Mr. Budge hatte einen erbaulichen Abend verbracht. Drei Abende im Monat hatte er frei. Gewöhnlich richtete er es so ein, daß er zwei davon in einem Kino in Lincoln zubringen konnte; dort wurden mit erfreulicher Regelmäßigkeit Leute »um die Ecke gebracht«, und außerdem konnte er sein Gedächtnis auffrischen bezüglich solcher Ausdrücke wie »Zieh Leine!«, »Zisch ab!« und ähnlichem, die ihm in seiner Stellung als Butler im Herrenhaus einmal von Nutzen sein könnten. Den dritten freien Abend verbrachte er grundsätzlich bei seinen guten Freunden, Mr. und Mrs. Rankin, Butler und Haushälterin im Hause der Paynes in Chatterham.
Die Rankins behandelten ihn in ihren behaglichen Räumen im Untergeschoß mit einer Gastlichkeit, deren Ritual feststand. Mr. Budge erhielt den besten Sessel, einen quietschenden Schaukelstuhl, dessen Rückenlehne hoch über den Kopf des Sitzenden hinausragte. Mr. Budge bekam ein Gläschen angeboten - Portwein von oben, vom Tisch der Paynes, oder, bei feuchtem Wetter, einen heißen Grog. Die Gaslichter summten gemütlich, und stets gab es auch wieder das übliche Kindergeplapper mit der Katze. Die Schaukelstühle schwangen in unterschiedlichen Rhythmen - Mrs. Rankins' Stuhl schnell und lebhaft, der ihres Gatten etwas beschaulicher und Mr. Budges Stuhl mit einer schwerfällig rollenden Bewegung wie eine Sänfte, die einen Fürsten trug.
Den Abend verbrachten sie gewöhnlich mit Diskussionen über Chatterham und seine Bewohner. Vor allem, wenn es ab neun Uhr weniger förmlich zuging, sprachen sie über die Honoratioren des Dorfes. Kurz nach zehn machten sie dann normalerweise Schluß. Mr. Rankin empfahl Mr. Budges Aufmerksamkeit noch ein lesenswertes Buch, das sein Herr im Laufe der Woche erwähnt hatte, Mr. Budge notierte sich gewissenhaft den Titel, setzte dann seinen Hut so exakt auf, als sei es ein Helm, knöpfte den Mantel zu und spazierte heimwärts.
Der heutige Abend, überlegte er, als er über die Hauptstraße auf das Herrenhaus zuschritt, war ungewöhnlich erfrischend verlaufen. Der Himmel war aufgeklart und schimmerte wie blankgeputzt. Der Mond leuchtete hell. Ein feiner Dunstschleier hing über der Ebene, und die feuchte Luft roch nach Heu. In solchen Nächten verwandelte sich die Seele Budges in die Seele von D'ArtagnanRobinHoodFairbanksBudge, dem Draufgänger, dem Abenteurer, dem Schnurrbartzwirbler - in ganz verrückten Momenten sogar von Budge, dem großen Liebhaber. Seine Seele wurde zu einem Ballon - einem Fesselballon zwar, aber immerhin einem Ballon. Er liebte diese langen Heimwege, denn die Sterne lachten nicht über die Possen jenes anderen Budge, er konnte unbeobachtet mit einem eingebildeten Schwert in der Hand einen Ausfall gegen einen der Heuhaufen tun, ohne von so einem neunmalklugen Hausmädchen behelligt zu werden.
Doch während seine Schritte auf der harten weißen Straße widerhallten, verschob er diese luxuriösen Träume auf die letzte Meile seines Weges. Er überdachte den Abend, vor allem die enorme Neuigkeit, die er gegen Ende des Beisammenseins erfahren hatte...
