Kapitel 16

Ich glaube nicht, daß er tot ist«, sagte Rampole und kniete neben dem Butler nieder. »Beeilung bitte! Halt' deine Lampe hierher. Ich drehe ihn um. Wo zum Teufel ist dieser Sir Benjamin?«

Budge lag auf der Seite, eine Hand noch immer ausgestreckt. Sein Hut saß schräg auf seinen Kopf gepreßt, was ihm etwas Verwegenes gab. Der solide schwarze Mantel hatte einen Knopf eingebüßt. Rampole zerrte an der leblosen Gestalt und drehte sie um. Das Gesicht sah teigig aus, die Augen waren geschlossen, doch er atmete. Der Stoff über der Wunde links oben in der Brust war blutgetränkt.

»Hallo!« rief Rampole. »Hallo! Wo seid ihr?«

Er hob den Kopf und sah das Mädchen an. Sie war nicht genau zu erkennen; sie hatte den Kopf abgewandt, doch die Lampe zitterte kaum.

Es knackte im Gesträuch. Sir Benjamin, die Kappe in die Stirn gezogen wie ein Filmgangster, kämpfte sich zu ihnen durch. Seine langen Arme schlenkerten in den hochgerutschten Ärmeln.

»Er - er ist entkommen«, keuchte der Chief Constable. »Ich weiß nicht, wer es war. Ich weiß nicht mal, was passiert ist. - Wer ist denn das?«

»Sehen Sie ihn sich an«, sagte Rampole. »Er muß versucht haben, den anderen aufzuhalten. Haben Sie nicht den Schuß gehört? Lassen Sie uns ihn um Himmels willen schnell zum Auto und ins Dorf bringen. Packen Sie die Füße, ja? Ich nehme den Oberkörper. Möglichst wenig bewegen.«

Budge war ein Schwergewicht. Wie ein nasser Sack hing er zwischen ihnen, und es war, als versuchten zwei Leute eine sperrige Matratze zu tragen. Rampole rang nach Atem, seine Muskeln schmerzten. Ächzend arbeiteten sie sich durch das stachelige Gestrüpp, dann den Wiesenhang hinunter zu Sir Benjamins Daimler, der neben der Straße parkte.

»Sie halten am besten Wache hier«, meinte der Chief Constable, als sie Budge im Wagen verfrachtet hatten. »Miss Starberth, würden Sie wohl mit mir zu Dr. Markley hinüberfahren und ihn auf dem Rücksitz festhalten? Danke Ihnen. Vorsicht jetzt, wenn ich drehe.«

Das letzte, was Rampole beim Starten des Motors sah, war, wie sie Budges Kopf in ihrem Schoß hielt; dann verschwanden die Scheinwerfer. Als Rampole zurück zum Gefängnis gehen wollte, überkam ihn ein Schwächeanfall und er mußte sich auf einen Zaun stützen. Sein Gehirn war müde und abgestumpft und drehte sich wie ein quietschendes Rad im Kreis. Hier stand er also, klammerte sich im Mondlicht an den Zaun und hielt Budges zerknautschten Hut noch in der Hand.

Gleichgültig blickte er ihn an und ließ ihn fallen. Herbert Starberth...

Ein Licht kam näher. Dr. Fells massige Gestalt humpelte über die graue Wiese.

»Hallo, da drüben!« rief der Doktor und schob seine Kinnrollen vor. Er kam hoch und legte Rampole seine Hand auf die Schulter. »Gut gemacht«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Also? Was ist los? Jemand verletzt?«

Der Doktor bemühte sich, ruhig zu reden, doch unwillkürlich wurde seine Stimme lauter.

