Kapitel 14

Sir Benjamin war übel gelaunt. Er hatte den Regen verwünscht, und die schlechte Stimmung lag so dick im Raum wie Whiskydunst. Als sie eintraten, strich er hungrig um den Teetisch vor dem Kamin.

»Halloo!« begrüßte ihn Dr. Fell. »Meine Frau ist noch nicht zurück? Wie sind Sie denn hereingekommen?«

»Ich trat einfach ein«, sagte der Chief Constable würdevoll. »Die Tür stand auf. Jemand hat hier einen fabelhaften Tee im Stich gelassen. Wie war's mit einem Drink?«

»Wir - äh - haben schon Tee getrunken«, sagte Rampole.

Der Chief Constable war gekränkt. »Ich brauche einen Brandy mit Soda. Heute will einfach jeder was von mir. Erst der Pfarrer. Sein Onkel, äh, ein Neuseeländer, alter Freund von mir. Ich habe damals dem Pfarrer die Stelle hier verschafft. Der Onkel macht seine erste Reise nach England seit zehn Jahren, und der Pfarrer wünscht, daß ich ihn abhole. Wie zum Teufel soll ich hier weg? Der Pfarrer ist selbst aus Neuseeland. Soll er doch nach Southhampton fahren. Dann Payne... «

»Stimmt was nicht mit Payne?« fragte Dr. Fell.

»Er möchte, daß die Tür des Gouverneurszimmers für immer mit Ziegelsteinen vermauert wird. Er meint, das Zimmer habe jetzt seinen Zweck erfüllt. Nun, ich will mal hoffen, daß das so ist. Aber wir können es doch trotzdem jetzt noch nicht zumauern. Payne hat ständig wegen irgend etwas geistige Zahnschmerzen. Und schließlich möchte Dr. Markley, daß der Brunnen zugeschüttet wird, da ja jetzt der letzte männliche Starberth tot ist.«

Dr. Fell blies seine Backen auf. »Das können wir auf keinen Fall tun«, pflichtete er bei. »Setzen Sie sich. Wir haben Ihnen etwas zu erzählen.«

Der Doktor schenkte auf der Anrichte harte Getränke ein und erzählte Sir Benjamin alle Vorkommnisse des Nachmittags.

Während des Vertrags beobachtete Rampole das Gesicht des Mädchens. Sie hatte nicht viel gesprochen, seit Dr. Fell damit begonnen hatte, die Geschichte des Starberth-Geheimnisses zu erklären. Sie schien ihren inneren Frieden wiedergefunden zu haben.

Sir Benjamin verschränkte die Arme hinter seinem Rücken. Seine feuchte Kleidung verbreitete einen durchdringenden Tweed- und Tabakgeruch.

»Zweifellos, zweifellos«, brummte er. »Aber warum holen Sie bei Ihrem Bericht nur so verflixt weit aus? Wir haben schon eine Menge Zeit verloren. Er ändert doch nichts daran, und wir müssen uns damit abfinden, daß nur Herbert der Schuldige sein kann. So lautet das Ergebnis der gerichtlichen Leichenschau.«

»Geben Sie sich damit zufrieden?«

»Nein, zum Teufel. Ich glaube nicht, daß der Junge schuldig ist. Aber was können wir denn sonst tun?«

»Noch keine Spur von ihm?«

»Oh, gesehen hat man ihn überall. Bloß konnte er bis jetzt nicht gefunden werden. Was können wir, ich möchte es nochmal wiederholen, in der Zwischenzeit tun?«

»Beispielsweise könnten wir Anthonys Versteck untersuchen.«

»Ja. Wenn diese infernalische Geheimschrift, oder was immer das ist... Lassen Sie mal sehen. Ich nehme an, wir haben Ihre Erlaubnis, Miss Starberth?«

Sie lächelte schwach. »Natürlich, jetzt ja. Doch ich glaube, Dr. Fell ist allzu zuversichtlich. Hier ist mein Exemplar.«

Dr. Fell hatte es sich in seinem Lieblingslehnsessel bequem gemacht, die Pfeife glomm, und eine Flasche Bier stand neben ihm. Mit seinem weißen Haar und dem Backenbart hätte er ein passendes Double für den Weihnachtsmann abgegeben. Wohlwollend sah er zu, wie Sir Benjamin das Gedicht studierte. Auch Rampoles Pfeife zog gut, und er hatte sich auf dem roten Sofa, wo er unauffällig Dorothys Hand berühren konnte, gemütlich zurückgelehnt. Mit der anderen Hand hielt er sein Glas. Das, überlegte er, war fast alles, was man zum Leben brauchte.

