Kapitel 17

Der Pfarrer rührte sich nicht, sein Gesichtsausdruck blieb unverändert. Er fuhr fort, sich seiner alten Gewohnheit nach mit einem Taschentuch die Stirn zu wischen, einem breiten, praktischen Taschentuch mit schwarzem Saum; die goldene Uhrkette pendelte. Nur seine blauen Augen schienen geschrumpft zu sein. Nicht verengt, sondern geschrumpft, als ob sie tatsächlich kleiner geworden wären. Rampole spürte, daß er sich bemühte, seine salbungsvolle Geschmeidigkeit, seine Gelassenheit, seine ganze Redegewandtheit zu sammeln wie jemand, der vor dem Tauchen noch einmal tief einatmet.

Dann sagte er:

»Das ist absurd. Ich hoffe, das ist Ihnen klar. Allerdings« - eine höfliche Geste mit dem Taschentuch - »scheinen wir - äh - einige Aufmerksamkeit zu erregen. Ich vermute, Sie, meine Herren, sind Kriminalbeamte. Wenn Sie schon so verrückt sind, mich zu verhaften, hätte es doch nicht eines solchen Aufgebotes bedurft. .. Die Leute strömen schon zusammen!« fügte er etwas leiser und verärgert hinzu. »Wenn Sie Ihre Hand unbedingt auf meiner Schulter lassen müssen, dann gehen wir wenigstens zurück zu Sir Benjamins Wagen.«

Der Mann, der ihn verhaftet hatte, ein wortkarger Mensch mit ausgeprägten Linien im Gesicht, blickte zu Dr. Fell hinüber.

»Das ist doch der Mann?« fragte er.

»Ist in Ordnung, Inspektor«, antwortete der Doktor. »Das ist der Mann. Tun Sie ruhig, was er wünscht. - Sir Benjamin, sehen Sie dort den Herrn auf dem Bahnsteig? Erkennen Sie ihn?«

»Großer Gott, ja!« stieß der Chief Constable hervor. »Das ist selbstverständlich Bob Saunders. Er ist zwar älter, als ich ihn in Erinnerung habe, doch ich würde ihn jederzeit wiedererkennen. .. Aber hören Sie, Fell!« Er sprudelte wie ein kochender Kessel. »Sie glauben doch wohl nicht, daß der Pfarrer - daß Saunders - !«

»Sein Name ist nicht Saunders«, meinte der Doktor gelassen. »Und ich bin mir auch ziemlich sicher, daß er kein Geistlicher ist. Wie dem auch sei, Sie haben ja den Onkel erkannt. Ich hatte schon befürchtet, Sie würden damit herausplatzen, bevor ich ihm die Frage stellen konnte. Immerhin bestand die Möglichkeit, daß der falsche Saunders dem echten Pfarrer ähnlich sah. Inspektor Jennings, ich würde vorschlagen, Sie bringen unseren Gefangenen hinüber auf die andere Straßenseite zum grauen Auto dort von Sir Benjamin. Vielleicht sollten Sie, Sir Benjamin, Ihren alten Freund als erster begrüßen, bevor wir anderen dies tun. Erzählen Sie ihm so viel oder so wenig Sie wollen und kommen Sie dann zu uns rüber.«

Saunders nahm seinen Hut ab und fächelte sich Luft zu.

»Dann stecken Sie also dahinter?« wollte er beinahe liebenswürdig wissen. »Ich - äh - das überrascht mich. Das schockiert mich sogar. Ich mag Sie überhaupt nicht, Dr. Fell. Kommen Sie, meine Herren. Sie brauchen meinen Arm nicht festzuhalten, Inspektor. Ich versichere Ihnen, daß ich nicht die geringste Absicht habe wegzulaufen.«

Im schwindenden Tageslicht ging die kleine Gruppe hinüber zu dem Daimler. Bedächtig wandte Inspektor Jennings seinen Kopf: »Ich dachte, ich bringe ein paar von meinen Leuten mit, Sir«, sagte er zu Dr. Fell. »Sie sagten ja, er wäre ein Killer.«

Das häßliche Wort, so emotionslos ausgesprochen, ließ eine Stille entstehen, die nur vom Schlurfen großer Füße durchbrochen wurde. Rampole, der mit Dorothy hinter den anderen ging, starrte auf den breiten Rücken des zuversichtlich voranschreitenden Pfarrers. Der kahle Fleck auf Saunders' Schädel glänzte zwischen dem gelblichen Haarflaum. Er hörte Saunders lachen.

