Kapitel 11

Es kommt nicht alle Tage vor, wissen Sie«, erklärte der Doktor bedauernd, »daß ein Mensch die Möglichkeit erhält, die Geschichte seines eigenen Mordes niederzuschreiben.«

Er blickte im Kreis herum, schwer atmend und auf einen Stock gestützt, die breite linke Schulter hochgeschoben. Das schwarze Band seiner Augengläser hing fast senkrecht nach unten. Eine keuchende Pause...

»Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß Timothy Starberth ein seltsamer Mann war. Doch ich frage mich ernsthaft, ob sich jemand von Ihnen vorstellen kann, wie seltsam er wirklich gewesen ist. Sie kannten seine Bitterkeit, seine fast teuflischen Launen, seine besondere Vorliebe für schwarze Spaße. In mancherlei Hinsicht, da werden Sie mir zustimmen, war er eine Neuausgabe des alten Anthony. Doch Sie wären wahrscheinlich niemals darauf gekommen, daß er sich so eine Sache ausdenken konnte.«

»Was für eine Sache?« fragte der Chief Constable mit neugieriger Stimme.

Dr. Fell fuchtelte mit dem Stock herum.

»Jemand ermordete ihn«, antwortete er. »Jemand tötete ihn und ließ ihn im Hexenwinkel liegen. Im Hexenwinkel - denken Sie daran! Der Mörder glaubte, er wäre tot gewesen. Aber in Wirklichkeit lebte er noch, und zwar noch gut ein paar Stunden. Und da wären wir auch schon bei der Pointe des Witzes.

Natürlich hätte er den Mann, der ihn tötete, anzeigen können. Doch das war ihm zu einfach, verstehen Sie? Timothy wollte nicht, daß der so schnell davonkam. Deshalb schrieb er die gesamte Geschichte seines Mordes nieder. Dann veranlaßte er, daß sie versiegelt und aufbewahrt wurde, und zwar wo? Natürlich am sichersten aller Orte. Hinter Schloß und Riegel und Buchstabenkombination und, das war das Beste, an einer Stelle, wo niemand sie vermuten würde: im Tresor des Gouverneurszimmers.

Zwei Jahre lang, bis Martin den Tresor an seinem Geburtstag öffnen würde, sollte jeder glauben, Timothy wäre durch einen Unfall ums Leben gekommen. Das heißt, jeder außer dem Mörder. Er selbst würde sich Mühe geben, den Mörder wissen zu lassen, daß dieses Dokument existierte. Das war der Spaß daran! Zwei Jahre lang würde der Mörder sicher sein, doch die Qualen eines Verdammten erleiden. Jedes Jahr, jeder Monat, jeder Tag verringerte unerbittlich die Zeitspanne, nach deren Ablauf die Geschichte ans Licht käme. Nichts konnte das verhindern. Es war wie ein Todesurteil, das ganz langsam herangekrochen kam. Der Mörder konnte nicht an das Papier heran. Der einzige Weg, das verdammende Schriftstück in die Finger zu bekommen, wäre gewesen, mit Hilfe von Nitroglyzerin den Tresor aufzusprengen, was aber dem Gefängnis das gesamte Dach weggeblasen hätte und also keine sonderlich praktikable Methode gewesen wäre. So etwas mag vielleicht für einen erfahrenen Einbrecher durchführbar sein und in einer Stadt wie Chikago. Doch für einen gewöhnlichen Sterblichen in einem englischen Dorf ist so was nicht gut machbar. Selbst wenn man die sehr unwahrscheinliche Möglichkeit in Betracht zieht, daß der Mörder vielleicht doch Ahnung vom Safeknacken hat, so könnte er hier trotzdem nicht mit Einbrecherwerkzeug herumspielen oder gar Sprengstoff nach Chatterham hereinschaffen, ohne dabei beträchtliche Aufmerksamkeit zu erregen. Einfach ausgedrückt: Der Mörder war machtlos. Nun können Sie sich sicher die exquisiten Todesqualen vorstellen, die er, genau wie Timothy es beabsichtigt hatte, durchleben mußte?«

Sir Benjamin konnte absolut nicht zustimmen. »Mann«, sagte er, »Sie - Sie sind - das ist ja das Verrückteste - ! Sie haben keine Beweise dafür, daß er ermordet wurde. Sie - «

»Oh doch, das habe ich«, sagte Dr. Fell.

Sir Benjamin starrte ihn an. Dorothy Starberth hatte sich erhoben und winkte abwehrend.