Der Chief Constable blickte auf. Dann las er laut:

»Er klassisch übern Himmel fährt;

Wenn Alpha ruft nach seinem Ende,

Wo Newgate-Kittchen wallbewehrt -

Schifft Charon darauf Diesseits' Wende.«

Langsam und etwas leiser las er die Zeilen noch einmal. Dann rief er erregt:

»Das ist doch reiner Unsinn!«

»Ahhh!« machte Dr. Fell wie jemand, der einen besonders guten Wein genießt.

»Nichts als das Gestammel eines Wahnsinnigen!«

»Aber es reimt sich«, korrigierte ihn Dr. Fell.

»Von mir aus. Jedenfalls, was es auch vorstellen mag, es ist bestimmt kein Kryptogramm. Haben Sie es schon gesehen?«

»Nein. Doch es handelt sich mit Sicherheit um ein Kryptogramm.«

Der Chief Constable schob ihm das Blatt hinüber. »Na gut. Dann sagen Sie uns, was das bedeutet. >Er klassisch übern Himmel fährt; Wenn Alpha ruft nach seinem Ende.. .< Lauter Unsinn... Allerdings«, murmelte er und massierte seine Backe, »glaube ich, daß ich solche Rätsel auch schon in Zeitschriften gesehen habe. Vielleicht auch in Romanen. Man nimmt jedes zweite Wort, oder jedes dritte, oder so - nicht wahr?«

»Das funktioniert nicht«, sagte Rampole verdrossen. »Ich habe bereits alle Kombinationen mit ersten, zweiten und dritten Worten ausprobiert. Auch als Akrostichon hab' ich's schon probiert, alle vier Strophen von oben nach unten. Die ersten Buchstaben ergeben >Ewwshdidwdzdwn<, und aus den letzten Buchstaben entsteht >Tetegtgtntntdt<. Das zweite klingt immerhin wie der Name einer ägyptischen Königin.«

»Aha«, sagte Dr. Fell und nickte wieder.

»In den Zeitschriften - «, begann Sir Benjamin.

Dr. Fell versank noch tiefer in seinem Sessel und stieß eine enorme Tabakswolke aus.

»Übrigens«, meinte er, »diese Rätsel in den Zeitschriften und Illustrierten sind mir schon lange ein Dorn im Auge. Ich mag Kryptogramme selbst sehr gern. Beiläufig bemerkt, finden Sie hinter sich eines der ersten Bücher über Geheimschriften überhaupt: John Baptist Portas' De Furtivis Literarum Notis, erschienen 1563. Nun, der einzige Sinn eines guten Kryptogramms ist doch: Es muß etwas verbergen, das jemand zunächst geheimhalten will. Das heißt also, es stellt tatsächlich so etwas wie eine Geheimschrift dar. Die Botschaft könnte dann etwa heißen: >Die verschwundenen Juwelen sind in den Unterhosen des Erzbischofs versteckt< oder >Von Dinkelspuck greift um Mitternacht das Worcestershire Garderegiment an<. Wenn aber die Illustriertenleute ein Kryptogramm basteln, das den Leser verblüffen soll, dann machen sie normalerweise gar nicht erst den Versuch, ihn durch die Erfindung eines diffizilen Kryptogramms in Erstaunen zu versetzen. Vielmehr versuchen sie meist nur, einen durch eine Botschaft zu verwirren, die sowieso niemand verschicken würde. Man knobelt, flucht und probiert sich durch eine gigantische Menge symbolischer Bildchen hindurch, bloß um eine Botschaft zu erhalten wie: > Phlegmatische Pachydermen prohibieren primär prokreative Prärogativen< Pah!« wetterte der Doktor. »Können Sie sich etwa einen Spion des deutschen Geheimdienstes vorstellen, der sein Leben riskiert, um so eine Botschaft durch die britischen Linien zu schleusen? Ich schätze, General von Gugeldorfer wäre ganz schön sauer, wenn er die entschlüsselte Depesche erhielte und erführe, daß träge Dickhäuter sich jeglicher Versuche enthalten, die eigene Art fortzupflanzen.«

»Das stimmt doch wohl nicht, oder?« forschte Sir Benjamin interessiert.

