Kapitel 5

Hitze. Drückende, ungesunde Hitze mit kleinen Böen, die wie aus einem Ofen nur kurz durch die Blätter der Bäume pufften und sofort verebbten. Wäre dieses Haus wirklich ein Schweizer Barometer gewesen, dann hätten dessen Figuren jetzt wild in ihrem Chalet herumsausen müssen.

Sie aßen bei Kerzenlicht in einem kleinen eichengetäfelten Raum mit Zinngeschirr an den Wänden. Er war so warm wie das Essen, der Wein wärmer als beides. Dr. Fells Gesicht rötete sich zusehends, ständig füllte er sein Glas nach. Seine Frische und Beredsamkeit waren dahin, und selbst Mrs. Fell war still, wenn auch etwas nervös. Ständig reichte sie die falschen Dinge herum, was aber niemand bemerkte.

Auch mit Kaffee, Zigarren und Portwein hielten sie sich, entgegen der sonstigen Gewohnheiten des Doktors, nicht mehr auf. Rampole ging anschließend sofort hinauf in sein Zimmer. Er zündete eine Öllampe an und begann sich umzuziehen. Er zog eine alte Flanellhose an, ein bequemes Hemd und Tennisschuhe. Das Zimmer war klein, mit schrägen Wänden, und durch das einzige Fenster sah man, geschützt vom Dachüberhang, auf die Seite des Chatterham-Gefängnisses und den Hexenwinkel. Ein Flugkäfer stieß mit einem Knall, der Rampole auffahren ließ, gegen den Fliegendraht; um die Lampe flatterte bereits eine Motte.

Es war eine Erleichterung, etwas zu tun. Er zog sich fertig an und lief dann ruhelos umher. Die Luft hier oben war stickig und, wie auf einem Dachboden, erfüllt vom Geruch trockener Holzbalken; selbst der Kleister hinter der Tapete schien einen muffigen Geruch zu verbreiten. Doch das Schlimmste war die blakende Öllampe. Den Kopf gegen das Drahtgitter gepreßt, spähte er hinaus. Gerade ging der Mond mit kränklich fahlem Kranz auf.

Es war nach zehn. Verdammte Ungewißheit! Auf dem Nachttisch neben dem Himmelbett tickte mit irritierendem Gleichmut ein Reisewecker. Der Kalender im unteren Teil der Uhr wollte unablässig wissen, wo er denn am 12. Juli des vergangenen Jahres gewesen war; Rampole konnte sich nicht erinnern. Ein neuer Windstoß raschelte in den Bäumen. Hitze, die stechend und dumpf auf dem Körper lastete und in schwindligmachenden Wellen das Gehirn überflutete. Hitze... Er blies die Lampe aus. Dann stopfte er Pfeife und Tabaksbeutel in seine Tasche und ging die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer, wo Mrs. Fell in einer Illustrierten mit großen Bildern blätterte, knarrte unermüdlich ein Schaukelstuhl. Rampole ging hinaus auf den nächtlichen Rasen. Der Doktor hatte zwei Korbstühle auf die dem Gefängnis zugewandte Hausseite hinübergeschleppt. Dort war es vollständig dunkel und bedeutend kühler. Rotglühend bewegte sich der Kopf seiner Pfeife hin und her. Als Rampole sich gesetzt hatte, bekam er ein kaltes Glas in die Hand gedrückt.

»Wir können jetzt nichts weiter tun«, sagte Dr. Fell, »als abwarten.« Weit entfernt im Westen rollte der Donner mit dem Geräusch einer Bowlingkugel, die, ohne einen Kegel zu treffen, die Holzbahn entlangpoltert. Rampole nahm einen langen Schluck von dem kalten Bier. Das war schon besser! Der Mond schien nicht sonderlich hell, doch der Wiesenhang schwamm bereits in einem dünnmilchigen Licht, das allmählich auch die Mauern überzog.

»Welches ist das Fenster des Gouverneurszimmers?« fragte er leise.

Der rotglühende Pfeifenkopf wies hinüber. »Das große da - das einzige große. Fast in gerader Linie von hier, sehen Sie's? Direkt daneben ist eine Eisentür, die zu einem kleinen Steinbalkon führt. Dort stellte sich früher der Gouverneur auf, um den Hinrichtungen beizuwohnen.«

Rampole nickte. Die ganze diesseitige Mauer des Gefängnisses war mit Efeu überzogen; es wucherte besonders üppig, wo das Mauerwerk durch sein eigenes Gewicht in den Kamm des Hügels eingesunken war. Im milchigen Licht waren Ranken erkennbar, die von den schweren Fenstergittern herabhingen. Unterhalb des Balkons, allerdings beträchtlich tiefer, befand sich noch eine Eisentür. Vor dieser Tür fiel der Kalkfelsen steil ab bis zu den emporragendenden Föhren des Hexenwinkels.