»Das meiste konnte ich vom Balkon aus sehen. Ich sah, wie er wegrannte, dann habe ich gerufen, und dann hat er, glaube ich, auf jemand geschossen...«

Rampole kratzte sich am Kopf. »Dieser Butler - wie heißt er noch -Budge. Er muß uns aus dem Wald beobachtet haben. Gott weiß, warum. Ich hievte ihn gerade, Sie wissen schon, den Toten, über den Brunnenrand, da hörte ich, wie Sie riefen und jemand wegrannte. Budge kam ihm wohl dazwischen und wurde an der Brust erwischt.«

»Er ist doch nicht - «

»Ich weiß nicht«, antwortete der Amerikaner niedergeschlagen.

»Als wir ihn in den Wagen legten, war er noch nicht tot. Sie bringen ihn gerade nach Chatterham.«

Beide schwiegen eine Weile und lauschten den Grillen. Der Doktor zog eine Flasche aus der Rocktasche und reichte sie Rampole. Heiß rann ihm der Kirschschnaps durch die Kehle, dann spürte er ihn in den Adern und schüttelte sich.

»Sie haben keine Ahnung, wer der Kerl war?« fragte Dr. Fell.

»Ach, zum Teufel damit«, meinte Rampole erschöpft. »Ich habe ihn nicht mal flüchtig gesehen. Hörte ihn bloß abhauen. Ich war völlig mit dem beschäftigt, was ich da unten gesehen habe... Ich glaube, wir gehen jetzt besser zurück zu dem Toten.«

»Sie zittern ja. Nur ruhig - «

»Darf ich mich einen Moment auf Ihre Schulter stützen? Es - es war so - «

Rampole nahm noch einen Schluck. Er hatte das Gefühl, daß ihm der Gestank des Brunnens nie mehr aus der Nase gehen würde. Noch einmal sah er, wie das Seil vom Balkon herabgelassen wurde; noch einmal spürte er durch seine Cordhose die Steinmauer, als er sich über den Rand schwang.

»Es war so«, wiederholte er, »ich brauchte das Seil gar nicht sehr weit. Ungefähr nach anderthalb Metern sind Nischen in den Stein gehauen, fast wie Stufen. Ich dachte mir, das Versteck könnte nicht sehr weit unten sein, denn sonst würde es ja bei jedem Regen überflutet. Ich mußte sehr aufpassen, denn die Stufen waren ziemlich glitschig. Und dann sah ich einen großen Stein, der fast ganz vom Moos befreit war. Ich konnte ein >OM< und ein >TO< erkennen, wohl Teile einer gemeißelten runden Inschrift. Der Rest war unleserlich. Zuerst glaubte ich, ich könnte den Steinblock nicht bewegen, aber als ich mich dann abstützte und mir das Seil um die Hüften wickelte und die Kante der Spitzhacke in den Spalt schob, da merkte ich, daß es nur eine dünne Platte war. Man konnte sie leicht eindrücken, und wenn man sie dabei senkrecht hielt, war an einer Seite eine Vertiefung, in die man die Finger stecken konnte, um sie wieder zurückzuziehen. Das Loch war voller Wasserspinnen und Ratten.«

Er schüttelte sich.

»Es war kein richtiger Raum oder so. Eher eine Höhle, die hinter den flachen Steinplatten der Brunnenmauer aus dem Erdreich herausgekratzt worden ist. Sie stand halb voll Wasser. Herberts Leiche war an die Rückseite gepreßt. Das erste, was ich zu fassen kriegte, war seine Hand. Dann sah ich das Loch in seiner Stirn. Als ich ihn herausgezerrt hatte, war ich genau so naß wie er. Er ist ziemlich klein, wissen Sie, und mit dem Seil um die Hüften als Stütze schaffte ich es, ihn mir auf die Schultern zu heben. Sein Zeug war voller riesiger Fliegen, die dann auch auf mir herumkrabbelten. Was den Rest angeht...«

Er klopfte sich ab. Der Doktor ergriff seinen Arm.

