzige bläuliche Flamme in der Höhlung seiner Hand.
Eine steinerne Kammer, sechs Fuß hoch und drei oder vier Fuß tief. An der Rückseite Regale, darauf etwas, das wie verrottete Bücher aussah. Das war alles. Die Beklommenheit wich, seine Hand wurde ruhig.
»Nichts«, sagte er.
»Es sei denn«, meinte Dr. Fell kichernd, »es ist schon 'raus.«
»Sehr witzig«, tadelte Sir Benjamin. »Wir sind hier ja regelrecht in einem Alptraum herumgestolpert. Ich bin ein praktischer Mann, ein vernünftiger Mann. Aber ich gebe Ihnen mein Wort, Gentlemen, einen Moment lang hat mir dieser verdammte Ort hier tatsächlich einen Schauer über den Rücken gejagt. Jawohl.«
Saunders wischte sich mit seinem Taschentuch unterm Kinn. Er hatte auf einmal eine glänzend rosa Gesichtsfarbe und sog stürmisch und mit ausladender, salbungsvoller Geste die Lungen voll Luft.
»Mein lieber Sir Benjamin«, protestierte er dröhnend, »bitte nichts davon! Wie sagten Sie? - Ein praktischer Mann. Als Diener der Kirche müßte ich, wie Sie wissen, doch wohl der praktischste und nützlichste aller hier Versammelten sein, wenn es um - äh - Dinge wie diese geht. Alles Unsinn! Purer Unsinn!«
Er war insgesamt so erleichtert, daß er kurz davor schien, Sir Benjamin die Hand zu schütteln. Der aber blickte finster über Rampoles Schulter.
»Sonst noch was?« fragte er.
Der Amerikaner nickte. Er hielt die Streichholzflamme nach unten und leuchtete umher. Ein Abdruck in der dicken Staubschicht, ein rechteckiger Abdruck von ungefähr zwanzig mal vierzig Zentimetern, bewies eindeutig, daß dort etwas gestanden hatte. Was auch immer es gewesen war, es war weggenommen worden. Er hörte kaum die Aufforderung des Chief Constables, den Tresor wieder zu schließen. Der letzte Buchstabe der Kombination war also ein >N<. Irgend etwas stieg in ihm hoch, etwas Wichtiges, aber Unangenehmes. Worte, die in der Abenddämmerung hinter einer Hecke gesagt worden waren, Worte, die ein betrunkener, hochmütiger Martin Starberth seinem Vetter Herbert zugerufen hatte, als sie die beiden gestern nachmittag trafen. »Du kennst das Wort dafür sehr gut«, hatte Martin gesagt. »Das Wort heißt Galgen!«
Er erhob sich, klopfte den Staub von seinen Knien und schob die Tür zu. Irgend etwas hatte im Tresor gestanden, eine Kassette aller Wahrscheinlichkeit nach, und derjenige, der Martin Starberth ermordet halte, hatte sie gestohlen.
»Jemand hat - « sagte er unwillkürlich.
»Ja«, sagte Sir Benjamin. »Das scheint ziemlich klar zu sein. Man hätte doch nicht all die Jahre so einen komplizierten Firlefanz durchgeführt, wenn überhaupt kein Geheimnis dabei gewesen wäre. Doch es könnte auch noch etwas anderes dahinterstecken. Kommt Ihnen das nicht auch so vor, Doktor?«
Dr. Fell schlich bereits um den großen Schreibtisch herum, so, als wollte er ihn beschnüffeln. Mit einem Stock klopfte er gegen den Stuhl, bückte sich, wobei sein riesiger Haarschopf flatterte, und spähte darunter. Geistesabwesend blickte er auf.
»Was?« murmelte er. »Bitte um Entschuldigung. Ich mußte gerade an etwas anderes denken. Was sagten Sie?«
Wieder nahm der Chief Constable seine Schulmeistermiene an; er schob das Kinn vor und preßte die Lippen zusammen, um anzudeuten, daß er etwas Wichtiges zu sagen hatte. »Schauen Sie«, sagte er, »schauen Sie. Glauben Sie nicht, daß es mehr als nur ein Zufall sein muß, daß so viele Starberths auf diese besondere Weise gestorben sind?«
Dr. Fell machte ein Gesicht, als habe man ihm, wie in einer Filmkomödie, gerade mit einer Keule auf den Kopf geschlagen.