»Ich spreche nicht von dem naturgeschichtlichen Hintergrund der Aussage«, gab der Doktor amüsiert zurück. »Ich rede von Kryptogrammen.« Er nahm einen langen Zug aus dem Bierglas und fuhr dann in gemäßigterem Ton fort:

»Natürlich handelt es sich dabei um ein sehr altes Verfahren. Schon Plutarch und Gellius erwähnen geheime Methoden der Nachrichtenübermittlung bei den Spartanern. Doch die Kryptographie im engeren Sinn, also das Austauschen von Wörtern, Buchstaben oder Zeichen, ist semitischen Ursprungs. Eine Variante dieser einfachen Form findet sich schon in Caesars Schrift Quarta elementorum littera...«

»Sehen Sie sich mal dieses verdammte Ding hier an!« entfuhr es Sir Benjamin, der Rampoles Abschrift vom Boden aufgehoben hatte und mit der flachen Hand darauf schlug. »Sehen Sie hier, in der zweiten Strophe. Es ergibt zwar keinen Sinn: >Ist mondbesternt und macht schön bang: Der Kors' ward hier zur Welt gebracht!<. Wenn damit aber wirklich das gemeint ist, was ich vermute, dann ist das nicht sehr schmeichelhaft für Napoleon.«

Dr. Fell nahm die Pfeife aus dem Mund. »Ich wünschte, Sie hielten die Klappe«, klagte er. »Ich möchte jetzt gerne einen Vortrag halten, jawoll. Ich wollte gerade von Trithemius zu Francis Bacon kommen und dann - «

»Ich habe aber keine Lust auf einen Vortrag«, widersetzte sich der Chief Constable. »Ich will, daß Sie sich das hier mal ansehen. Ich sage ja nicht, Sie sollen es lösen. Aber hören Sie auf zu dozieren und werfen Sie bloß mal einen Blick hier drauf.«

Seufzend ging Dr. Fell zum Tisch hinüber, wo er eine weitere Lampe anzündete und das Blatt vor sich ausbreitete. Die Tabakswolken verwandelten sich in ein langsames, stetiges Paffen.

»Hmm«, meinte er. Erneutes Schweigen.

»Warten Sie«, wehrte Sir Benjamin ab, als der Doktor sprechen wollte. »Fangen Sie bloß nicht wieder an, wie ein verdammtes Lexikon zu reden. Sehen Sie irgendeinen Anhaltspunkt?«

»Ich wollte Sie gerade bitten«, antwortete der andere sanft, »mir noch ein Bier einzuschenken. Wie dem auch sei, da Sie es schon ansprechen... Die Alten waren Waisenknaben gegen unsere modernen Kryptographen; der Krieg hat das ja bewiesen. Diese Verse hier, die im späten achtzehnten oder frühen neunzehnten Jahrhundert geschrieben worden sind, dürften also nicht allzu schwierig sein. Der Rebus war damals die beliebteste Gattung in unserem Zusammenhang; um so etwas handelt es sich hier natürlich nicht. Allerdings sind sie doch ein wenig komplizierter als die einfachen Substitutions-Chiffren, die Edgar Allan Poe so geschätzt hat. Es muß eine Art Bilderrätsel sein, bloß...«

Sie hatten sich um seinen Stuhl geschart und über das Blatt gebeugt. Erneut lasen sie die Worte:

Er klassisch übern Himmel fährt;

Wenn Alpha ruft nach seinem Ende,

Wo Newgate-Kittchen wallbewehrt -Schifft Charon darauf Diesseits' Wende.

Homer von Trojas Unglück sang -Dort scheint die Sonn' um Mitternacht,

Ist mondbesternt und macht schön bang:

Der Kors' ward hier zur Welt gebracht!

Wo ruht dein aschzerstäubt' Gebein?

Dein Fuß stößt dran, du bist erstaunt,

Zur Krippe weist Kometenschein.