»Aber sehen Sie doch«, meinte der Chief Constable, »wenn diese wahnsinnige Vermutung wahr sein sollte - ich sage, wenn sie wahr sein sollte -, warum sollte er dann zwei Jahre warten? Der Mörder hätte doch einfach verschwinden können, oder etwa nicht? So hätte er sich jeder Verfolgung entziehen können.«

»Damit spätestens dann«, versetzte Dr. Fell, » wenn das Papier schließlich gefunden würde, seine Schuld ohne jeden Zweifel feststünde. Ein Geständnis! Das wäre es gewesen. Und wo er in der Welt auch hinkäme, wo immer er sich versteckte, stets hätte er dieses höllische Damoklesschwert über sich schweben. Und früher oder später würde man ihn sowieso finden. Nein, nein. Der einzig sichere Weg, die einzige Möglichkeit, überhaupt etwas zu tun, war, hierzubleiben und zu versuchen, das Dokument in die Hände zu bekommen. Schlimmstenfalls konnte er immer noch alles einfach abstreiten und dagegen ankämpfen. In der Zwischenzeit aber konnte er immer noch hartnäckig darauf hoffen, das Dokument zu vernichten, bevor es bekannt wurde.« Der Doktor machte eine kleine Pause und fügte dann mit matter Stimme hinzu:

»Wir wissen jetzt, daß er damit Erfolg hatte.«

Da waren schwere Schritte auf dem gebohnerten Parkett. Das Poltern platzte so unheimlich in den stillen Raum, daß alle aufblickten.

»Dr. Fell hat völlig recht, Sir Benjamin«, sagte die Stimme des Pfarrers. »Der verstorbene Mr. Starberth sprach kurz vor seinem Tode mit mir. Er sagte mir, wer ihn ermordete.«

Saunders stand am Tisch. Sein breites rosiges Gesicht war ausdruckslos. Er breitete die Arme aus und deklamierte betont langsam und schlicht:

»Gott steh' mir bei, Gentlemen. Ich dachte, er wäre verrückt geworden.«

Die silbernen Töne der Uhr schwangen durch die Halle.

»Aha«, nickte Dr. Fell. »Ich dachte mir fast, daß er es Ihnen gesagt hatte. Sie sollten die Information an den Mörder weitergeben. Haben Sie das getan?«

»Er sagte mir, ich solle mit seiner Familie reden, aber mit niemandem sonst. Ich tat dies, wie ich es versprochen hatte«, sagte Saunders und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

Aus dem Schatten des breiten Sessels, in den sie sich wieder gesetzt hatte, sagte Dorothy:

»Das war die andere Sache, vor der ich mich fürchtete. Ja, er hat es uns erzählt.«

»Und Sie haben nie etwas davon gesagt?« rief der Chief Constable sehr plötzlich und schrill. »Sie wußten, daß ein Mann ermordet worden war, und niemand von Ihnen -?«

Saunders hatte seine Herzlichkeit und sein öliges Gehabe verloren. Er schien die Regeln englischer Sportlichkeit auch auf diese düstere und schreckliche Angelegenheit anwenden zu wollen, konnte aber offenbar die Gebrauchsanleitung nicht finden. Seine Hand fuchtelte umher.

»Man hört da Sachen«, sagte er mit Mühe, »und man weiß nicht recht - man kann es einfach nicht beurteilen. Man - nun, ich sage es Ihnen offen, ich dachte ganz einfach, er hätte den Verstand verloren. Es war unglaublich, mehr als unglaublich. Das war doch etwas, das niemals jemand tun würde, verstehen Sie mich?« Mit verstörten blauen Augen blickte er in die Runde, als versuche er, in der Luft etwas zu finden. »Es ist nicht so einfach!« fuhr er dann verzweifelt fort. »Noch bis gestern abend konnte ich es einfach nicht glauben. Doch dann mußte ich plötzlich denken: Was ist, wenn es am Ende doch stimmt? Wenn es tatsächlich einen Mörder gibt? Deshalb veranlaßte ich, daß wir - Dr. Fell, Mr. Rampole und ich - Wache hielten. Und jetzt weiß ich es. Jetzt weiß ich es. Aber ich weiß nicht, was ich nun machen soll.«

»Nun, wir anderen wissen es dafür um so besser«, bellte der Chief Constable. »Soll das etwa heißen, er hat Ihnen den Namen seines Mörders genannt?«

»Nein. Er sagte nur, es - es sei ein Mitglied seiner Familie.«

Rampoles Herz pochte heftig. Er rieb mit den Handflächen über die Knie seiner Hose, als wollte er etwas wegwischen. Jetzt wußte er, was den Pfarrer gestern abend beschäftigt hatte. Er erinnerte sich auch der unvermittelten, irritierenden Frage: »Wo ist Herbert?«, die Saunders stellte, als Dorothy Starberth angerufen hatte, um mitzuteilen, Martin habe das Haus verlassen. Ziemlich lahm hatte Saunders sie damit erklärt, Herbert sei ein zuverlässiger Mann in einer schwierigen Lage. Jetzt gab er eine weitaus bessere Erklärung.