»Und diese untere Tür ist vermutlich diejenige, durch die man die Verurteilten hinausführte?«

»Ja. Sie können heute immer noch die drei Steinblöcke mit den Löchern darin sehen, die das Gerüst des Galgens hielten. Der Steinrand des Brunnens wird von diesen Bäumen verdeckt. Als der Brunnen noch benutzt wurde, waren die natürlich noch nicht da.«

»Und da rein warf man alle Toten?«

»Allerdings. Man fragt sich, warum nicht noch nach hundert Jahren die ganze Gegend hier verseucht ist. Denn der Brunnen beherbergt alles mögliche Ungeziefer. Dr. Markley versucht seit fünfzehn Jahren, die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen; aber weil es sich um Land der Starberths handelt, hat er weder die Bezirksverwaltung noch die Gemeinde bewegen können, etwas dagegen zu tun. Hm.«

»Und die Starberths dulden nicht, daß er zugeschüttet wird?«

»Nein. Auch der Brunnen ist Bestandteil dieses alten Firlefanz; ein Relikt von Anthony aus dem achtzehnten Jahrhundert. Ich habe mir nochmal Anthonys Tagebuch angesehen. Und wenn ich daran denke, wie er starb, dazu gewisse rätselhafte Andeutungen in seinem Tagebuch, dann glaube ich manchmal...«

»Sie haben mir noch gar nicht erzählt, wie er gestorben ist«, bemerkte Rampole ruhig.

Doch in dem Moment, wo er das sagte, fragte er sich, ob er es überhaupt wissen wollte. Gestern abend noch, dachte er, war er sicher gewesen, daß etwas Nasses über die Mauern des Gefängnisses geblickt hatte. Tagsüber war ihm nichts aufgefallen. Jetzt nahm er einen ausgeprägten Modergeruch wahr, der offenbar vom Hexenwinkel über die Wiesen herübergeweht wurde.

»Ich vergaß«, murmelte der alte Gelehrte. »Ich wollte es Ihnen heute nachmittag vorlesen, als Mrs. F. uns unterbrach. Hier.« Papier raschelte, dann wurde ihm ein dickes Bündel Blätter in die Hand gedrückt. »Nehmen Sie es mit nach oben. Ich möchte, daß Sie es lesen, um sich ein eigenes Bild davon zu machen.«

Quakten dort Frösche? Er glaubte, es durch das Pulsieren und Summen der Mücken deutlich zu hören. Oh Gott! Dieser Modergeruch wurde wirklich stärker, es war keine Einbildung. Es mußte eine natürliche Erklärung dafür geben - vom Boden aufsteigende Tageshitze oder so etwas. Er hätte sich gewünscht, mehr über solche Naturvorgänge zu wissen. Die Bäume begannen wieder unruhig zu flüstern. Im Innern des Hauses schlug eine Uhr ein einzelnes Bong.

»Halb elf«, brummte sein Gastgeber, »und ich glaube, dort kommt das Auto des Pfarrers den Weg herauf.«

Tanzende Scheinwerfer blitzten undeutlich herüber. Ein uraltes Ford-T-Modell (über das immer diese Witze gemacht wurden) schaukelte ratternd und stampfend heran, wendete und hielt; der Pfarrer wirkte riesenhaft auf seinem Ausguck. Er eilte im Mondlicht zu ihnen herüber und brachte einen Stuhl vom Rand der Wiese mit. Das betont Freundliche seines Gehabes war jetzt nicht mehr so deutlich. Rampole hatte plötzlich den Eindruck, Saunders führe sich wohl vor allem aus gesellschaftlichen Gründen so auf, um eine hochgradige Scheu zu überspielen. Sein Gesicht war nicht deutlich zu erkennen, doch man merkte, daß er schwitzte. Er schnaufte, als er sich niederließ.

»Ich habe noch schnell einen Happen gegessen«, sagte er, »und bin dann geradewegs hierher. Ist alles vorbereitet?«

»Alles. Sie ruft an, sobald er losgeht. Hier, nehmen Sie eine Zigarre und ein Glas Bier. Wie ging es ihm, als Sie ihn zuletzt sahen?«

Eine Flasche klirrte gegen ein Glas. »Er war nüchtern genug, um Angst zu haben«, antwortete der Pfarrer. »Sobald wir im Herrenhaus waren, ging er an die Bar. Ich war mir nicht sicher, ob ich seine Trinkerei unterbinden sollte. Herbert kümmert sich jetzt um ihn. Als ich vom Herrenhaus wegfuhr, saß er oben in seinem Zimmer und zündete eine Zigarette an der anderen an. Er muß in der kurzen Zeit, die ich dort war, eine ganze Schachtel geraucht haben. Ich - äh - ich wies ihn auf die nachteilige Wirkung von soviel Nikotin - nein danke, ich rauche nicht - für seinen Organismus hin, aber da sprang er mir fast ins Gesicht.«

Alle schwiegen jetzt. Rampole ertappte sich dabei, wie er auf den nächsten Schlag der Uhr wartete. Martin Starberth würde das, an einem anderen Ort, ebenfalls tun.