»Brillant!« sagte er. »Wirklich brillant, alter Knabe. Doch, ja. Begriffsstutzig wie ich bin, beginnt sich allmählich selbst mir dieser Verdacht aufzudrängen. Was weiter?«
Sir Benjamin war keineswegs belustigt. Er verschränkte seine Arme. »Ich glaube, Gentlemen«, verkündete er, scheinbar alle ansprechend, »wir kommen mit dieser Untersuchung besser voran, wenn wir anerkennen, daß letztlich ich hier der Chief Constable bin und daß es mir beträchtliche Schwierigkeiten gemacht hat, die Sache zu übernehmen - «
»Doch, doch, das weiß ich ja. Ich habe ja gar nichts gesagt.« Dr. Fell kaute an seinem Schnurrbart und konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen. »Mich hat nur diese verdammt feierliche Art gereizt, mit der Sie das Offensichtliche verkünden. Das ist alles. Sie könnten noch mal ein Staatsmann werden, mein Sohn. Bitte fahren Sie fort.«
»Mit Ihrer Erlaubnis«, lenkte der Chief Constable ein. Er versuchte, die schulmeisterliche Miene beizubehalten, doch ein Lächeln schlich sich in sein sommersprossiges Gesicht. Gutmütig rieb er seine Nase und sagte dann ernsthaft: »Nein, also hören Sie. Sie saßen doch alle draußen auf dem Rasen und beobachteten das Fenster, oder? Mit Sicherheit hätten Sie doch alles Ungewöhnliche, das hier oben passiert wäre, bemerkt - einen Kampf, das Umstürzen der Lampe oder ähnliches. Ja? Sie hätten wohl sicherlich auch einen Schrei gehört.«
»Höchstwahrscheinlich.«
»Es hat aber kein Kampf stattgefunden. Sehen Sie doch, wo der junge Starberth gesessen hat. Er hatte die einzige Tür des Raumes im Auge, außerdem hatte er sie mit hoher Wahrscheinlichkeit abgeschlossen, wenn er wirklich so nervös war, wie Sie sagen. Selbst wenn ein Mörder vor ihm in den Raum gelangt wäre, hätte es für ihn doch keine Möglichkeit gegeben, sich zu verstecken -außer - warten Sie! Der Schrank...«
Er eilte hinüber und öffnete die Türen. Dichter Staub flog auf.
»Hier ging's also auch nicht. Nichts als Staub und vermodernde Klamotten... Nanu. Hier gibt's doch tatsächlich noch einen von diesen weiten Schnürmänteln mit Biberkragen, wie bei Georg IV. -Und Spinnen!« Er schlug die Türen zu und drehte sich um. »Da drin hat sich niemand versteckt, das würde ich beschwören. Und sonst gibt es keine Möglichkeit. Mit anderen Worten, der junge Starberth konnte nicht überrascht werden, ohne daß es einen Kampf oder zumindest Hilferufe gegeben hätte... Woher also, frage ich, wollen Sie wissen, daß der Mörder nicht erst hereingekommen ist, nachdem der junge Starberth vom Balkon gefallen war?«
»Wovon, zum Teufel, reden Sie?«
Sir Benjamins Lippen umspielte ein knappes, geheimnisvolles Lächeln.
»Nehmen Sie es mal so«, sagte er mit Nachdruck. »Haben Sie wirklich gesehen, daß dieser Mörder ihn hinunterstieß? Haben Sie ihn fallen sehen?«
»Nein, tatsächlich, Sir Benjamin, das haben wir nicht«, warf der Pfarrer ein, der offenbar das Gefühl hatte, jetzt lange genug übergangen worden zu sein. Er sah nachdenklich aus. »Aber das wäre auch nicht möglich gewesen, wissen Sie. Es war sehr dunkel und regnete stark. Zudem war das Licht ja ausgegangen. Ich meine, daß er sogar hinuntergestoßen worden sein könnte, als das Licht noch brannte. Sehen Sie: Hier stand die Lampe, hier auf dem Tisch. Die breite Seite der Lampe war hier, was bedeutet, daß der Lichtstrahl genau auf den Tresor gerichtet war. Nur knapp zwei Meter zur anderen Seite, wo die Balkontür ist, und jede Person hätte in völliger Dunkelheit gestanden.«
Der Chief Constable zog die Schultern hoch und bohrte einen Zeigefinger in seine Schläfe.