»Sonst gab es nichts darin, außer - ach ja, ich habe das Taschentuch gefunden. Zwar ganz schön verfault, aber es hat dem alten Timothy gehört. T.S. ist drin eingestickt, und es lag blutig und zusammengeknüllt in einer Ecke. Ich glaube wenigstens, daß es Blut ist. Außerdem lagen da noch ein paar Kerzenstummel rum und abgebrannte Streichhölzer. Kein Schatz. Nicht die Spur von einer Kassette oder so was ähnlichem. Das war's dann wohl. Mir ist kalt. Lassen Sie uns zurückgehen und meinen Mantel holen. Da ist irgendwas in meinem Kragen... «

Der Doktor gab ihm noch einen ordentlichen Schluck Kirschschnaps, dann stapften sie mit schweren Beinen zurück zum Hexenwinkel. Herbert Starberths Leiche lag neben dem Brunnen, wie Rampole sie abgelegt hatte. Während sie den Toten im Licht von Dr. Fells Lampe betrachteten, wischte Rampole angewidert immer wieder seine Hände an der Hose ab. Der Kopf der kleinen, zusammengekrümmten Leiche war zur Seite gedreht und schien irgend etwas da unten im Gras anzustarren. Kälte und Feuchtigkeit in der unterirdischen Nische hatten wie ein Eiskeller gewirkt. Obwohl bereits eine Woche vergangen sein mußte, seit ihm die Kugel ins Gehirn gedrungen war, gab es keinerlei Anzeichen von Verwesung.

Rampole, in dessen Kopf es dumpf dröhnte, wies hinunter.

»Mord?« fragte er.

»Zweifellos. Keine Waffe und - Sie wissen schon.«

Der Amerikaner sagte etwas, das ihm sogar noch in seinem benommenen Zustand idiotisch vorkam. »Das muß ein Ende haben!« rief er verzweifelt und ballte die Fäuste. Doch es gab nichts Passenderes. Damit war alles gesagt. Er wiederholte sich: »Das muß ein Ende haben, sage ich! Jetzt auch noch dieser arme Teufel von Butler... Oder meinen Sie, er könnte etwas mit der Sache zu tun haben? Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«

Dr. Fell schüttelte den Kopf.

»Nein. Nein, hinter dieser Sache steckt nur ein einziger Mann. Und ich weiß auch, wer es ist.«

Rampole lehnte sich an die Mauerkrone des Brunnens und suchte in seinen Taschen nach Zigaretten. Mit verdreckten Händen zündete er sich eine an. Sogar die Zigarette schmeckte nach der fauligen Tiefe da unten. Er sagte:

»Dann ist es bald vorbei?«

»Es ist bald vorbei«, sagte Dr. Fell. »Morgen wird es soweit sein. Wegen eines ganz bestimmten Telegramms.« Er hatte das Licht von der Leiche weggerichtet und schwieg nachdenklich. »Ich habe lange gebraucht, um es rauszukriegen«, fuhr er plötzlich fort. »Es gibt nur einen Mann, nur einen einzigen, der diese Morde begangen haben kann. Er hat bereits drei Männer getötet und heute nacht möglicherweise einen vierten... Morgen nachmittag wird hier ein Zug aus London halten. Wir werden ihn erwarten. Am Bahnhof werden wir dem Mörder endlich das Handwerk legen.«

»Dann - dann wohnt der Mörder gar nicht hier?«

Dr. Fell hob seinen Kopf. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken, junger Freund. Gehen Sie hinunter zum Yew Cottage, nehmen Sie ein Bad und wechseln Sie Ihre Kleidung. Sie haben's nötig. Ich kann hier alleine Wache halten.«

Über dem Hexenwinkel hatte eine Eule zu rufen begonnen. Rampole schob sich auf dem Pfad, über den sie Budge weggetragen hatten, durchs Gebüsch. Nur einmal blickte er sich um. Dr. Fell hatte seine Lampe ausgeknipst und rührte sich nicht, eine massige schwarze Silhouette mit Löwenmähne vor dem blausilbernen Mondlicht, die hinunter in den Brunnen starrte.