Im Haus schrillte das Telefon.

»Das ist sie. Nehmen Sie die Nachricht entgegen, mein Junge?« fragte Dr. Fell. Sein Atem ging ein wenig schneller. »Sie sind flinker als ich.«

In seiner Hast stolperte Rampole beinahe über die Eingangsstufen. Das Telefon war von jener altertümlichen Sorte, an der man kurbeln mußte. Mrs. Fell hielt ihm bereits den Hörer hin.

»Er ist auf dem Weg«, sagte die Stimme von Dorothy Starberth. Sie klang bewundernswert gefaßt. »Ihr werdet ihn gleich auf der Straße sehen. Er hat eine Fahrradlampe mitgenommen.«

»Wie geht es ihm?«

»Er spricht etwas schwerfällig, ist aber nüchtern genug.« Ziemlich heftig fügte sie hinzu: »Aber dir geht's doch gut, oder?«

»Ja. Mach dir jetzt bitte keine Sorgen mehr. Wir werden uns um alles kümmern. Er ist in keiner Gefahr, Liebes.«

Erst auf dem Weg hinaus besann er sich des letzten Wortes, das er am Telefon unbewußt gebraucht hatte. Trotz aller Aufregung stutzte er. Es mußte ihm in diesem Moment völlig selbstverständlich gewesen sein.

»Nun, Mr. Rampole«, dröhnte der Pfarrer aus dem Dunkel.

»Er ist aufgebrochen. Wie weit ist das Herrenhaus vom Gefängnis entfernt?«

»Es liegt eine Viertelmeile dahinter, Richtung Bahnhof. Sie müssen dort gestern abend vorbeigekommen sein.«

Saunders klang zerstreut, doch schien er sich jetzt, wo die Sache losging, wohler zu fühlen. Er und der Doktor waren zur Vorderseite des Hauses gekommen. Er wandte sich um, sein großes Gesicht glänzte im Mondschein. »Ich habe mir den ganzen Tag über die fürchterlichsten Dinge ausgemalt... Als diese Sache noch weit weg war, habe ich darüber gelacht. Aber jetzt, wo es soweit ist... ja, der alte Timothy Starberth... «

Irgend etwas beunruhigte das Eton-Gewissen des guten Pfarrers. Er wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn, dann fragte er:

»Hören Sie, Mr. Rampole, war Herbert da?«

»Wieso Herbert?« fragte der Doktor scharf.

»Ich - äh - ich wünschte nur, er wäre hier. Der junge Mann ist so zuverlässig. Solide und zuverlässig. Kennt keine Nerven, bewundernswert. Sehr englisch, sehr bewundernswert.«

Wieder das Rollen des Donners, verhalten und in weiter Ferne. Eine frische Brise wehte durch den Garten, weiße Blüten tanzten. Ein Blitz zuckte so kurz, als teste ein Elektriker die Beleuchtung der Bühne vor Beginn des Stückes.

»Wir sollten lieber achtgeben, daß er sicher hineinkommt«, gab der Doktor verdrießlich zu bedenken. »Wenn er betrunken ist, könnte er böse stürzen. Hat sie gesagt, ob er betrunken war?«

»Nicht sehr.«

Sie trotteten den Weg hinunter. Auf dieser Seite lag das Gefängnis im eigenen Schatten, doch Dr. Fell zeigte die ungefähre Position des Eingangstores. »Ist natürlich kein Tor mehr drin«, erklärte er. Der felsige Hang, der sich dort hinaufzog, war im Mondlicht recht gut zu erkennen. Ein schmaler Weg führte in engen Kurven bis fast in den Schatten des Gefängnisses. Ungefähr zehn Minuten lang sprach niemand. Rampole versuchte eine Weile, den Rhythmus eines Grillenzirpens herauszufinden, indem er zwischen den einzelnen Strophen die Sekunden zählte, aber er verlor sich in einem Labyrinth von Zahlen. Ein Windstoß blähte sein Hemd mit wohltuender Kühle.

»Da ist er«, sagte Saunders unerwartet.