Dorothy saß da, mit ihren verweinten Augen und einem leicht schiefen, abwesenden Lächeln. Dr. Fell bohrte mit seinem Stock auf dem Boden herum. Saunders starrte in die Sonne, als wollte er durch himmelaufwärts gerichtete Blicke für etwas Buße tun. Payne zog sich mit einem Buckel in sein kleines, graues Schneckenhaus zurück. Und Sir Benjamin musterte sie alle mit schräg gelegtem Kopf wie ein Pferd, das um die Ecke seines Stalles schaut.

»Nun gut«, meinte der Chief Constable mit sachlicher Stimme, »sieht so aus, als müßten wir jetzt das Schleppnetz nach Herbert auswerfen... «

Dr. Fell blinzelte nachsichtig zu ihm hoch.

»Haben Sie nicht etwas vergessen?« wollte er wissen.

»Vergessen?«

»Zum Beispiel«, sagte der Doktor nachdenklich, »haben Sie doch gerade Payne befragt. Warum fragen Sie ihn jetzt nicht, was er von der Sache weiß? Irgend jemand muß doch Timothys Aufzeichnungen in den Tresor des Gouverneurszimmers gelegt haben. Weiß er, was darin stand?«

»Aha«, sagte Sir Benjamin, aus seinen Gedanken gerissen. »Ah ja. Natürlich.« Er rückte seinen Kneifer zurecht. »Nun, Mr. Payne?«

Paynes Finger trommelten auf seine Backe. Er räusperte sich.

»Es mag so sein. Ich persönlich denke aber, Sie reden Unsinn. Wenn Starberth irgend etwas in der Richtung gemacht hätte, dann hätte er doch wohl mit mir darüber reden müssen. Ich war der gegebene Gesprächspartner. Nicht Sie, Mr. Saunders. Nicht Sie. Allerdings entspricht es vollkommen der Wahrheit, daß er mir einen versiegelten Umschlag mit dem Namen seines Sohnes darauf übergab, den ich in den Tresor bringen sollte.«

»Das meinten Sie doch, nicht wahr, als Sie davon sprachen, schon früher dort gewesen zu sein?« fragte Dr. Fell.

»Ja, genau. Das ganze Verfahren war höchst irregulär. Aber«, der Anwalt machte eine Geste des Unbehagens, als rutschten ihm die Manschetten über die Hände und behinderten ihn, »aber er war ein sterbender Mann, und er behauptete, der Umschlag stehe in entscheidendem Zusammenhang mit der Prozedur, die der Erbe durchlaufen mußte. Da ich nicht wußte, was das andere Dokument enthielt, konnte ich darüber natürlich nicht urteilen. Er starb ja sehr plötzlich. Möglicherweise gab es Dinge, die er unterlassen hatte, die aber im Rahmen des ganzen Rituals getan werden mußten. Also akzeptierte ich. Denn selbstverständlich war ich der einzige, der diese Mission übernehmen konnte. Ich hatte die Schlüssel.«

»Aber Ihnen gegenüber erwähnte er nichts von Mord?«

»Nein. Er bat mich lediglich, auf einem Zettel zu attestieren, daß er bei gesundem Verstand war. Den Eindruck hatte ich tatsächlich. Diesen Zettel schob er zusammen mit seinem Manuskript, das ich nicht einsehen durfte, in den Umschlag.«

Dr. Fell bürstete die Spitzen seines Schnurrbartes hoch und nickte wieder in seiner monotonen, mechanischen Weise.

»Dann hören Sie also heute zum ersten Mal, daß ein solcher Verdacht geäußert wird?«

»Allerdings.«

»Und wann legten Sie das Dokument in die Stahlkassette?«

»Noch in derselben Nacht, der Nacht seines Todes.«

»Ja, ja«, unterbrach sie der Chief Constable ungeduldig, »mir ist das jetzt alles klar. Wir kommen aber vom Thema ab, zum Henker. Hören Sie. Wir haben ein Motiv, weshalb Herbert Martin getötet haben könnte. Doch warum sollte Herbert seinen Onkel am Anfang dieser ganzen Geschichte ermordet haben? Hier entsteht doch ein komplettes Durcheinander... Und wenn er Martin getötet hat, warum ist er dann abgehauen? Wenn er zwei Jahre lang die Nerven bewahren mußte und sie auch erfolgreich behalten hat, warum macht er sich dann, gerade als er endlich sicher sein kann, aus dem Staub? Und was noch mehr zählt: Wohin fuhr er mit seinem Motorrad über die Straße hinterm Haus und mit einer gepackten Tasche - einige Stunden vor dem Mord? Es paßt irgendwie alles nicht zusammen... «

Er runzelte die Stirn und atmete tief durch.