Budge erinnerte sich nur an Träume und Schmerzen. Er wußte, daß er irgendwo auf einem Bett lag, man hatte dicke Kissen unter seinen Kopf geschoben. Einmal glaubte er, einen weißen Spitzenvorhang vor einem Fenster wehen zu sehen. Eine Lampe spiegelte sich in der Scheibe, und jemand saß neben ihm und wachte. Er war sich aber nicht sicher. Immer wieder versank er in Schlaf, ohne sich rühren zu können. Geräusche zitterten nach wie Gongschläge. Jemand legte eine kratzige Decke um seinen Nacken, dabei war ihm doch schon viel zu heiß. Die Berührung der Hände erschreckte ihn, wieder versuchte er erfolglos, seine Arme zu heben. Die Gongschläge und das Schwingen des eingebildeten Zimmers lösten sich in einen stechenden Schmerz auf, der seinen ganzen Körper überflutete. Es roch nach Medizin: Er war ein Junge auf einem Rugbyfeld, mitten im Getöse der Zurufe. Endlos zog er Uhren auf und schenkte Portwein aus einer Karaffe ein. Dann sprang ihn aus seinem Rahmen in der Galerie des Herrenhauses das Porträt des alten Anthony an. Der alte Anthony trug einen weißen Gärtnerhandschuh...

Noch während er zurückwich, merkte er, daß es nicht der alle Anthony war. Wer war es? Jemand, den er auf der Filmleinwand gesehen hatte im Zusammenhang mit Kampf und Pistolenschüssen. Eine Geisterflasche wurde geöffnet, flüchtig strömten Gesichter an ihm vorüber. Doch das gesuchte war nicht darunter; nein, jenes Gesicht kannte er seit langer Zeit! Ein vertrautes Gesicht.

Jetzt beugte es sich über sein Bett - über ihn!

Sein Schrei war nur ein Krächzen.

Unmöglich, daß es hier sein konnte. Er war unverletzt, und dies war nur ein Trugbild, das nach Jodoform roch. Das Leinen des Kopfkissens an seiner Wange fühlte sich kühl und ziemlich rauh an. Eine Uhr schlug. Irgend etwas wurde geschüttelt, ein dünnes Glas im Lampenlicht, dann Schritte auf Zehenspitzen. Weit weg hörte er eine Stimme sagen:

»Er wird durchkommen.«

Budge schlief. Es war, als habe sein Unterbewußtsein nur auf diese Worte gewartet, damit endlich der Schlaf aufsteigen und ihn fest in ein dunkles, weiches Wollknäuel einwickeln konnte.

Als er nach langer Zeit erwachte, wußte er nicht, wie schwach er noch war. Auch die Wirkung des Morphiums hatte noch nicht ganz nachgelassen. Doch er merkte, daß eine tiefstehende Sonne ihre Strahlen durchs Fenster schickte. Verwirrt und ein wenig erschreckt versuchte er, sich zu bewegen. Plötzlich wußte er mit furchtbarer Sicherheit, daß er bis in den Nachmittag geschlafen hatte - was im Herrenhaus einfach undenkbar war... Dann sah er, daß sich Sir Benjamin Arnold mit lächelndem Gesicht über sein Bett beugte. Hinter ihm stand eine Person, die er nicht sogleich erkannte, ein junger Mann.

»Geht's besser?« fragte Sir Benjamin.

Budge versuchte zu sprechen, konnte aber nur krächzen. Er schämte sich. Ein Stück Erinnerung purzelte in sein Bewußtsein wie ein Seil...

Ja. Jetzt wußte er es wieder. Es kam mit so starken Farben, daß er die Augen schließen mußte. Der junge Yankee, die weißen Handschuhe, die Pistole. Was hatte er getan? - Es überfiel ihn, daß er ein Feigling gewesen war, wie er es schon immer gewußt hatte; dieser Gedanke schmeckte wie bitterste Medizin.

»Versuchen Sie nicht zu sprechen«, sagte Sir Benjamin. »Sie sind bei Dr. Markley. Er sagt, Sie seien nicht transportfähig.