Ein weißer Lichtstrahl strich über den Hügel. Dann erschien auf dem Kamm eine Gestalt, die sich langsam, aber stetig vorwärtsbewegte. Es wirkte unheimlich, weil es aussah, als stiege sie aus der Erde auf. Die Gestalt war bemüht, sich mit sorglosem Schwung zu bewegen, doch das Licht strich immer wieder hierhin und dorthin - als leuchte Martin Starberth bei jedem leisen Geräusch in die entsprechende Richtung. Als Rampole das sah, spürte er den Schrecken, der den schlanken, hochmütigen, angetrunkenen Mann dabei jedesmal überfallen mußte. Er wirkte sehr winzig auf die Entfernung. Am Tor zögerte er kurz. Das Licht bewegte sich nicht mehr, beleuchtete nur flackernd einen gähnenden Torbogen. Dann wurde es vom Inneren verschluckt.

Die Beobachter gingen wieder hinauf und sanken schwer in ihre Sessel.

Im Haus begann es elf Uhr zu schlagen.

» - wenn sie ihm bloß gesagt hat, sich ganz nah ans Fenster zu setzen!« Der Pfarrer mußte schon eine ganze Weile vor sich hin gemurmelt haben, doch Rampole achtete erst jetzt darauf. Der Geistliche breitete die Arme aus. »Trotzdem, wir müssen vernünftig - wir müssen - was kann ihm schon passieren? Sie wissen so gut wie ich, Gentlemen...«

Bong. Gemächlich schlug die Uhr. Bong, vier, fünf-

»Trinken wir noch ein Bier«, meinte Dr. Fell. Die sanfte, salbungsvolle Stimme des Pfarrers, die jetzt ganz schrill klang, schien ihn zu irritieren.

Wieder warteten sie. Das Hallen der Schritte im Gefängnis, vorüberhuschende Ratten und Eidechsen, wenn das Licht suchend umherstreifte - in seiner angespannten Phantasie konnte es Rampole beinahe hören. Eine Szene aus Dickens kam ihm in den Kopf; eine diesige Nacht mit Nieselregen, jemand schleicht am Newgate-Gefängnis entlang und sieht durch ein vergittertes Fenster die Wächter an ihren Feuern sitzen, ihre Schatten flackern an der weißgetünchten Wand.

Ein schwaches Licht erschien jetzt im Gouverneurszimmer. Dann bewegte es sich nicht mehr. Die Fahrradlampe war sehr stark, sie schnitt einen horizontalen, schnurgeraden Lichtstreifen ins Dunkel, gegen den sich die Fenstergitter abhoben. Offensichtlich war sie auf einem Tisch abgestellt worden und sandte jetzt ihren Strahl ohne weitere Bewegung in eine Ecke des Raumes. Das war alles: der winzige Pfeil aus Licht hinter efeuumrankten Gittern, einsam vor dem riesigen efeubewachsenen Koloß des Gefängnisses. Der zitternde Schatten eines Mannes erschien und verschwand wieder. Er schien einen unglaublich langen Hals zu haben, dieser Schatten.

Rampole bemerkte zu seiner Überraschung, daß sein Herz heftig pochte. Man mußte etwas tun; man mußte sich konzentrieren. »Wenn Sie nichts dagegen haben, Sir«, sagte er zu seinem Gastgeber, »dann würde ich gerne hinauf in mein Zimmer gehen und einen Blick in die Aufzeichnungen der beiden Gouverneure werfen. Ich kann das Fenster auch von dort oben im Auge behalten. Und ich muß es einfach wissen.«

Auf einmal schien es ihm von entscheidender Wichtigkeit zu erfahren, wie diese Männer zu Tode gekommen waren. Er betastete die Blätter, die von seiner Hand ganz feucht waren. Er mußte sie wohl die ganze Zeit gepackt gehalten haben, selbst als er den Telefonhörer in der Hand hatte. Dr. Fell grunzte etwas, scheinbar ohne ihn gehört zu haben.

Als er die Treppe hinaufging, wiederholte sich das Rollen des Donners, als erschüttere ein vorüberfahrender Lastwagen die Fensterscheiben. Das Zimmer wurde nun von einer angenehmen Brise durchlüftet, strahlte aber immer noch Hitze ab. Er zündete die Lampe an, zog den Tisch ans Fenster und legte die Manuskriptblätter vor sich hin. Bevor er sich setzte, warf er einen kurzen Blick in die Runde. Die Blätter mit Gassenhauern, die er am Nachmittag gekauft hatte, lagen auf dem Bett verstreut, daneben die langstielige Tonpfeife.