Der Kelten blinder Sänger raunt:

Wohl schwarzen Todes Boten sind.

Nimm Ost-Süd-West: wer'sfindt, gewinnt!


Dr. Fells Stift arbeitete rasch und schrieb unverständliche Zeichen. Er brummte, schüttelte den Kopf und wandte sich wieder den Strophen zu. Er griff in ein drehbares Bücherregal neben sich, nahm einen schwarzgebundenen Band mit der Aufschrift »L. Fleissner, Handbuch der Kryptographie« heraus und blätterte stirnrunzelnd in dessen Index.

»Drafghk!« bellte er wie jemand, der »verdammt« sagt. »So kommt >drafghk< heraus, was aber Blödsinn ist. Ich könnte schwören, daß es überhaupt nichts mit einer Substitutions-Chiffre zu tun hat. Probeweise werde ich sowohl Englisch als auch Latein versuchen. Ich krieg' es raus. Die klassische Bildung triumphiert immer, junger Freund«, sagte er ungestüm, »Vergessen Sie das nie... Was ist los, Miss Starberth?«

Das Mädchen hatte beide Hände auf den Tisch gestützt, ihr dunkles Haar schimmerte im Licht. Als sie aufblickte, ließ sie eine unterdrücktes Lachen hören.

»Ich dachte gerade nur«, gab sie leicht verlegen zurück, »daß, wenn man die einzelnen Zeilen für sich nimmt...«

»Was?«

»Nun... Schauen Sie sich mal die zweite Strophe an. >Homer von Trojas Unglück sang<. Damit ist doch wohl die Ilias gemeint, oder? >Dort scheint die Sonn' um Mitternacht<. Das ist Norwegen. Wenn man nun jede Zeile einzeln nähme und als Definition jeweils - ich hoffe, das ist nicht allzu töricht«, zögerte sie, »und als Definition jeweils für ein Wort betrachtete...«

»Mein Gott!« sagte Rampole, »ein Kreuzworträtsel!«

»Quatsch!« rief Dr. Fell und wurde noch röter im Gesicht.

»Aber sehen Sie doch, Sir«, drängte Rampole und beugte sich aufgeregt über das Blatt. »Anthony wußte natürlich nicht, daß er in Wirklichkeit ein Kreuzworträtsel bastelte, aber im Ergebnis war es genau dasselbe. Sie sagten doch, es sei vielleicht eine Art von Rebus-«

»Wenn ich's recht bedenke«, schmollte Dr. Fell und räusperte sich, »war das Verfahren nicht unbekannt - «

»Gut, ausprobieren!« rief Sir Benjamin. »Wir wollen es versuchen. >Er klassisch übern Himmel fährt<. Ich nehme an, das soll heißen: >Wie nannte man ihn in klassischer Zeit?< - Aber wen? Wer hat eine Idee?« Dr. Fell, der vor sich hin gepafft und sich wie ein trotziges Kind benommen hatte, nahm jetzt wieder den Stift in die Hand. Knapp antwortete er:

»>Helios< natürlich, mit dem Sonnenwagen. Sehr gut, wir versuchen es. Das nächste könnte Omega sein. Alpha est et Omega, der Herr ist der Anfang und das Ende. Und das Newgate-Gefängnis steht in London. Weiter. »Schifft Charon darauf Diesseits' Wende<. Charon ist der Fährmann auf dem Flusse Styx, der in der griechischen Mythologie das Diesseits von der Unterwelt trennt. Wir hätten also - HELIOS OMEGA LONDON STYX.«

Schweigen.

»Scheint keinen Sinn zu ergeben«, murmelte Sir Benjamin skeptisch.

»Macht jedenfalls mehr Sinn als alles andere bisher«, sagte Rampole. »Wir sollten so weitermachen. Also >Ilias< und >Norwe-gen< haben wir schon. Dann: >Ist mondbesternt und macht schön bang<. Was mag das sein?«

»Die Nacht natürlich«, meinte Dr. Fell, der allmählich seine gute Laune wiedergewonnen hatte. »Die nächste Zeile meint augenscheinlich >Ajaccio<, die Geburtsstadt Napoleons. Woll'n sehen, was wir jetzt haben - HELIOS OMEGA LONDON STYX ILIAS NORWEGEN NACHT AJACCIO.«

Ein breites Grinsen legte seine zahlreichen Kinnrollen in Falten. Er zupfte an seinem Schnurrbart wie ein Pirat.