Der Gefangene wurde auf den Rücksitz des Wagens geschoben. Der Pfarrer lehnte sich behaglich zurück und holte tief Luft. Das Wort »Killer« klang immer noch in ihren Ohren. Saunders schien das zu spüren. Vorsichtig glitt sein Blick über sie hinweg, während er mit peinlicher Sorgfalt sein Taschentuch immer wieder neu faltete. Es war, als bereite er seine Rüstung vor.

»Nun denn, Gentlemen«, begann er dann, »lassen Sie uns dies doch für ein hübsches kleines Schwätzchen auf dem Rücksitz eines Automobils nutzen. Was genau werfen Sie mir also vor?«

»Mein Gott«, sagte Dr. Fell und schlug bewundernd auf die Innenverkleidung des Wagens, »das ist verdammt gut, Saunders!

Sie haben doch den Inspektor gehört. Offiziell klagt man Sie lediglich wegen des Mordes an Martin Starberth an.«

»Schön«, stimmte der Pfarrer zu und nickte bedächtig. »Da bin ich aber froh, daß ich eine solche Menge von Zeugen dabei habe. Bevor ich irgend etwas dazu sage, Inspektor, dies ist Ihre letzte Chance. Sind Sie sicher, daß Sie meine Verhaftung aufrechterhalten wollen?«

»So lauten meine Anweisungen, Sir.«

Wieder nickte der andere liebenswürdig. »Ich glaube fast, das werden Sie noch einmal bereuen. Denn drei Zeugen - Entschuldigung: vier Zeugen - werden bestätigen, daß es mir absolut unmöglich war, meinen jungen Freund Martin zu töten. Oder sonst irgend jemanden.«

Er lächelte.

»Darf ich jetzt eine Frage stellen? Dr. Fell, Sie scheinen dieses

- entschuldigen Sie mich - reichlich merkwürdige Verfahren in Gang gesetzt zu haben. In jener Nacht, in der mein junger Freund

- äh - starb, war ich doch in Ihrem Haus, direkt an Ihrer Seite, oder nicht? Zu welcher Zeit kam ich bei Ihnen an?«

Dr. Fell, der immer noch einem wohlbeleibten Banditen glich, lehnte sich zurück. Offenbar genoß er die Situation. »Erster Zug«, sagte er. »Sie eröffnen also mit einem Bauern statt mit einem Springer. Hören Sie gut zu, Inspektor. Mir gefällt so was. - Sie kamen bei uns um zweiundzwanzig Uhr dreißig an. Ungefähr. Aber halb elf gestehe ich Ihnen zu.«

»Lassen Sie mich darauf hinweisen - «, die Stimme des Pfarrers hatte sich etwas verschärft, doch er mäßigte sich augenblicklich wieder. »Ach egal. Miss Starberth, würden Sie diesen Herren bitte noch einmal sagen, wann Ihr Bruder das Herrenhaus verlassen hat.«

»Es gab da ein Durcheinander mit den Uhren, wissen Sie«, warf Dr. Fell ein. »Die Uhr in der Eingangshalle ging zehn Minuten vor.«

»Schon recht«, meinte Saunders. »Um welche Zeit auch immer er das Herrenhaus verließ: Muß ich da nicht längst in Dr. Fells Haus gewesen sein? Sie wissen doch, daß es so war?«

Dorothy, die ihn argwöhnisch angesehen hatte, nickte.