»Was ich meine, Gentlemen, ist folgendes: Es mag einen Mörder gegeben haben. Doch dieser Mörder muß nicht notwendigerweise auch hier heraufgeschlichen sein, ihm eins über den Schädel gegeben und ihn dann in den Tod gestürzt haben. Ich meine, vielleicht haben überhaupt keine zwei Leute auf dem Balkon gestanden ... Was ist mit einer Todesfalle?«
»Ah!« murmelte Dr. Fell und beugte sich vor. »Nun - «
»Sehen Sie, Gentlemen«, fuhr Sir Benjamin fort und wandte sich den anderen zu. Er suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. »Ich meine... mindestens zwei weitere Starberths stürzten von diesem Balkon zu Tode. Wenn wir nun annehmen, dieser Balkon hätte ein Geheimnis - einen Mechanismus...?«
Rampole schaute zur Balkontür hinüber. Hinter dem abgerissenen Efeu war eine niedrige Steinbalustrade zu erkennen, die unangenehme Vorstellungen weckte. Der ganze Raum wirkte mit einem Mal noch düsterer und unheilvoller.
»Ich weiß«, nickte er. »Wie im Roman. Ich erinnere mich an einen, den ich als Kind gelesen habe und der mich sehr beeindruckte. Irgendwas mit einem am Boden festgeschraubten Stuhl in einem alten Haus und einem Gewicht, das von der Decke herabfiel und jeden tötete, der darunter saß. Aber, sehen Sie, so was gibt es doch nicht wirklich! Nebenbei gesagt, brauchte man ja auch noch jemand, der diese Vorrichtung bedient...«
»Nicht unbedingt. Es kann einen Mörder gegeben haben, doch ist dieser Mörder vielleicht schon über hundert Jahre tot.« Sir Benjamins Augen weiteten sich, verengten sich dann aber wieder. »Heiliger Georg! Ich werde langsam richtig gut in diesen Dingen! -Da fällt mir ein: Angenommmen, der junge Starberth öffnet den Tresor und findet dort eine Kassette mit Anweisungen, etwas auf dem Balkon zu tun. Dann passiert etwas, die Kassette fällt ihm aus der Hand hinunter in den Brunnen - die Lampe fliegt in eine andere Richtung, wo Sie sie später finden - na?«
Eine enthusiastisch vorgetragene Theorie konnte Rampole jederzeit mitreißen. Wieder mußte er an bestimmte Zeilen aus Anthonys Manuskript denken: Doch ich habe begonnen, an einem Plan zu arbeiten. Aus tiefster Seele verabscheue und verfluche ich jene, an die mich mein Unglück mit Blutsbanden kettet... Wobei mir einfällt, daß die Ratten in letzter Zeit wieder fetter geworden sind.
Und doch - nein! Trotz seiner Begeisterung konnte er gewisse Zweifel an dieser glatten Hypothese nicht übergehen.
»Aber Sir«, protestierte er, »Sie glauben doch nicht ernsthaft, daß Anthony eine Todesfalle für seine sämtlichen Nachkommen geplant hatte. Selbst wenn er das getan hätte, wäre es nicht sehr praktisch gewesen. Denn er hätte doch nur eine Person damit gekriegt. Das Opfer nimmt die Kassette heraus, liest die Anweisung und wird vom Balkon gestürzt. Na gut. Aber am nächsten Tag entdeckt man doch das Geheimnis, oder?«
»Im Gegenteil. Man hat es eben nicht entdeckt. Angenommen die Instruktionen lauteten so: Lies dieses Papier, lege es zurück in die Kassette, schließe den Tresor wieder und verfahre dann, wie hierin vorgeschrieben... Doch diesmal«, sagte Sir Benjamin so aufgeregt, daß er Rampole mit dem Zeigefinger vor die Brust stieß, »diesmal nimmt das Opfer, warum auch immer, die Kassette und das Papier mit - und ab geht's, runter in den Brunnen.«
»Na gut, was ist aber dann mit den anderen Starberths, die nicht auf diese Weise starben? Davon hat es eine ganze Menge gegeben zwischen dem Martin von 1837 und dem Martin von 1930. Timothy hat sich zwar im Hexenwinkel das Genick gebrochen, doch es gibt keine Anzeichen dafür, daß... «
Der Chief Constable rückte leutselig seinen Kneifer fester. Jetzt war er der Lehrer, der einem Lieblingsschüler Hilfestellung leistete.