»Es ist raus«, verkündete er. »Ich hab's. Nehmen Sie nur den ersten Buchstaben von jedem Wort...«

»H O L - «, las Dorothy und sah sich mit leuchtenden Augen um.

»Das ist es. HOL SINN A- was kommt dann?«

»Wir brauchen ein U. Ja! >Wo ruht dein aschzerstäubt Gebein?<« las der Doktor. »Das nächste Wort heißt >Urne<. Weiter. Der Fuß stößt an den >Stolperstein<. Das ergibt HOL SINN AUS. Ich sagte ja, daß es nicht schwierig sein würde.«

Sir Benjamin sagte wiederholt »Donnerwetter!« und boxte sich in die Handfläche. »>Zur Krippe weist Kometenschein<: Damit muß Halley, die Hirten, Jesus gemeint sein. Die Antwort ist jedenfalls >Bethlehem<.«

»Und der blinde Sänger der Kelten«, warf Rampole ein, »hieß >Ossian<. Das fügt ein O hinzu. Also HOL SINN AUS BO- «

Dr. Fell schrieb die zwei neuen Worte und noch zwei letzte Buchstaben dazu.

»Fertig«, sagte er. »Die Boten des Schwarzen Todes sind die Ratten, sie bringen die Pest. In der letzten Zeile bleibt von den Himmelsrichtungen nur Norden übrig. Das letzte Wort ist somit BORN, ein alter Ausdruck sowohl für Quelle als auch für Brunnen.« Er warf den Stift weg. »Dieser gerissene alte Teufel! Über hundert Jahre hat er sein Geheimnis wahren können.«

Sir Benjamin ließ sich unter Verwünschungen kraftlos in einen Sessel fallen. »Und wir haben es in einer halben Stunde gelöst.«

»Lassen Sie mich daran erinnern, Sir«, brummte Dr. Fell aufgekratzt, »daß diese Geheimschrift absolut nichts enthält, was ich Ihnen nicht bereits gesagt hätte. Die Erklärung war längst gefunden. Das hier ist nur der Beweis für die Richtigkeit meiner Überlegungen. Wenn dieses Kryptogramm ohne unser Vorwissen gelöst worden wäre, dann wäre es vollständig sinnlos geblieben. Jetzt aber wissen wir dank - äh - unseres Vorwissens, was damit gemeint ist.« Mit prahlerischer Geste und leuchtenden Augen leerte er sein Glas.

»Natürlich, natürlich. Doch was meint er bloß mit >Sinn

»Damit kann nichts anderes gemeint sein als sein Sinnspruch, das Motto: >All meine Habe trage ich bei mir.< Der Wählspruch war bisher schon sehr hilfreich und wird uns auch weiterhin helfen. Irgendwo da unten wird er in den Stein gehauen sein...«

Wieder legte der Chief Constable die Stirn in Falten und rieb sich seine Backe.

»Na gut. Wir wissen aber nicht, wo. Und es ist ein verdammt ungesunder Ort zum Herumstöbern.«

»Unsinn!« rief der Doktor scharf. »Natürlich wissen wir, wo er sich befindet.«

Während ihn der Chief Constable säuerlich anblickte, lehnte sich Dr. Fell wieder zurück und entzündete behaglich seine Pfeife. Mit nachdenklicher Stimme fuhr er fort:

»Wenn man - beispielsweise - ein dickes Seil über die Balkonbrüstung legte, es durch die Rillen vom Tau des alten Anthony führte und das Ende, genau wie bei Anthonys Seil, in den Brunnen hängen ließe - dann wären wir doch wohl nicht mehr sehr weit von der Stelle entfernt, oder? Der Brunnen mag zwar sehr groß sein, aber ein Seil, das man in diese Rillen legt, wird den Suchbereich auf wenige Fuß zusammenschrumpfen lassen. Und wenn dann ein kräftiger Kerl - etwa unser junger Freund hier - vom Brunnenrand aus am Seil hinunterklettert...«