»Warum... Ja, natürlich.«

»Und Sie, Mr. Rampole. Sie wissen doch auch, daß ich beim Doktor war und von dort nie weggegangen bin. Sie sahen doch Martin mit dem Licht zum Gefängnis hochgehen, während ich im Yew Cottage war, und Sie sahen seine Lampe im Gouverneurszimmer, während ich unter Ihrem Fenster saß. Kurz: Ich kann ihn doch unmöglich getötet haben?«

Rampole konnte nur sagen: »Ja.« Denn das war nicht zu leugnen. Während dieser ganzen Zeit hatte er Saunders nicht aus den Augen verloren. Dr. Fell ebenfalls nicht. Doch er konnte Saunders Blick nicht leiden. Zuviel verzweifelt Hypnotisches steckte hinter dem Lächeln dieses breiten rosaroten, schweißnassen Gesichtes. Na, wie auch immer...

»Auch Sie, Doktor, müssen dem doch zustimmen?« fragte der Pfarrer.

»Das gebe ich zu.«

»Und natürlich habe ich auch keinen mechanischen Trick angewendet, wie bei der Untersuchung mehrfach vermutet wurde? Es gab doch keine Todesfalle, mit der ich Martin, ohne dabeigewesen zu sein, getötet haben könnte?«

»Gab es nicht«, antwortete Dr. Fell. Seine blinzelnden Augen waren plötzlich starr geworden. »Sie waren die ganze Zeit, von der die Rede ist, bei uns. Auch in den kurzen Augenblicken, die Sie von Mr. Rampole getrennt waren, als Sie beide zum Gefängnis hinaufrannten, taten Sie nichts. Martin Starberth war ja bereits tot. Ihr Tun lag offen vor uns. Und dennoch haben Sie Martin Starberth getötet und seine Leiche in den Hexenwinkel geworfen.«

Der Pfarrer entfaltete sein Taschentuch wieder und wischte sich die Stirn. Seine Augen schienen nach einer Falle zu suchen. Er begann wütend zu werden.

»Sie lassen mich besser laufen, Inspektor«, sagte er plötzlich.

»Meinen Sie nicht, daß wir jetzt genug von diesen Dummheiten haben? Entweder macht dieser Mann Witze, oder... «

»Dort kommt Sir Benjamin mit dem Gentleman, der angeblich Ihr Onkel ist«, bemerkte Dr. Fell. »Ich denke, wir fahren am besten alle zu mir nach Hause. Dann werde ich Ihnen sagen, wie er's gemacht hat. In der Zwischenzeit - Inspektor!«

»Ja, Sir?«

»Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?«

»Ja, Sir.«

»Dann schicken Sie den Rest Ihrer Leute hinunter, um die Pfarrei zu durchsuchen, und begleiten Sie uns.«

Saunders zuckte leicht. Seine Augen hatten unter den geröteten Lidern einen Ausdruck wie Glasmurmeln. Immer noch zeigte er sein Dauerlächeln.

»Rücken Sie rüber«, befahl Dr. Fell ungerührt, »ich setze mich neben Sie. Ach und übrigens! - An Ihrer Stelle würde ich nicht dauernd mit diesem Taschentuch herumspielen. Ihre ständige Taschentuchwischerei ist allzu bekannt. Wir haben eins der Dinger im Brunnenversteck gefunden, und ich dachte mir gleich, daß die Initialen für Thomas Saunders und nicht für Timothy Starberth stehen. Außerdem war das letzte Wort Timothys vor seinem Tod ja > Taschentuch <. Er hat also dafür gesorgt, daß es außer seinem Manuskript noch einen weiteren Hinweis gab.«

Saunders, der hinübergerückt war, um Platz zu machen, breitete das Taschentuch auf seinen Knien aus, daß es nun gut sichtbar vor ihm lag. Dr. Fell kicherte.

»Sie bestehen doch wohl nicht mehr darauf, Ihr Name sei Thomas Saunders?« Mit einem Schlenker seines Stocks deutete er auf Sir Benjamin, der an der Seite des großen braungebrannten Mannes mit dem schweren Koffer näherkam. Eine hohe Stimme beklagte sich mürrisch:

»- was zum Teufel das hier zu bedeuten hat. Ich wollte noch ein paar Freunden einen Besuch abstatten und bat Tom, mich nicht vor Donnerstag zu erwarten. Stattdessen telegrafiert er mir auf das Schiff, ich solle unverzüglich herkommen, es ginge um Leben und Tod. Er schlug mir sogar einen bestimmten Zug vor - «

»Ich habe telegrafiert«, sagte Dr. Fell. »Und es ist gut, daß ich's getan habe. Am Donnerstag wäre unser Freund hier schon verschwunden gewesen. Er hatte Sir Benjamin sogar schon dazu gebracht, ihm einen triftigen Vorwand für sein Verschwinden zu liefern.« Der große Mann blieb stehen und schob seinen Hut in den Nacken.