»Mein lieber Mr. Rampole«, sagte er, als räuspere er sich vor einer Klasse, »glauben Sie nicht, daß Sie die mechanischen Kunstgriffe des Mannes überschätzen, wenn Sie annehmen, er könne damit alle seine Nachkommen erwischen? Nein, nein. Aus dem einen oder anderen Grund würde der Apparat natürlich nicht immer funktionieren. Vielleicht starb Anthony ja, als er das Ding ausprobierte... Natürlich können Sie, wenn Sie wollen, auch meine erste Theorie vorziehen. Ich muß gestehen, daß ich sie für einen Moment vergessen hatte. Ich meine den Mörder, der etwas aus dem Tresor stehlen will. Er hat den Balkon als Todesfalle präpariert, benutzt also den Mechanismus des alten Anthony für seine eigenen modernen Zwecke. Er wartet, bis der junge Martin den Safe geöffnet hat. Dann sorgt er auf irgendeine Weise dafür, daß Martin hinaus auf den Balkon gelockt wird, wo der Mechanismus ihn hinunterstürzt. Die Lampe fliegt weg und zerbricht. Der Mörder -der sein Opfer niemals wirklich berührt hat - nimmt seine Beute und verschwindet. Damit hätten wir also, wie ich vorschlagen möchte, zwei Theorien, die sich beide um einen von Anthony Starberth vor langer Zeit geschaffenen Todesmechanismus drehen.«
»HEY!« dröhnte eine Donnerstimme.
Inzwischen waren die beiden Diskussionspartner so davon in Anspruch genommen, sich gegenseitig auf die Schultern zu tippen oder sich günstig zu postieren, um bestimmten Punkten besonderen Nachdruck zu verleihen, daß sie die anderen völlig vergessen hatten. Der ungestüme Ausbruch Dr. Fells ließ sie zusammenfahren. Es folgte ein heftiges Trommeln mit einem Stock auf dem Fußboden. Rampole wandte sich um. Dr. Fells massiger Leib hatte sich im Stuhl neben dem runden Tisch breitgemacht. Er funkelte sie förmlich an und schwang den anderen Stock durch die Luft.
»Sie beide«, sagte der Doktor, »sind die brillantesten logischen Geister, denen ich jemals lauschen durfte. Sie versuchen überhaupt nicht, etwas herauszufinden. Sie streiten einfach darüber, welche Version wohl die spannendste Geschichte hergibt.«
Er erzeugte mit seiner Nase ein fürchterlich herausforderndes Schnauben, es klang wie eine Fanfare. Dann fuhr er etwas sanfter fort:
»Nun, auch ich liebe solche Geschichten sehr. Seit vierzig Jahren trainiere ich meinen Verstand mit Geschichten von der Art der >Blutigen Hand<. Die üblichen Todesfallen sind mir deshalb bekannt: das Treppenhaus, das einen im Dunkeln auf einer Rutsche abwärts schickt, das Bett mit dem herabsinkenden Baldachin, das Möbelstück mit der vergifteten Nadel darin, die Uhr, die eine Kugel abfeuert oder einen mit einem Messer sticht, die Pistole im Safe, das Gewicht an der Decke, das Bett, das tödliches Gas freisetzt, wenn es durch Körperwärme aufgeheizt wird, und der ganze übrige Kram, ob nun wahrscheinlich oder nicht... Und ich gestehe«, sagte Dr. Fell vergnügt, »je unwahrscheinlicher die Sachen waren, desto besser gefielen sie mir. Ich habe ein simples melodramatisches Gemüt, Gentlemen, und ich würde Ihnen nur zu gerne glauben. Haben Sie jemals >Sweeney Todd, der Teufelsbarbier aus der Fleet Street< gesehen? Das sollten Sie mal. War eines der ersten Thrillerstücke, wie sie im frühen neunzehnten Jahrhundert sehr beliebt waren; mit einem teuflischen Barbiersessel, der einen in den Keller hinunterkatapultierte, wo der Meister einem dann in aller Ruhe die Kehle durchschneiden konnte. Aber - «