»In jedem Fall muß ich jetzt tätig werden. Dr. Markley will morgen die gerichtliche Leichenschau abhalten, und wir lassen die Jury entscheiden. In der Zwischenzeit brauche ich aber Kennzeichen und genaue Beschreibung dieses Motorrades für die Großfahndung, Miss Starberth. Tut mir sehr leid. Aber es geht nicht anders.«

Sir Benjamin war in sichtlicher Verlegenheit und wollte diese Konferenz so schnell wie möglich beenden. Deutlicher als jeder Verdacht schimmerte in seinen Augen das Verlangen nach einem Whisky Soda. Ihr Abschied mit einigen Verbeugungen vor dem falschen Gegenüber geriet reichlich unbeholfen. Rampole war an der Tür etwas zurückgeblieben, als Dorothy Starberth ihn am Ärmel berührte. Wenn das Verhör ihre Nerven angespannt haben mochte, zeigte sie es jedenfalls nicht. Sie war nur nachdenklich, wie ein ernstes Kind. Leise sagte sie: »Dieses Blatt, das ich dir gezeigt habe, das Gedicht: Wir wissen es jetzt, nicht wahr?«

»Ja. Irgendwelche Anweisungen. Der Erbe mußte sie herausknobeln.«

»Aber wofür?« fragte sie ungestüm. »Was für Anweisungen?«

In Rampoles Kopf hatte sich eine Bemerkung festgesetzt, die relativ achtlos von dem Anwalt hingeworfen worden war. Sie hatte ihn die ganze Zeit beschäftigt, nahm jetzt allmählich Gestalt an und provozierte eine Frage.

»Es gibt vier Schlüssel - «, begann er und blickte sie an.

»Ja.«

»Zur Tür des Gouverneurszimmers. Das ist verständlich. Zum Tresor und zur Kassette. Diese drei sind erklärlich. Aber - warum ein Schlüssel für die eiserne Balkontüre? Wozu würde man den brauchen? Es sei denn, diese Instruktionen wiesen - richtig gedeutet - den Mann hinaus auf den Balkon...«

Erneut nisteten sich die nebulösen Vermutungen, die Sir Benjamin angestellt hatte, in seinen Gedanken ein. Alle Anzeichen wiesen zum Balkon. Er mußte an den Efeu denken, an die steinerne Balustrade und an die zwei Vertiefungen, die Dr. Fell entdeckt hatte. Eine Todesfalle...

Verwirrt stellte er fest, daß er laut geredet hatte. Er sah es an dem schnellen Blick, den sie ihm zuwarf, und verwünschte sich sogleich, daß ihm die Worte entschlüpft waren. Was er gesagt hatte, war:

»Es heißt doch, Herbert wäre ein Erfinder.«

»Du glaubst, daß er - «

»Nein! Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.«

In der dämmrigen Halle wandte sie ihm ihr bleiches Gesicht zu. »Wer auch immer das getan hat, ermordete jedenfalls auch Vater. Ihr seid doch alle davon überzeugt. Und außerdem gab es sogar einen Grund. Ich weiß jetzt, daß es einen Grund gab. Es ist grauenhaft und furchtbar, aber - oh mein Gott! ich hoffe, es ist wahr!... Starr mich doch nicht so an. Ich bin nicht verrückt geworden. Wirklich nicht.«

Ihre leise Stimme wurde etwas undeutlich, und sie sprach, als beginne sie im Nebel Umrisse zu erkennen. Ihre dunkelblauen Augen blickten gespenstisch.