»Hören Sie«, sagte er und zwang sich verzweifelt zur Geduld, »sind hier denn alle übergeschnappt? Erst redet Ben nur wirres Zeug und jetzt - wer sind Sie eigentlich?«

»Nein, nein. Das steht jetzt nicht zur Debatte«, korrigierte Dr. Fell.

»Die Frage ist vielmehr: Wer ist das hier?« Er berührte Saunders' Arm. »Ist das Ihr Neffe?«

»Nein, zum Teufel!« sagte Robert Saunders.

»Steigen Sie ins Auto, kommen Sie. Am besten, Sie setzen sich auf den Beifahrersitz, und Sir Benjamin erzählt Ihnen alles.«

Der Inspektor schob sich auf Saunders rechte Seite. Rampole und Dorothy saßen auf den Notsitzen, Robert Saunders mit Sir Benjamin vorne. Der Pfarrer meinte nur:

»Ein Mißverständnis kann natürlich aufgeklärt werden. Aber so ein Mißverständnis ist doch etwas völlig anderes als eine Mordanklage. Sie haben keinerlei Beweis für eine derartige Mordanklage.«

Mittlerweile war er ziemlich weiß im Gesicht geworden. Fast berührten Rampoles Knie die des Pfarrers, und ein leichter Schauer des Widerwillens, beinahe der Furcht, durchlief ihn. Saunders vorstehende Augen standen weit auf, sein Kinn hing ein wenig herab. Man konnte ihn atmen hören.

Eine tödliche Stille herrschte im Innern des Wagens. Rasch war die Dämmerung hereingebrochen, und die Reifen sangen das Wort »Killer«.

Rampole sah, daß der Inspektor seine Pistole unauffällig unter den gefalteten Armen durchgeschoben hatte, ihr Lauf war auf den Pfarrer gerichtet.

Der Weg zum Yew Cottage hinab schüttelte sie wild durcheinander, auf dem Vordersitz redete Sir Benjamin immer noch. Kaum hatten sie vor dem Haus angehalten, als schon Robert Saunders heraussprang, den Schlag aufriß und mit langen Armen zum Rücksitz griff.

»Wo ist er, du dreckiges Schwein?« rief er. »Was hast du mit Tom gemacht

Der Inspektor packte ihn am Handgelenk. »Ruhig, Sir. Ruhig. Keine Gewalt, bitte.«

»Der da will Tom Saunders sein? Der verdammte Lügner. Er - Ich bringe ihn um. Ich - «

Ohne Hast schob der Inspektor ihn von der Autotür weg. Alle umringten jetzt den Pfarrer. Mit seiner Tonsur und dem gelben Haarflaum sah er aus wie ein ehemaliger Heiliger, dem seine Gloriole abhanden gekommen ist. Er versuchte immer wieder zu lächeln. Sie eskortierten ihn ins Haus, wo Dr. Fell im Arbeitszimmer die Lampen anzündete. Sir Benjamin drückte den Pfarrer in einen Sessel.

»Also dann - «, begann er.

»Inspektor«, meinte Dr. Fell und wies mit der Lampe auf Saunders. »Durchsuchen Sie ihn besser. Ich glaube, er trägt einen Geldgürtel.«

»Nehmen Sie Ihre Pfoten weg!« giftete Saunders. Seine Stimme war schrill geworden. »Sie können überhaupt nichts beweisen. Bleiben Sie mir bloß vom Leib - !«

Seine Augen waren weit aufgerissen. Dr. Fell stellte die Lampe so neben ihn, daß sie sein verschwitztes Gesicht beleuchtete.