Plötzlich hatte er die sonderbare Vorstellung, wenn er jetzt die Pfeife rauchte, könnte ihn dieses Relikt aus unbeschwerter Zeit Dorothy Starberth näherbringen. Doch kaum nahm er sie in die Hand, kam er sich töricht vor und schimpfte sich selber aus. Als er sie zurücklegen wollte, gab es ein Geräusch. Das zerbrechliche Tonstück rutschte ihm aus den Fingern und zerschellte auf dem Boden. Er war so erschrocken, als habe er etwas Lebendiges zerstört. Er starrte die Scherben an, dann eilte er hinüber und setzte sich mit dem Gesicht zum Fenster. Käfer schwärmten tickend gegen den Fliegendraht. Weit jenseits der Wiese leuchtete stetig ein winziges Licht im Fenster des Gefängnisses, und unter sich hörte er die Stimmen des Pfarrers und Dr. Fells im murmelnden Gespräch.

Tagebuch des A. Starberth, Esquire

PRIVAT (8ter Septembri 1797: Dies ist das Erste Jahr der Gottgefälligen Täthigkeit der Anstalt zu Chatterham in der Grafschaft Lincoln; zugleich das Siebenunddreyssigste der Herrschaft Seyner Königlichen Majestät, Georgs III.)

QUAE INFRA NOS NIHIL AD NOS

Diese Schreibmaschinenblätter vermittelten einen lebendigeren Eindruck, dachte Rampole, als es die vergilbten Orginale vermocht hätten. Man stellte sich die Handschrift klein, scharf und präzise vor, wie den Schreiber selbst, mit seinen schmalen, zusammengepreßten Lippen. Es folgte eine wunderliche Komposition im besten literarischen Stil der Zeit, eine Hymne auf die Majestät der Gerechtigkeit und den Adel der Bestrafung aller Übeltäter. Unvermittelt wurde der Ton dann geschäftsmäßig.

ZU HÄNGEN am Dienstag die folgenden Delinqu.:

John Hepditch, wegen Straßenraub Lewis Martens, für das Verbreiten falscher Banknoten in Höhe von £2

Holzkosten zur Errichtung des Galgens: 2 Schilling 4 Pence. Entlohnung des Geistlichen: 10 Pence - worauf ich gut verzichten könnte, wäre es nicht vom Gesetz vorgeschrieben. Die zween Männer sind von niederer Geburt und geringem Bedarf an geisthli-cher Tröstung.

Heute habe ich die Ausschachtungsarbeiten für den Brunnen bis zur stattlichen Tiefe von 25 Fuß bei einem Durchmesser von 18 Fuß überwacht. Es handelt sich eher um eine Grube als um einen Brunnen, und sie ist dafür vorgesehen, die Kadaver der Verbrecher aufzunehmen, um unnöthige Kosten für ein Begräbnis zu sparen, und zugleich stellt sie eine höchst löbliche Schutzvorrichtung nach dieser Seite hin dar. Der Rand wurde auf meinen Befehl mit einer Reihe angespitzter Eisenstäbe gespickt.

Ich bin sehr verärgert, daß meyn neuer scharlachroter Anzug, den ich vor sechs Wochen zusammen mit dem betreßten Huth bestellt habe, nicht mit der Postkutsche angekommen ist. Denn ich habe mich entschlossen, bei den Hinrichtungen eine besondere Erscheinung abzugeben. In Scharlachrot - wie ein Richter - werde ich, davon bin ich recht überzeugt, eine imposante Figur machen. Ich habe ein paar Sätze vorbereitet, die ich vom Balkon sagen werde. Dieser John Hepditch hat, wie mir zu Ohren gekommen ist, trotz seines niedrigen Standes ein recht loses Maul, und ich muß Sorge tragen, daß er mich nicht übertrumpft.

Ich bin vom Oberaufseher benachrichtigt worden, daß es in den Gängen im Kellergewölbe zu Tumulten und Rütteln an den Zellentüren gekommen sey, was auf eine Sorte besonders großer Wanderratten zurückzuführen sey, die das Brot der Gefangenen fressen und sich schwerlich verjagen lassen. Die Männer beklagen sich weiter, daß sie wegen der ewigen Finsternis der Ratten nicht ansichtig werden könnten, bis diese auf ihren Armen säßen u. nach dem Essen schnappten. Meister Nick Threnlow fragte mich, was er tun solle. Worauf ich antwortete, daß jene durch eigene Schuld und ihre eygenen gottlosen Tathen in diese Klemme geraten seyen und es deshalb ertragen müßten; ferner ordnete ich an, daß alles unbothmäßig Geschrey mit soviel Peitschenhieben zu ahnden sey, als nothwendig, um die Missetäter ein recht züchtig Betragen zu lehren. - Heute abend habe ich eine neue Ballade zu schreiben begonnen, im französischen Stil. Ich glaube, sie wird sehr gut.