Liegen Sie also still. Sie haben eine scheußliche Schußwunde, aber Sie werden durchkommen. Wir machen uns jetzt wieder aus dem Staub.« Sir Benjamin schien verlegen zu sein. Er fingerte an dem Metallpfosten am Fußende des Bettes herum. »Was Sie da getan haben, Budge«, fügte er dann hinzu, »nun, ich muß schon sagen, das war verdammt anständig von Ihnen, wissen Sie.«

Budge befeuchtete seine Lippen und schaffte es endlich zu sprechen.

»Ja, Sir«, sagte er. »Danke, Sir.«

Seine halbgeschlossenen Augen weiteten sich erstaunt und leicht verärgert, als er sah, daß der junge Amerikaner beinahe gelacht hätte.

»Sollte keine Beleidigung sein, Budge«, erklärte Rampole hastig.

»Ich mußte nur gerade daran denken, daß Sie ihm die Kanone weggeschlagen haben, als wären Sie ein Bulle in Chikago. Und jetzt bedanken Sie sich, als habe Ihnen jemand ein Bier ausgegeben... Sie haben ihn wohl nicht erkannt?«

Krampfhaftes Nachdenken. Ein Gesicht im Profil, verwaschen wie eine Zeichnung im Sand. Budge wurde schwindelig, seine Brust schmerzte. Das Gesicht löste sich auf.

»Ja, Sir«, sagte er mit Anstrengung. »Ich werde mich noch erinnern, bald. Jetzt kann ich nicht...«

»Natürlich«, unterbrach ihn Rampole. Er sah eine weiß gekleidete Gestalt, die ihnen von der Tür her Zeichen gab. »Alles Gute, Budge. Sie haben sehr viel Mut bewiesen.«

Als die anderen lächelten, fühlte Budge, wie ihnen auch auf seinem Gesicht ein Lächeln antwortete wie ein nervöses Zucken. Wieder wurde er schläfrig, und sein Kopf sang, doch diesmal dämmerte er auf angenehme Weise weg. Er war nicht sicher, was geschehen war, doch zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich von wärmster Zufriedenheit eingelullt. Was für eine Geschichte! Wenn nur die Hausmädchen nicht immer die Fenster offenstehen ließen...

Budge schloß die Augen.

»Danke, Sir«, sagte er. »Bitte sagen Sie Miss Dorothy, daß ich morgen wieder zurück im Herrenhaus sein werde.«

Rampole zog die Schlafzimmertür hinter sich zu und wandte sich im Dämmerlicht des Flurs nach Sir Benjamin um. Er sah den weißen Kittel einer Krankenschwester vor ihnen die Treppe hinunterschweben.

»Er hat gesehen, wer es war«, sagte der Chief Constable grimmig. »Und er wird sich erinnern. Was, zum Teufel, aber hat er da gemacht?«

»Reine Neugier, denke ich. Was jetzt?«

Sir Benjamin klappte den Deckel seiner großen goldenen Uhr auf, warf einen nervösen Blick darauf und klappte sie wieder zu.

»Jetzt kommt Dr. Fells Show. Ich will verflucht sein, wenn ich die geringste Ahnung habe.« Seine Stimme wurde nörgelnd. »Er hat alles vollständig über meinen Kopf hinweg gemacht - über meinen Kopf! Er scheint auf recht gutem Fuß mit Sir William Rossiter zu stehen, dem Oberkommissar beim Yard. Überhaupt scheint er in England jeden bestens zu kennen. Er hat alle Fäden in der Hand... Alles, was ich weiß, ist, daß wir den Zug um 17.04 aus London erwarten und uns jemanden schnappen, der da aussteigt. Na gut, ich hoffe nur, alles ist bereit. Kommen Sie.«

Dr. Markley war noch bei seinen nachmittäglichen Hausbesuchen, und sie hielten sich nicht länger auf. Als sie in die Hauptstraße einbogen, war Rampole noch aufgeregter als der Chief Constable. Weder gestern abend noch heute morgen hatte er Dr. Fell weitere Einzelheiten entlocken können.