»Macht auch nichts«, sagte der Doktor ungerührt. »Wir können ihn ja nicht gut durchsuchen, Inspektor. Saunders, wollen Sie etwas aussagen?«

»Nein. Sie haben keinerlei Beweise.«

Dr. Fell zog die Schublade seines Schreibtisches auf, als suche er nach einem Blatt Papier, um eine Aussage niederschreiben zu können. Rampoles Blick folgte der Handbewegung. Die anderen sahen nichts, denn sie blickten Saunders an; doch der Blick des Pfarrers folgte gierig jeder Geste des Doktors.

In der Schublade lag tatsächlich Papier. Aber dort lag auch der altertümliche Derringer-Revolver des Doktors. Die Trommel war herausgeklappt, und die Patronenkammern waren gut sichtbar. Als das Licht darauffiel, sah Rampole, daß nur eine Kugel darin steckte. Dann wurde die Schublade wieder zugeschoben.

Der Tod hatte jetzt den Raum betreten.

»Nehmen Sie Platz, Gentlemen«, drängte Dr. Fell. Saunders hatte seine ausdrucklosen Augen noch immer auf die Schublade gerichtet. Der Doktor blickte hinüber zu Robert Saunders, der mit benommenem Gesichtsausdruck und geballten Fäusten herumstand. »Setzen Sie sich, Gentlemen. Ich muß Ihnen erzählen, wie er die Morde begangen hat, da er selbst es ja ablehnt. Es ist allerdings keine sehr angenehme Geschichte. Falls Sie, Miss Starberth, sich gerne zurückziehen möchten...?«

»Bitte geh«, sagte Rampole leise. »Ich begleite dich.«

»Nein!« rief sie, und er spürte, daß sie gegen ihre Hysterie ankämpfte. »Ich konnte es bis jetzt ertragen, ich werde nicht gehen. Du kannst mich nicht dazu zwingen. Wenn er es getan hat, dann will ich es auch wissen... «

Der Pfarrer hatte sich etwas erholt, doch seine Stimme war heiser.

»Aber ich bitte Sie, Miss Starberth«, tönte er, »Sie haben ein Recht auf die Geschichte dieses Verrückten. Er wird Ihnen nicht erklären können - er nicht, und auch sonst niemand -, wie ich mit ihm in diesem Haus hier sitzen und zu gleicher Zeit Ihren Bruder vom Balkon des Gouverneurszimmers stoßen konnte.«

Dr. Fell wurde laut und scharf. »Ich habe nicht gesagt. Sie hätten ihn vom Balkon gestoßen. Er wurde ja gar nicht vom Balkon gestoßen.«

Stille.

Dr. Fell lehnte am Kaminsims, einen Arm darauf gestützt, die Augen halb geschlossen. Nachdenklich fuhr er fort:

»Dafür gibt es sogar zahlreiche Gründe. Als Sie ihn fanden, lag er auf der rechten Seite und seine rechte Hüfte war gebrochen. Doch seine Uhr im Uhrentäschchen seiner Hose war nicht nur nicht zerbrochen, sondern sie ging sogar noch einwandfrei. Bei einem Sturz aus fünfzehn Meter Höhe, wissen Sie, da ist das nicht möglich. Wir werden gleich noch auf diese Uhr zurückkommen.

Alsdann: In der Mordnacht regnete es heftig. Es regnete, um genau zu sein, von dreiundzwanzig Uhr abends bis exakt ein Uhr morgens. Am nächsten Tag, als wir hinauf zum Gouverneurszimmer gingen, sahen wir, daß die Balkontür offen stand. Erinnern Sie sich? Angenommen, Martin Starberth wurde zehn Minuten vor Mitternacht ermordet. Ebenfalls angenommen, die Tür hat zu diesem Zeitpunkt offengestanden und blieb auch auf. Dann müssen wir doch genauso annehmen, daß eine ganze Stunde lang heftigster Regen zu dieser Tür hineingetrieben wurde. Denn mit Sicherheit schlug der Regen ja gegen das Fenster - was eine weitaus kleinere Öffnung ist, noch dazu mit Efeu verhangen. Am nächsten Tag fanden sich breite Regenpfützen unter dem Fenster. Doch nicht ein einziger Regentropfen war zur Tür hereingekommen. Der Boden davor war trocken, schmutzig, sogar staubig.