Rampole rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und schaute auf zum Licht jenseits der Wiese. Auf dem Rasen unten hörte er Dr. Fell irgend etwas im Zusammenhang mit englischen Trinksitten erläutern und den leisen Widerspuch des Pfarrers. Dann überflog er wieder die Aufzeichnungen, die bei weitem nicht vollständig waren. Eine Reihe von Jahren war ausgelassen, zu anderen gab es nur sehr spärliche Notizen. Doch diese Parade von Schrecken und Grausamkeit, hochfahrenden Predigten und knickerigem Feilschen um zwei Pence, während der alte Anthony stets weiter an seinen Gedichten kritzelte - das war nur ein Vorspiel gewesen.

Im Laufe der Zeit ging im Schreiber eine Veränderung vor. Sein Tagebuch war ein einziges Schimpfen.

Man nennt mich also einen »Knittel-Herrick« (schreibt er 1812), einen »Dryden im Falsett«. Doch ich habe begonnen, an einem Plan zu arbeiten. Aus tiefster Seele verabscheue und verfluche ich jene, an die mich mein Unglück mit Blutsbanden kettet. Doch es gibt Dinge, die man kaufen, und andere, also man thun kann, um sie zu strafen. Wobey mir einfällt, daß die Ratten in letzter Zeit wieder fetter geworden sind. Sie kommen bis in meyn Zimmer, und während ich hier schreibe, sehe ich sie jenseits des Lichtkegels meiner Lampe.

Er hatte mit den Jahren einen neuen literarischen Stil entwickelt, doch seine Wut steigerte sich manisch. Unter dem Jahr 1814 findet sich nur ein Eintrag:

Ich muß vorsichtig sein mit dem Kaufen. Jahr für Jahr. Die Ratten scheinen mich jetzt zu kennen.

Eine Passage im Rest der Aufzeichnungen ließ Rampole aufschrecken:

23ter Junii. Ich sieche dahin und kann nur schwerlich Schlaf finden. Einige Male glaubte ich, ein Klopfen an der Außenseite der Eisentüre zu hören, die zum Balkon führt. Doch wenn ich öffne, ist niemand da. Meine Lampe blakt stärker, und ich glaube, Dinge in meynem Bett zu spüren. Doch ich habe meyne Schönen in Sicherheit. Wie gut, daß ich so stark in den Armen bin.

Ein Windstoß fuhr zum Fenster hinein und fegte Rampole fast die Blätter aus der Hand. Plötzlich hatte er das seltsame Gefühl, als sollten sie ihm entrissen werden. Auch das ständige Summen und Ticken der Insekten draußen machte ihn nicht ruhiger. Die Flamme der Lampe flackerte ein wenig, behielt aber ihren steten, gelben Schein. Ein Blitz beleuchtete das Gefängnis, gefolgt von einem krachenden Donnerschlag.

Er hatte Anthonys Tagebuch noch nicht ganz durch, und da waren noch die Aufzeichnungen eines anderen Starberth. Doch er war zu fasziniert, um schneller zu lesen. Er hatte den einäugigen alten Gouverneur mit den Jahren runzelig werden sehen. Er kleidete sich nun mit einem hohen Hut und einem hüftengen Mantel und mußte sich sich, wie er häufiger erwähnte, auf einen Stock mit goldenem Griff stützen. Ganz unerwartet wurde plötzlich die verbissene Einsilbigkeit des Tagebuchs unterbrochen.

9ter Julii. Jesus Christus, Gnadenspender, Retter aller Hilflosen, sieh mich an und steh mir bei! Ich weiß nicht warum, doch meyn Schlaf ist hin und ich kann schon einen Finger zwischen diese meyne Rippen bohren. Werden sie meyne Schätzchen auffressen? Gestern hängten wir, wie schon berichtet, einen Mann wegen Mordes. Am Galgen trug er einen blau-weiß gestreiften Leibrock. Die Menge hat mich ausgepfiffen.

Ich schlafe jetzt beim Licht zweyer Sturmlaternen. Eyn Soldat steht Wache vor meiner Tür. Doch letzte Nacht, in der Stunde, da ich meynen Bericht von dieser Hinrichtung schrieb, hörte ich eyn Trippeln in meynem Zimmer, was ich aber nicht weiter zu beachten versuchte. Ich hatte meyne Nachttischlampe heruntergedreht, die Schlafmütze aufgesetzt und wollte im Bett noch lesen, als ich sah, daß sich zwischen meynen Bettlaken etwas bewegte. Ich nahm meyne geladene Pistole vom Tisch und rief den Soldaten herein, er solle die Laken zurückziehen. Als er das tat -zweifellos dachte er, ich sey verrückt geworden - sah ich eine riesige graue Ratte in meynem Bett, die mich mit starren Augen böse anfunkelte. Sie war triefend naß und hockte fett und vollgefressen in einer großen Lache von schwarzem Wasser. Von ihren Zähnen versuchte sie einen Fetzen eines blau-weißen Tuches abzustreifen.