»Das klingt vernünftig«, gab der Chief Constable zu. »Doch was würde es nützen? Sie haben selbst gesagt, daß der Mörder schon vor langer Zeit alles, was sich je darin befunden haben könnte, weggeschafft hat. Er hat Timothy doch ermordet, weil der ihn dabei überraschte. Und er tötete Martin, weil der dieses Geheimnis erfahren hätte, wenn er den Bericht aus dem Tresor gelesen hätte. Was hoffen Sie jetzt noch da unten zu finden?«

Dr. Fell zögerte. »Ich bin mir nicht sicher. Aber wir sollten es auf jeden Fall versuchen.«

»Ich muß schon sagen.« Sir Benjamin atmete hörbar. »Na gut. Morgen früh nehme ich mir ein paar Beamte - «

»Dann hätten wir halb Chatterham auf dem Hals«, meinte der Doktor. »Meinen Sie nicht, daß es besser wäre, wir behielten die Sache vorläufig für uns und arbeiteten nachts?«

Der Chief Constable zauderte. »Das ist verdammt riskant«, murmelte er. »Ein Mann könnte sich dabei leicht den Hals brechen. Was meinen Sie dazu, Mr. Rampole?« Rampole hielt es für eine spannende Sache, und das sagte er auch.

»Trotzdem will es mir nicht gefallen«, brummte der Chief Constable. »Aber es ist der einzige Weg, unerfreuliche Zwischenfälle zu vermeiden. Wir können es, falls der Regen nachläßt, heute nacht versuchen. Ich muß sowieso nicht vor morgen früh zurück nach Ashley Court, und ich kann im >Bruder Tuck< übernachten. Meinen Sie nicht, daß das Licht im Gefängnis, wenn wir das Seil festmachen - ich meine, wird so was nicht Aufmerksamkeit auf uns ziehen?«

»Möglich. Doch ich bin mir ziemlich sicher, daß uns niemand stören wird. Die Leute aus dem Dorf sind viel zu ängstlich.«

Dorothy hatte bereits eine ganze Weile von einem zum anderen geblickt. Nun verengten sich ihre Augen zu Schlitzen, und um ihren Mund bildeten sich ärgerliche Falten.

»Sie fragen ihn, ob er es macht«, sagte sie und nickte zu Rampole hinüber, »und ich kenne ihn schon gut genug, um zu wissen, daß er es tatsächlich tun wird. Sie können ja ganz beruhigt sein. Sie behaupten, niemand aus dem Dorf würde da sein. Na schön, aber Sie haben jemand vergessen, der mit größter Wahrscheinlichkeit da sein wird. Der Mörder.«

Rampole war zu ihr hinübergegangen und hatte ihre Hand ergriffen. Sie bemerkte es nicht, doch ihre Finger schlössen sich um die seinen. Sir Benjamin bemerkte es jedoch sehr wohl und mit einiger Verwirrung, die er aber zu verbergen suchte, indem er »Ähäm!« sagte und auf seinen Absätzen zu wippen begann. Wohlwollend blickte Dr. Fell aus seinem Sessel hoch.

»Der Mörder«, wiederholte er. »Ich weiß, meine Liebe. Ich weiß.«

Man schwieg. Niemand schien noch zu wissen, was er sagen sollte. Der Ausdruck in Sir Benjamins Augen schien anzudeuten, daß es nicht sehr Britisch wäre, jetzt noch den Rückzug anzutreten. Alles in allem war er äußerst verlegen.

»Ich gehe dann wohl mal«, meinte er nach einer Weile. »Übrigens werde ich den Friedensrichter in Chatterham ins Vertrauen ziehen müssen. Schließlich brauchen wir Seile, Haken, Hämmer und so weiter. Wenn der Regen aufhört, dann kann ich wohl um zehn heute abend wieder hier sein.«

Er zögerte.

»Aber eine Sache wüßte ich noch gerne. Sie haben eine ganze Menge von diesem Brunnen erzählt. Von ertrunkenen Männern und Geistern, von Goldbarren, Juwelen, Tafelsilber und Gott weiß, wovon noch. Gut. Aber Doktor, was suchen Sie denn nun da unten in dem Brunnen?«

»Ein Taschentuch«, sagte Dr. Fell und nahm sich noch ein Bier.

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