»Einen Augenblick!« rief Sir Benjamin gereizt. »Damit möchten Sie also andeuten, meine Auffassung sei wohl zu weit hergeholt?«
»Die Schauerromane im Besonderen«, fuhr Dr. Fell ungerührt fort, »sind voll von solchen - wie?« Er unterbrach sich und blickte auf. »Zu weit hergeholt? Um Himmels willen, nein! Einige der merkwürdigsten Todesfallen hat es ja tatsächlich gegeben, zum Beispiel Neros zusammenklappendes Schiff oder die vergifteten Handschuhe, mit denen Charles VII. ermordet wurde. Nein, nein. Das Unwahrscheinliche daran macht mir nichts aus. Der Punkt ist bloß, Gentlemen, daß Sie keinerlei Grundlage für all das Unwahrscheinliche haben. Damit bleiben Sie weit hinter den Detektivgeschichten zurück. Die mögen zwar zu einer unwahrscheinlichen Schlußfolgerung kommen, doch immer gelangen sie dorthin kraft gesunder, einwandfreier, wenn auch unwahrscheinlicher Beweise, die jedoch offen ausgebreitet vor uns liegen. -Woher wissen Sie eigentlich, daß sich irgendeine > Kassette< im Tresor befand?«
»Schön, das wissen wir nicht. Aber - «
»Genau. Und kaum haben Sie die Kassette, schon kriegen Sie die Inspiration von einem darin liegenden Papier. Dann nehmen Sie das Papier und schreiben Anweisungen darauf. Der junge Starberth fällt den Balkon runter, die Kassette wird Ihnen lästig, und Sie schmeißen sie ihm hinterher. Prächtig! Damit haben Sie nicht nur die Kassette und das Papier hervorgezaubert, sondern beides auch sofort wieder verschwinden lassen - und schon ist der Fall komplett. Das heißt doch wirklich, uns was vom Pferd zu erzählen, wie unsere amerikanischen Freunde das nennen würden! So geht es nicht.«
»Nun gut«, versetzte der Chief Constable starrköpfig. »Sie können ja, wenn Sie wollen, den Balkon untersuchen. Ich bin mir allerdings mächtig sicher, daß ich das nicht tun werde.«
Dr. Fell zog sich hoch. »Oh, das mache ich schon. Beachten Sie bitte, daß ich nicht gesagt habe, es gäbe keine Todesfalle. Sie könnten recht haben«, fügte er hinzu. Eindringlich blickte er starr geradeaus. »Doch ich möchte daran erinnern, daß wir lediglich eines mit absoluter Sicherheit wissen, nämlich daß der junge Starberth unter dem Balkon lag und sein Genick gebrochen war. Das ist alles.«
Sir Benjamin lächelte in seiner verkniffenen Art, wobei er die Mundwinkel eher nach unten als nach oben zu ziehen schien. Ironisch sagte er:
»Es freut mich, daß Sie wenigstens ein gutes Haar an meinen Überlegungen lassen. Ich habe zwei sehr überzeugende Theorien des Todesfalls entwickelt, die beide auf einer Falle basieren - «
»Und beide sind Mist!« sagte Dr. Fell. Er hatte bereits die Balkontür ins Auge gefaßt und schien besorgt zu sein.