Der Soldat erschlug die Ratte mit dem Kolben seiner Muscete, denn sie konnte nicht sehr wohl fliehen. Doch ebensowenig konnte ich in dieser Nacht in meynem Bette schlafen. Ich ordnete an, ein großes Feuer im Kamin zu entfachen, davor döste ich dann in einem Sessel mit einer Flasche Rum auf den Knien. Ich schlief gerade ein, als ich glaubte, das Gemurmel zahlreicher Stimmen außerhalb der Eisentür zu hören, obwohl das doch unmöglich ist, so viele Fuß über der Erde. Und eine leise Stimme flüsterte durch das Schlüsselloch: Sir, würden Sie bitte herauskommen und mit uns reden? Und als ich zur Tür sah, dünkte mir, daß dort Wasser hereinsickerte.

Mit zusammengeschnürter Kehle lehnte sich Rampole zurück; seine Handflächen waren feucht. Er rührte sich nicht einmal, als unvermittelt der Sturm losbrach, strömender Regen auf den dunklen Rasen niederpeitschte und es zwischen den Bäumen prasselte. Er hörte Dr. Fell rufen: »Die Stühle rein! Wir können auch vom Eßzimmer aus sehen.« Der Pfarrer erwiderte etwas Unverständliches. Rampoles Blick fiel auf eine Bleistiftnotiz am Ende des Tagebuches. Es war die Handschrift Dr. Fells, darunter standen die Initialen G.F.

Am Morgen des 10. September 1820 wurde er tot aufgefunden. In der Nacht zuvor hatte ein Sturm gewütet; es ist also unwahrscheinlich, daß die Wärter oder Soldaten etwas gehört haben könnten, selbst wenn er geschrieen hätte. Er wurde gefunden, wie er mit gebrochenem Genick auf der Steinumrandung des Brunnens hing. Zwei eiserne Spitzen seiner eigenen Schutzvorrichtung hatten sich vollständig durch seinen Körper gebohrt und spießten ihn mit dem Kopf nach unten an den Brunnenrand.

Man hatte den Verdacht, daß an der Sache etwas faul war. Doch gab es keine Anzeichen für einen Kampf, und außerdem steht fest, daß bei einem Anschlag auf Anthony sogar mehrere Angreifer alle Hände voll zu tun gehabt hätten. Denn trotz seines Alters war er weithin bekannt für die beinahe unglaubliche Kraft seiner Arme und Schultern. Das ist allerdings wirklich merkwürdig, denn er scheint diese Kraft erst nach der Übernahme der Gefängnisleitung entwickelt und mit den Jahren gesteigert zu haben. Gegen Ende hat er nur noch im Gefängnis gewohnt und seine Familie im Herrenhaus nicht mehr besucht. Dieses exzentrische Betragen im Alter führte letztlich zu dem Spruch der Untersuchungskommission, der lautete: »Tod durch Unfall im Zustand geistiger Verwirrung.«

G.F., Yew Cottage 1923


Rampole legte seinen Tabaksbeutel auf die Blätter, um sie am Wegflattern zu hindern, und lehnte sich zurück. Er starrte hinaus in den Gewitterregen und vergegenwärtigte sich die Szene. Automatisch hob er den Blick zum Fenster des Gouverneurszimmers. Einen Augenblick saß er wie angewurzelt...

Das Licht im Gouverneurszimmer war erloschen. Nur der strömende Regen glänzte vor ihm in der Dunkelheit. Wie gelähmt erhob er sich, zu schwach, seinen Stuhl zur Seite zu schieben, und blickte über seine Schulter auf den Reisewecker.

Es war noch keine zehn Minuten vor zwölf. Ein schreckliches Gefühl der Unwirklichkeit befiel ihn und dazu der Eindruck, der Stuhl habe sich in seinen Beinen verfangen. Dann hörte er irgendwo unten Dr. Fell rufen. Sie hatten es auch bemerkt. Es konnte noch nicht länger als wenige Sekunden verloschen sein. Das Zifferblatt verschwamm vor seinen Augen. Er konnte den Blick nicht von den ruhigen kleinen Zeigern lösen und vernahm in der Stille nichts weiter als das gleichgültige Ticken.

Er zerrte am Türgriff und stolperte mit einem Gefühl körperlicher Übelkeit, das ihn fast benommen machte, die Treppe hinunter. Undeutlich sah er Dr. Fell und den Pfarrer, die barhäuptig im Regen standen und in Richtung des Gefängnisses starrten. Der Doktor hielt noch einen Sessel in der Hand. Er ergriff Rampoles Arm.

»Moment mal! Was ist los, Junge?« wollte er wissen. »Sie sind ja bleich wie ein Gespenst. Was - «

»Wir müssen rüber! Das Licht ist aus! Der - «

Sie waren so erregt, daß sie nicht auf den Regen achteten, der ihnen ins Gesicht klatschte; er rann Rampole in die Augen, und einen Moment lang sah er nichts mehr.