»Hör zu. Dieses Blatt Papier - es enthält also irgendwelche Anweisungen. Wofür? Wenn Vater getötet wurde, von jemand ermordet wurde - also kein Fluch, sondern vorsätzlich ermordet -, was dann?«

»Ich weiß nicht.«

»Aber ich. Wenn Vater ermordet wurde, dann nicht, weil er die Anweisungen aus diesem Gedicht befolgt hat. Angenommen, jemand anders hat das Rätsel der Verse lösen können. Vielleicht ist irgendwo etwas versteckt, zu dem die Verse die Hinweise liefern - und der Mörder tötete Vater, weil der ihn bei der Arbeit überrascht hatte...!«

Rampole starrte in ihr angespanntes Gesicht. Ihre Hand tastete herum, als berührte sie schon undeutlich das Geheimnis. Er sagte: »Du - du redest doch wohl nicht von so was Verrücktem wie einem vergrabenen Schatz?«

Sie nickte. »Das ist mir ganz egal. Was ich meine ist, wenn es wahr ist - verstehst du denn nicht! Dann gibt es überhaupt keinen Fluch, der auf uns lastet, keinen Wahnsinn. Dann bin ich nicht erblich belastet und auch sonst niemand aus unserer Familie. Das ist es, was mich interessiert.« Und noch leiser fügte sie hinzu: »Wenn man sich die ganze Zeit fragen muß, ob man eine furchtbare Saat im Blut trägt, und man grübelt und grübelt, das ist die Hölle - «

Er berührte ihre Hand. Gedrückte Stille herrschte in dem düsteren Zimmer, ein Gefühl von allgegenwärtiger Angst, und er hatte den dringenden Wunsch, die Fenster zum Tageslicht auf zustoßen.

» - deshalb sage ich, ich flehe zu Gott, daß es wahr ist. Mein Vater ist tot und mein Bruder, das ist nicht mehr zu ändern. Aber wenigstens hat man es mit eindeutigen Sachverhalten zu tun, Dingen, die man begreifen kann. Wie einen Autounfall. Verstehst du?«

»Ja. Und wir müssen das Geheimnis dieses Kryptogramms herausfinden, wenn es denn ein Geheimnis gibt. Kann ich eine Abschrift haben?«

»Komm mit nach hinten und schreib es ab, bevor alle weg sind. Ich darf dich für eine Weile nicht sehen...«

»Aber das kannst du nicht - ich meine, du mußt! Wir müssen uns sehen, und sei es nur für ein paar Minuten!«

Langsam sah sie zu ihm auf. »Das können wir nicht. Die Leute würden reden.« Er nickte nur dumpf, sie streckte ihre Handflächen vor, als wollte sie sie ihm auf die Brust legen, und fuhr mit angespannter Stimme fort: »Oh, glaubst du etwa, ich wünschte es mir nicht genauso sehr wie du? Oh, doch. Viel mehr sogar! Aber wir dürfen nicht. Man würde reden. Man würde alle möglichen schrecklichen Dinge erzählen. Daß ich eine herzlose Schwester bin und - vielleicht bin ich das sogar.« Sie zitterte. »Man hat immer schon gesagt, ich sei merkwürdig, und langsam glaube ich es selbst. Ich sollte nicht so reden, wo mein Bruder gerade tot ist, aber ich bin auch nur ein Mensch - ich - egal! Also los, schreib das Gedicht ab. Ich gebe es dir.«

Schweigend gingen sie hinüber in das kleine Büro. Rampole kritzelte die Strophen auf die Rückseite eines Umschlages. Als sie in die Eingangshalle zurückgingen, waren die anderen bereits verschwunden. Nur Budge machte Stielaugen; er sah schockiert aus und ging an ihnen vorüber, als habe er sie nicht gesehen.

»Siehst du?« fragte sie und hob die Brauen.

»Ich weiß. Ich gehe jetzt und werde nicht versuchen, dich zu sehen, bis ich etwas von dir höre. Aber - hättest du etwas dagegen, wenn ich das hier Dr. Fell zeige? Er wird nicht darüber reden. Und du hast ja heute gesehen, wie gut er in diesen Dingen ist.«

»Ja, zeig es Dr. Fell. Tu das! Ich hatte nicht daran gedacht. Aber sonst niemand - bitte. Du mußt jetzt los.«

Als sie ihm die Tür öffnete, war er beinahe überrascht, das sanfte Sonnenlicht über dem Rasen liegen zu sehen. Als sei dies einfach ein englischer Sonntag, als läge kein Toter oben in einem Zimmer. Tragödien berühren uns doch nicht so tief, wie wir manchmal glauben. Als er die Auffahrt hinunterging, um sich den anderen anzuschließen, blickte er noch einmal über die Schulter zurück. Sie stand reglos im Eingang, der Wind spielte mit ihren Haaren. In den hohen Ulmen hörte er die Tauben, im Efeu zankten sich Spatzen. Auf der weißen Kuppel oben hatte sich die vergoldete Wetterfahne glitzernd gegen Mittag gedreht.

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