»Vielen Dank.«
»Oh, macht nichts, « murmelte der Doktor verdrossen. »Ich beweise es Ihnen, wenn Sie es wollen. Beide Theorien basieren doch darauf, daß der junge Starberth angeblich auf den Balkon gelockt wurde, und zwar entweder (A) von den im Tresor gefundenen Instruktionen oder (B) durch den Trick einer Person, die den Safe berauben wollte und deshalb Starberth hinausschaffte, um den Balkon diese schändliche Arbeit machen zu lassen. Nicht wahr?«
»Sehr richtig.«
»Gut. Dann versetzen Sie sich doch einmal in die Lage des jungen Starberth. Sie sitzen am Tisch, wo er saß, mit Ihrer Fahrradlampe neben sich; ob so nervös, wie er war, oder so ruhig, wie Sie jetzt vielleicht sind, ist egal. Haben Sie das? Sehen Sie diese Szene?«
»Vollkommen, danke sehr.«
»Mit welcher Absicht auch immer, Sie gehen hinüber zur Tür, die seit Gott weiß wie vielen Jahren nicht mehr geöffnet worden ist. Sie versuchen also nicht nur, eine fest verschlossene Tür zu öffnen, sondern Sie wollen hinaus auf einen Balkon gehen, wo die Nacht schwärzer als Pech ist... Was tun Sie?«
»Nun, ich nehme die Lampe und - «
»Genau. Das ist es. Das ist die ganze Geschichte. Sie halten die Lampe, während Sie die Tür öffnen, und Sie leuchten, noch bevor Sie einen Fuß hinausgesetzt haben, raus auf den Balkon, um zu sehen, was Sie erwartet... Gut, aber genau das hat unser Opfer nicht getan. Wenn auch nur durch eine Ritze dieser Tür Licht gefallen wäre, hätten wir das von meinem Garten aus sehen müssen. Das haben wir aber nicht.«
Schweigen. Sir Benjamin schob mißmutig seinen Hut von einem Ohr aufs andere.
»Donnerwetter!« murmelte er, »das klingt ja recht vernünftig. Und dennoch, sehen Sie, irgend etwas daran stimmt nicht. Ich sehe jedenfalls keine natürliche Möglichkeit, wie der Mörder in diesen Raum gelangt sein könnte, ohne daß Starberth geschrien hätte.«
»Ich auch nicht«, sagte Dr. Fell, »wenn Sie das irgendwie tröstet. Ich...« Verwirrt unterbrach er sich und starrte die eiserne Balkontür an. »Oh Gott! Oh Bacchus! Bei meinem alten Hut! Das gibt's doch nicht.«
Er stelzte hinüber zur Tür. Zuerst kniete er nieder und untersuchte dort, wo beim Öffnen der Tür Dreck- und Steinbröckchen herabgefallen waren, den staubigen, schmutzigen Boden. Er fuhr mit seiner Hand darüber. Dann erhob er sich und betrachtete die Außenseite der Tür. Er drückte sie ein Stück weit zu und examinierte das Schlüsselloch.
»Eindeutig mit einem Schlüssel geöffnet«, murmelte er. »Hier ist ein frischer Kratzer im Rost, wo er abgerutscht ist.«
»Dann hat Martin Starberth die Tür also doch geöffnet?« bellte der Chief Constable.
»Nein. Nein, das glaube ich nicht. Das war der Mörder.« Dr. Fell sagte noch etwas, was aber nicht mehr zu verstehen war, weil er durch das herabhängende Efeu hinaus auf den Balkon getreten war.
Die Zurückgebliebenen sahen einander verlegen an. Rampole hatte vor dem Balkon sogar mehr Angst als eben noch vor dem Tresor. Trotzdem schob er sich näher, Sir Benjamin an seiner Seite. Als er sich umblickte, sah er, daß der Pfarrer eingehend die Titel der Kalbslederbände in den Regalen rechts des Kamins studierte; nur widerstrebend schien er sich von dort lösen zu können, obgleich sich seine Füße schon in Richtung des Balkons bewegten.
Rampole zerrte die Weinranken zur Seite und trat hinaus. Der Balkon war nicht breit und stellte kaum mehr als einen Steinsaum am Fuße der Tür dar, der hüfthoch von einer Balustrade eingefaßt war. Als er und Sir Benjamin neben den Doktor getreten waren, war kaum noch Platz auf dem Balkon.
Niemand sprach. Die Morgensonne schien noch nicht über das Gefängnis hinweg. Die steil abfallende Mauer, der Hügel und der Hexenwinkel zu ihren Füßen lagen noch im Schatten. Etwa acht Meter tiefer sah Rampole den Rand der Klippe über Schlamm und Strauchwerk hinausragen, darauf das Dreieck der Steinblöcke, die früher den Galgen getragen hatten. Durch die kleine Tür dort unten hatte man die Verurteilten aus der Folterkammer herausgeführt, wo der Schmied ihnen vor dem letzten Gang die Eisen abgeschlagen hatte. Von hier oben aus hatte Anthony alles beobachtet, in seinem neuen scharlachroten Anzug und dem betreßten Hut. Als er sich vorbeugte, sah er zwischen den Föhren die gähnende Öffnung des Brunnens. Obwohl der im tiefsten Schatten lag, glaubte er doch, den grünen Schleim auf dem Wasser viele Meter tiefer genau erkennen zu können.