»Nicht so eilig«, sagte Saunders. »Das kommt nur von den scheußlichen Sachen, die Sie gerade gelesen haben. Glauben Sie doch nicht alles! Er wird sich in der Zeit verkalkuliert haben... Warten Sie! Sie kennen doch gar nicht den Weg!«

Rampole hatte sich aus dem Griff des Doktors losgerissen und rannte über den feuchten Rasen zur Wiese hinüber. Sie hörten noch, daß Rampole rief: »Ich habe es ihr versprochen!«, dann rannte der Pfarrer hinter ihm her. Trotz seiner Korpulenz war Saunders ein guter Läufer. Gemeinsam schlidderten sie die glatte Böschung hinab. Rampole fühlte, wie das Wasser in seine Tennisschuhe drang, und stieß gegen einen Zaun. Er sprang hinüber, stürzte einen Abhang hinunter und hastete durch das hohe Gras der Weide den Hügel hinauf. Durch den dichten Vorhang des Regens sah er kaum etwas, bemerkte jedoch, daß er sich instinktiv nach links hielt, zum Hexenwinkel hin. Das war falsch, dort war nicht der Eingang. Doch die Erinnerung an Anthony Starberths Tagebuch stand ihm zu lebendig vor Augen. Saunders schrie etwas hinter ihm her, was sich aber im Krachen und Dröhnen des Donners verlor. Im Licht eines Blitzes sah er den gestikulierenden Pfarrer nach rechts hinüber zum Tor des Gefängnisses laufen, er aber behielt seine Richtung bei.

Wie er das Innere des Hexenwinkels überhaupt erreichte, wußte er später nicht mehr. Eine abschüssige, schlüpfrige Wiese, Gras, das sich ihm wie Drähte um die Beine wickelte; dann Unterholz und Dornengestrüpp, das durchs Hemd stach. Er sah nur noch, daß er auf die Föhren zurannte und die Felswand, die gefährlich vor ihm aufragte. Das Atemholen tat ihm weh, und er lehnte sich an einen nassen Stamm, um sich das Wasser aus den Augen zu wischen. Er wußte, nun war er da. In der Dunkelheit um ihn her war ein häßliches Schwirren und Summen, ein unterdrücktes Platschen; er hatte das Gefühl, als krieche und krabbele es überall. Doch das Schlimmste war der Modergeruch.

Insekten flogen ihm ins Gesicht. Er streckte seine Hand aus, stieß an eine niedrige Mauer aus Stein und spürte den Rost einer Eisenspitze. Es mußte wohl an der Atmosphäre dieses Ortes liegen, daß sein Kopf zu hämmern begann, das Blut schneller strömte und seine Beine schwach wurden. Ein Blitz zuckte hell durch die Bäume... Er sah über die brusthohe Ummauerung des Brunnens und hörte das Platschen des Wassers in der Tiefe.

Nichts.

Niemand hing kopfüber auf einen Stachel gespießt über den Brunnenrand. In einem Taumel quälender Ungewißheit suchte er, die Eisenspitzen umklammernd, seinen Weg um den Brunnen herum. Als er den Fuß der Klippe erreichte und schon erleichtert aufatmen wollte, stieß sein Fuß gegen etwas Weiches.

Fast gelähmt vor Schrecken begann er, behutsam umherzutasten. Er fühlte ein kaltes Gesicht, offenstehende Augen und nasse Haare; doch das Genick schien so biegsam wie Gummi zu sein, denn es war gebrochen. Es bedurfte nicht des jetzt aufzuckenden Blitzes, um zu wissen, daß es Martin Starberth war.

Seine Beine gaben nach, und er taumelte rückwärts gegen die Felsenklippe, fünfzehn Meter unterhalb des Gouverneursbalkons, der sich einen Augenblick zuvor noch schwarz gegen den erleuchteten Himmel abgezeichnet hatte. Ihn schauderte, er fühlte sich durchnäßt und verloren und hatte nur den einen elenden Gedanken: Dorothy Starberth gegenüber versagt zu haben. Überall troff der Regen an ihm herab, der Boden wurde immer schlammiger, und das Tosen des Gewitters schwoll an. Als er mit stumpfen Augen aufsah, erblickte er weit weg, jenseits der Wiese, im Haus Dr. Fells, das gelbe Licht im Fenster seines Zimmers. Es war durch eine Lücke zwischen den Föhren deutlich zu sehen; was ihm an Bildern in den Sinn kam, waren - seltsam genug - einige verstreute Notenblätter auf dem Bett und die Scherben einer Tonpfeife, die zerbrochen auf dem Boden lag.

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