»Und außerdem«, nörgelte der Chief Constable immer noch im gleichen Ton, »werde ich nicht nach Southampton fahren und den Onkel des Pfarrers abholen. Auch wenn er ein alter Freund von mir ist - der Pfarrer fährt selbst. Ich habe am Donnerstag in Manchester zu tun und werde mindestens eine Woche lang weg sein. Verdammt! Irgendwas kommt aber auch immer dazwischen. Payne kann ich auch nicht finden. Er hat einige Papiere, die ich mit nach Manchester nehmen muß. Verflixt und zugenäht! Hier habe ich meine ganze Zeit mit diesem verdammten Fall verplempert, den ich eigentlich leicht den zuständigen Leuten hätte überlassen können, und jetzt nimmt mir Dr. Fell auch noch die ganze Sache aus der Hand.«

Er klang reichlich verzweifelt, und Rampole begriff, daß er einfach redete, was ihm in den Sinn kam, um ja nicht nachdenken zu müssen. Der Amerikaner konnte ihm nur beipflichten.

Sir Benjamins grauer Daimler parkte im Schatten der Ulmen am Straßenrand. Es war gerade Teezeit, nur wenige Leute waren unterwegs. Rampole fragte sich, ob die Neuigkeit vom Tod Herberts wohl bereits nach Chatterham durchgesickert war. Die Leiche hatten sie letzte Nacht ins Herrenhaus geschafft und die Bediensteten mit furchtbaren Drohungen davor gewarnt, irgend etwas davon verlauten zu lassen, bevor man es ihnen erlaubte. Doch das war natürlich keine Garantie. Die letzte Nacht hatte Dorothy, dem Zusammenbruch nahe, bei Mrs. Fell verbracht. Fast bis zum Tagesanbruch hatte er sie im Nebenraum leise reden hören. Erschöpft, und doch unfähig zu schlafen, hatte er am Fenster gesessen, unzählige Zigaretten geraucht und mit schmerzenden Lidern hinaus in den heraufdämmernden Tag gestarrt.

Der Daimler glitt jetzt durch Chatterham, der kühlende Hauch des Fahrtwindes strich über sein Gesicht. Die glühenden Streifen am Himmel waren verblaßt. Weiß war zu sehen und Violett, rauchige Schatten, die aus der Ebene heraufkrochen. Ein paar dunkle Wolken wie gemächliche Schafe. Er erinnerte sich an den ersten Abend, als er mit Dorothy Starberth nach Chatterham spaziert war, an diese geheimnisvolle Stunde unter dem golden verdunkelten Himmel, an die fernklingenden Glocken. Der Wind war durch den noch grünen Weizen gegangen und der Geruch des Weißdorn mit zunehmender Dämmerung immer stärker geworden. Er erinnerte sich und konnte nicht glauben, daß seitdem erst zehn Tage vergangen sein sollten.

>Morgen kommt ein Nachmittagszug aus London<, hörte er Dr. Fell im Hexenwinkel sagen, >den werden wir erwarten.<

Die Worte hatten etwas Endgültiges...

Sir Benjamin sagte nichts. Der Daimler brauste durch die Abendluft. Dorothy in New York. Dorothy als seine Frau. Du lieber Gott - das klang wunderbar! Jedesmal, wenn er sich das vorstellte, mußte er daran denken, daß er letztes Jahr noch im Seminar gesessen und geglaubt hatte, wenn er in Wirtschaftswissenschaften durchfiele (ein Fach, das er, wie alle intelligenten Menschen, verabscheute), dann ginge die Welt unter. Wenn er jedoch eine Frau besaß, würde er plötzlich ein ehrbarer Bürger sein, mit Telefonanschluß, Cocktailshaker und allem drum und dran. Seine Mutter bekäme vermutlich hysterische Anfälle, und sein Vater, hoch oben in seinem Anwaltsbüro im 24. Stockwerk an der 42. Straße West, zöge wohl nur träge die Augenbrauen hoch und sagte: »Na gut, wieviel brauchst du?«

Mit quietschenden Reifen hielt der Daimler am Straßenrand. Die bürgerliche Respektabilität mußte noch etwas warten. Zunächst war ein Mörder zu fangen.