Da war diese klaffende, von eisernen Spitzen umsäumte Grube, gut fünfzehn Meter unter dem Balkon. Jenseits davon lagen die nördlichen Wiesen bereits in hellem Sonnenlicht, sie waren übersät mit weißen Blumen. Man hatte einen guten Blick über die Ebene, die mit ihren Heckenreihen einem wogenden Schachbrett glich, auf die weiße Straße, den glitzernden Fluß, die hellen Häuser zwischen den Bäumen und den Kirchturm. Frieden. Heute waren die Wiesen nicht schwarz von Gesichtern, die einer Hinrichtung zusehen wollten. Rampole sah, wie ein Heuwagen die Straße entlangschaukelte.
» - sieht doch stabil genug aus«, hörte Rampole Sir Benjamin sagen, »und wir bringen schließlich ein ganz nettes Gewicht auf. Ich mag trotzdem nirgendwo herumfummeln. Vorsicht! Was machen Sie denn da?«
Dr. Fell wühlte vorsichtig im Efeu hinter der schwarzen Balustrade.
»Das hier wollte ich schon immer mal untersuchen«, sagte er, »doch ich hätte nie gedacht, daß ich tatsächlich einmal die Gelegenheit dazu haben würde. Hm. Das würde hier wohl kaum Spuren hinterlassen, oder doch?« murmelte er bei sich. Es folgte das Rascheln von reißendem Efeu.
»Ich wäre vorsichtiger an Ihrer Stelle. Selbst wenn - «
»Ha!« rief der Doktor und keuchte triumphierend. »Heißa! Trink Heil - wie der Trinkspruch der alten Sachsen hieß. Diese Knöpfe auf den Augen! Hätte nie gedacht, daß ich es tatsächlich entdecken würde. Doch hier ist es. Hi. Hihihi!« Er wandte ihnen sein strahlendes Gesicht zu. »Schauen Sie hier, am äußeren Rand der Brüstung. Da ist eine ausgeschabte Stelle, in die mein Daumen paßt. Und hier eine andere, nicht ganz so tiefe Rille an der uns zugewandten Seite.«
»Und was ist damit?« wollte Sir Benjamin wissen. »Ich würde lieber nicht daran herumfummeln. Man weiß nie.«
»Ein historischer Fund, das müssen wir feiern. Kommen Sie, meine Herren. Ich glaube nicht, daß es hier draußen sonst noch was gibt.«
Als sie das Gouverneurszimmer wieder betraten, sah ihn Sir Benjamin mißtrauisch an. Er fragte:
»Wenn Sie was gesehen haben - ich, zum Teufel, jedenfalls nicht. Was soll diese Kerbe denn mit dem Mord zu tun haben?«
»Überhaupt nichts, Mann! Das heißt«, sagte Dr. Fell, »nur indirekt. Allerdings, wenn es diese beiden Rillen im Stein nicht gäbe... Trotzdem, ich weiß es noch nicht genau!« Er rieb sich die Hände. »Hören Sie. Erinnern Sie sich noch an den Wahlspruch des alten Anthony? Er hatte ihn auf seinen Büchern stehen, in seine Ringe geprägt und Gott weiß, was sonst noch. Ist er Ihnen jemals aufgefallen?«
»Soso«, meinte der Chief Constable und kniff die Augen zusammen, »damit kehren wir also wieder zum alten Anthony zurück, was? Nein. Habe ich nie gesehen, den Wahlspruch. Und vorausgesetzt, Sie haben nicht noch einen anderen Vorschlag, machen wir besser, daß wir hier rauskommen und statten dem Herrenhaus einen Besuch ab. Kommen Sie! Was hat es also damit auf sich?«
Dr. Fell warf einen letzten Blick in den düsteren Raum.
»Das Motto«, sagte er, »lautete Omnia mea mecum porto - all meine Habe trage ich bei mir. Na? Denken Sie mal darüber nach. Wie war's jetzt mit einer Flasche Bier?«