Mit anderen Worten, Gentlemen«, sagte Dr. Fell unbewegt, »die Tür ist nicht vor ein Uhr geöffnet worden, als es aufgehört hatte zu regnen. Sie ist auch nicht vom Wind aufgeweht worden, denn diese Tür ist so schwer, daß man sie nur mit Mühe aufzerren kann. Irgend jemand hat sie später, mitten in der Nacht, geöffnet, um den Schauplatz für die spätere Untersuchung zu präparieren.«

Wieder Stille. Stocksteif saß der Pfarrer da. Im Lichtschein der Lampe sah man auf seiner Wange einen zuckenden Nerv.

»Martin Starberth war ein sehr starker Raucher«, fuhr Dr. Fell fort. »Er hatte Angst, war nervös und hatte bereits den ganzen Tag über geraucht. Bei einer solchen Nachtwache, wie derjenigen, der er sich zu unterziehen hatte, ist es wohl nicht zu weit hergeholt, wenn man annimmt, daß er beim Warten sogar noch heftiger geraucht hat... Bei seiner Leiche wurden Streichhölzer und eine volle Zigarettenschachtel gefunden, aber auf dem Boden des Gouverneurszimmers lag nicht ein einziger Zigarettenstummel.«

Der Doktor sprach ohne Hast. Als sei ihm während seiner Schilderung eine Idee gekommen, zog er seine Pfeife aus der Tasche.

»Es ist allerdings nicht zu bezweifeln, daß jemand im Gouverneurszimmer war. Doch genau an dieser Stelle schlug der Plan des Mörders fehl. Denn wäre alles nach Fahrplan gelaufen, dann hätte keine Anlaß dazu bestanden, beim Verlöschen des Lichtes wie wild über die Wiese zu rennen. Wir hätten hier unten einfach abgewartet und Martins Leiche erst nach einer ganzen Weile gefunden, wenn er nicht zurückgekehrt wäre. Denn beachten Sie das bitte, wie Mr. Rampole das schon vor Ihnen getan hat - das Licht ging genau zehn Minuten zu früh aus.

Nun hat aber der Mörder, als er Martins Hüfte zerschmetterte, um einen Sturz vorzutäuschen, die Uhr glücklicherweise nicht mit zerstört. Sie ging noch und zeigte auch die richtige Zeit an. Lassen Sie uns - um einer Hypothese Willen - einmal annehmen, daß es wirklich Martin war, der im Gouverneurszimmer gewartet hat. Wenn seine Nachtwache vorübergewesen wäre, hätte er seine Lampe ausgemacht und wäre nach Hause gegangen. Er hätte genau gewußt, daß um zehn vor zwölf die geforderte Stunde noch nicht um war. Wenn aber nun an seiner Stelle jemand anders dort oben gewacht hätte und die Uhr dieses Jemand zufällig zehn Minuten vorgegangen wäre...?«

Sir Benjamin erhob sich wie ein umhertappender Blinder aus seinem Sessel. »Herbert - «, sagte er.

»Wir wissen doch, daß Herberts Uhr genau zehn Minuten vorging«, sagte der Doktor. »Er befahl dem Hausmädchen, die Standuhr vorzustellen. Doch sie entdeckte, daß das falsch war, und ließ die anderen Uhren, wie sie waren. Während Herbert also die Nachtwache für seinen Vetter hielt, der zu ängstlich dazu war, lag sein Vetter bereits mit gebrochenem Genick im Hexenwinkel.«

»Aber ich verstehe immer noch nicht, wie - « Verblüfft hielt Sir Benjamin inne.

Im Flur klingelte so überraschend das Telefon, daß alle erschrocken zusammenfuhren. »Am besten gehen Sie ran, Inspektor«, bot Dr. Fell an. »Das sind vermutlich Ihre Leute, die aus der Pfarrei anrufen.«

Saunders hatte sich erhoben. Seine fleischigen Kinnbacken sahen aus wie die eines kranken Hundes. »Einfach albern!« begann er mit so quietschender Stimme, als wollte er seinen gewöhnlichen Tonfall parodieren. Dann taumelte er gegen die Sesselkante und setzte sich wieder.