Auf dem schattigen Weg, der zum Yew Cottage hinaufführte, wurden sie von etlichen Gestalten erwartet. Dr. Fells Stimme dröhnte herüber:

»Wie geht's ihm? Besser? - Dachte ich mir. Also, wir sind bereit.« Er zeigte mit einem Stock in die Runde. »Jeder, der in der Nacht, als Martin ermordet wurde, auf der Szene war, jeder, der zur Aufklärung beitragen kann, wird erleben, wie das Wild zur Strecke gebracht wird. Miss Starberth wollte erst nicht kommen, der Pfarrer auch nicht. Trotzdem sind nun beide hier. Und ich denke, auf dem Bahnhof werden noch einige andere auf uns warten.« Ungeduldig fügte er hinzu: »Nun, steigen Sie ein, steigen Sie ein!«

Am Wegrand tauchte die massige Gestalt des Pfarrers auf. Er stolperte beinahe, als er Dorothy in den Wagen half. »Natürlich komme ich gerne mit«, meinte er, »doch ich verstehe nicht, was Sie damit meinten, als Sie sagten Sie brauchen mich - «

Der Wagen verließ jetzt den Schatten des Heckenweges. Dr. Fell streckte seinen Stock in den Wind und sagte:

»Das genau ist der Punkt. Genau das. Ich möchte, daß Sie jemanden identifizieren. Es gibt etwas, was Sie uns sagen können, und ich bezweifle, ob Ihnen das selbst bewußt ist. Wenn Sie nicht alle genauestens meinen Anweisungen folgen, dann werden wir es niemals erfahren. Haben Sie verstanden?«

Er blickte alle scharf an. Sir Benjamin jagte den Motor hoch und blickte mit starrem Gesicht geradeaus. Er meinte nur kühl, sie befänden sich ja nun auf dem Weg. Auf dem Rücksitz versuchte der Pfarrer, seinem breiten Gesicht einen freundlichen Ausdruck zu geben. Dorothy hatte ihre Hände im Schoß gefaltet und blickte starr vor sich hin.

Rampole war seit seiner Ankunft vor zehn Tagen, Äonen schienen seitdem vergangen, nicht mehr am Bahnhof gewesen. Der Daimler stob mit aufheulendem Signalhorn durch die Kurven. Das Gefängnis blieb zurück, die Wirklichkeit kam näher. Dort drüben schob sich der kleine ziegelsteingemauerte Bahnhof aus dem wogenden Getreide, die Schienen schimmerten im stumpfen, gelblich faden Sonnenuntergang. Die Lampen auf dem Bahnsteig waren noch nicht angezündet, nur am Fahrkartenschalter glomm ein grünliches Licht hinter der Scheibe. Hunde bellten, genau wie in der ersten Nacht. Als Sir Benjamin den Wagen anhielt, hörten sie von ferne das schwache Pfeifen den Zuges.

Rampole erschrak. Dr. Fell wuchtete sich, auf die Stöcke gestützt, aus dem Wagen. Er trug seinen Faltenumhang und den Schlapphut, was ihm das Aussehen eines wohlbeleibten Banditen gab. Der Wind spielte mit dem schwarzen Band seiner Augengläser.

»Hören Sie«, sagte er, »bleiben Sie bitte alle hier bei mir. Instruktionen habe ich nur für Sie.« Dabei blickte er Sir Benjamin scharf an. »Ich möchte Sie warnen. Für Sie wird es eine Versuchung sein. Aber was auch immer Sie sehen oder hören werden, sagen Sie um Gottes willen nichts! Haben Sie verstanden?« Er blickte jetzt sehr böse.

»Als Chief Constable dieses Bezirks - «, begann Sir Benjamin und bellte die Worte regelrecht hervor. Doch der Doktor unterbrach ihn einfach.

»Der Zug kommt. Begleiten Sie mich auf den Bahnsteig.«

Sie hörten, wie das schwache Rattern lauter wurde. Rampoles Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Dr. Fell scheuchte sie wie eine Hühnerschar zum Bahnsteig. Der Scheinwerfer der Lokomotive blinkte zwischen den Bäumen, als sie um die Kurve kam. Die Schienen schimmerten und begannen zu summen.

Ein langes Quietschen ertönte, als ein Bahnhofsbediensteter die Tür des Gepäckraumes aufzog; Licht fiel auf die Bretter des Bahnsteigs. Rampole sah hinüber. Vor dem unheimlichen Hintergrund des trübgelben Himmels sah er nahe am Bahnhof eine reglose Gestalt stehen. Dann bemerkte er, daß zahlreiche dieser reglosen Gestalten in Ecken und Winkeln entlang des Bahnsteiges herumstanden. Sie alle hatten die Hände in den Seitentaschen ihrer Mäntel.

Schnell drehte er sich um. Dorothy Starberth stand neben ihm und starrte die Gleise hinunter. Der Pfarrer kniff seine blauen Augen zusammen, wischte sich die Stirn mit dem Taschentuch und schien etwas sagen zu wollen. Sir Benjamin blickte verstimmt zum Fahrkartenschalter hinüber.

Schwankend und in einem Schwall von Ruß kam der kurze Zug zum Stehen. Der Scheinwerfer war jetzt riesengroß. Die Maschine seufzte und puffte kräftige Dampfwolken in den Himmel. Über dem Bahnhofseingang blinkte eine weiße Lampe. Hinter den gelben, rußigen Fenstern bewegten sich die Reisenden, die aussteigen wollten. Das einzige Geräusch war jetzt ein unterdrücktes Klicken über dem Gerumpel der Gepäckkarren.

»Da...«, sagte Dr. Fell.

Eben erschien ein einzelner Passagier. Rampole konnte das Gesicht bei den schweren Dampfwolken im Zwielicht nicht erkennen. Dann stand der Reisende unter der hellen Bahnhofslampe, und Rampole starrte ihn an.

Diesen Mann hatte er nie zuvor gesehen. Gleichzeitig registrierte er, daß einer der reglosen Männer vom Bahnsteig, die Hand weiterhin in der Tasche, nähergerückt war. Doch er schaute nur auf diese seltsame Gestalt aus dem Zug: ein großer Mann, mit einem altertümlichen eckigen Filzhut auf dem Kopf und einem grauen, säuberlich gestutzten Schnäuzer über dem starken braunen Kinn. Der Fremde zögerte und schwang einen großen Koffer von der rechten Hand in die linke.

»Da«, wiederholte Dr. Fell. Er ergriff den Arm des Pfarrers. »Sehen Sie ihn? Wer ist das?«

Der Pfarrer machte ein bestürztes Gesicht. »Sie sind wohl verrückt! Den habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Was auf Erden - ?«

»Aha«, sagte Dr. Fell. Seine Stimme wurde plötzlich lauter. Es dröhnte und hallte über den Bahnsteig. »Sie erkennen ihn also nicht wieder. Das sollten Sie aber, Mr. Saunders, das sollten Sie. Denn es ist Ihr Onkel!«

Lange war es still. Einer der reglosen Männer kam herüber, stellte sich neben den Pfarrer und legte ihm seine Hand auf die Schulter.

Er sagte: »Thomas Saunders, ich verhafte Sie wegen Mordes an Martin Starberth. Ich muß Sie darauf hinweisen, daß alles, was Sie sagen, protokolliert und gegen Sie verwendet werden kann.«

Er hatte jetzt die andere Hand aus der Tasche gezogen und hielt darin einen Revolver. Obwohl in seinem Kopf alles durcheinanderwirbelte, sah Rampole, daß die reglosen Gestalten aus allen Ecken des Bahnhofs stumm näherrückten.

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