Sie hörten Inspektor Jennings im Flur sprechen. Nach kurzer Zeit kam er mit versteinertem Gesicht ins Arbeitszimmer zurück.

»Alles klar, Sir«, sagte er zu Dr. Fell. »Sie haben in seinem Keller gesucht. Dort war das Motorrad, in Stücke zerlegt und vergraben. Außerdem fanden sie eine Browning-Pistole, ein Paar Gärtnerhandschuhe, einige Koffer voll - «

Fassungslos schrie Sir Benjamin: »Sie Schwein...«

»Warten Sie!« rief der Pfarrer. Wieder war er aufgesprungen, und seine Hand zuckte, als kratze er an einer Tür. »Sie kennen die Geschichte doch gar nicht. Sie wissen überhaupt nichts - alles bloß Vermutungen - und außerdem - «

»Ich kenne diese Geschichte nicht«, schnarrte Robert Saunders, »und ich habe jetzt lange genug den Mund gehalten. Ich will was über Tom erfahren. Wo ist er? Haben Sie ihn etwa auch ermordet? Wie lange spielen Sie schon das Spiel hier?«

»Er ist gestorben!« sagte der andere mit verzweifelter Stimme. »Ich habe nichts damit zu tun. Er ist einfach gestorben, und ich schwöre bei Gott, daß ich ihm niemals irgend etwas angetan habe. Ich wollte bloß in Ruhe und Frieden leben und respektiert werden, deshalb nahm ich seine Stelle ein.«

Seine Finger fuhren ziellos in der Luft herum. »Hören Sie. Alles was ich brauche, ist ein wenig Zeit zum Nachdenken. Ich möchte hier nur sitzen und die Augen schließen. Alles kam so plötzlich... Hören Sie, ich schreibe Ihnen alles auf, die ganze Geschichte. Sie würden sie niemals erfahren, wenn ich das nicht täte. Selbst Sie nicht, Doktor. Wenn ich mich hier hinsetze und alles aufschreibe, versprechen Sie mir dann, mit dem Verhör aufzuhören?«

Er wirkte beinahe wie ein großes, plapperndes Kind. Dr. Fell sah ihn scharf an und sagte dann:

»Ich glaube, Sie lassen ihn wirklich besser, Inspektor. Er kann nicht entkommen. Wenn Sie wollen, können Sie sich ja draußen auf dem Rasen postieren.«

Inspektor Jennings hatte keine Einwände. »Unsere Anweisungen von Sir William im Yard lauteten, alle Befehle von Ihnen zu befolgen. Also dann.«

Der Pfarrer zog sich hoch. Wieder diese unheimliche Parodie seines früheren Betragens. »Es gibt - äh - da noch etwas. Ich muß darauf bestehen, daß Dr. Fell mir bestimmte Dinge erklärt, wie ich auch meinerseits ihm einiges erklären werde. Um unserer früheren -Freundschaft willen, Dr. Fell: Wären Sie so gut, sich, wenn die anderen hinausgegangen sind, noch ein paar Minuten zu mir zu setzen?«

Rampole lag ein Protest auf den Lippen. Fast hätte er gesagt: »Aber da liegt ein Revolver in der Schublade -!«, als er sah, daß Dr. Fell zu ihm herüberblickte. Beiläufig zündete der Gelehrte neben dem Kamin seine Pfeife an, und seine zwinkernden Augen über der Streichholzflamme baten ihn zu schweigen.

Mittlerweile war es fast dunkel geworden. Ein wütender, wilde Drohungen ausstoßender Robert Saunders mußte von Sir Benjamin und dem Inspektor hinausgeschoben werden. Rampole und das Mädchen betraten den dämmrigen Flur. Das letzte, was sie sahen, waren der Doktor, der immer noch versuchte, seine Pfeife anzuzünden, und Thomas Saunders, der mit hochgerecktem Kinn und gleichgültigem Gesichtsausdruck zum Schreibtisch hinüberlangte. Dann schloß sich die Tür.

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