Zunächst hatte es einfach den üblichen Klatsch gegeben. Er selbst hatte sich mit Anteilnahme über Mrs. Bundles Hexenschuß geäußert. Die Gegenseite hatte mit der Neuigkeit aufgewartet, daß Mr. Payne wieder einmal zu einer juristischen Besprechung nach London fahren würde. Mr. Rankin hatte dieses Thema mit den eindrucksvollsten Begriffen behandelt und geheimnisvolle Aktenmappen erwähnt, die ebenso imponierend wären wie die Perücken der Richter. Was sie an der Gilde der Rechtsgelehrten am tiefsten beeindruckt hatte, war, daß man, um deren Mitglied zu werden, so viele Bücher lesen mußte. Außerdem war Mrs. Payne wieder einmal ausgesucht schlechter Laune, doch was konnte man schon anders erwarten, bei ihrer Veranlagung.
Zudem hatte sich im Dorf das Gerücht verbreitet, der Onkel des Pfarrers käme aus Auckland zu Besuch, einer der ältesten Freunde von Sir Benjamin Arnold. Der hatte ja dem Pfarrer danach die Anstellung verschafft, das hatte er. Der Onkel und Sir Benjamin waren vor Jahren zusammen mit Cecil Rhodes in den Diamantenfeldern von Kimberley gewesen. Das gab Anlaß zu einigen Spekulationen. Man spekulierte auch ein wenig über den Mord, allerdings wirklich nur sehr wenig, da die Rankins Mr. Budges Gefühle respektierten. Budge war ihnen dankbar dafür. Persönlich hatte er die innere Gewißheit, daß Mr. Herbert den Mord begangen hatte, aber er weigerte sich, weiter darüber nachzudenken. Jedesmal, wenn das häßliche Thema plötzlich in seinen Gedanken auftauchte, drückte er es wieder zurück wie einen Springteufel in die Dose, doch er konnte es nicht immer verdrängen...
Nein, worüber er am meisten nachdachte, waren die Gerüchte über Die Affäre. Der Großbuchstabe war nur allzu berechtigt; es klang viel verruchter so, beinahe französisch. Die Affäre zwischen Miss Dorothy und dem jungen Amerikaner, der bei Dr. Fell zu Besuch war.
Zunächst war Budge schockiert gewesen. Nicht über die Affäre, sondern über den Amerikaner. Seltsam, sehr seltsam, überlegte Budge mit plötzlicher Bewegung. Wenn man hier im Mondlicht unter den unermüdlich rauschenden Bäumen entlangspazierte, erschienen alle Dinge in einem anderen Licht als oben im Herrenhaus. Möglicherweise war es Budge der Draufgänger, der über die Indiskretion ebenso leicht hinwegsah, wie er einen Schuft (»Canaille!«) mit der Spitze seines Rapiers aufspießen konnte. Das Herrenhaus war so schlafmützig und spießig wie eine Partie Whist. Hier jedoch wollte man den Tisch umstoßen und die Karten herunterfegen. Es war bloß - nun, diese verdammten Amerikaner -und Miss Dorothy!
Guter Gott! Miss Dorothy!
Er erinnerte sich seiner eigenen Worte, die ihm in jener Nacht, als Mr. Martin ermordet worden war, in den Sinn gekommen waren: Da hatte er Miss Dorothy beinahe ein eiskaltes kleines Stück genannt. Ein Gedanke beherrschte alle anderen: Was würde Mrs. Bundle dazu sagen? Im Herrenhaus hätte ihn diese Vorstellung frösteln lassen. Hier jedoch ließen die Strahlen der Filmleinwand Mr. Budges Seele glänzen wie eine Rüstung.
Er kicherte.
Gerade ging er an ein paar Heuhaufen vorüber, monströsen schwarzen Schatten vor dem Mond, und wunderte sich, daß er schon so weit gekommen war. Seine Stiefel mußten staubbedeckt sein, und sein Blut war vom Gehen in Wallung geraten. Letzten Endes schien der junge Amerikaner aber doch ein Gentleman zu sein. Sicher, in manchen Augenblicken hatte Budge ihn für den Mörder gehalten. Immerhin kam er aus Amerika, und Mr. Martin hatte ebenfalls viele Jahre in Amerika verbracht. Das legte unheilvolle Schlüsse nahe. Und für einen kurzen, köstlichen Augenblick war in ihm der Verdacht aufgestiegen, er könne möglicherweise - wie Mrs. Bundle es auszudrücken pflegte - ein Göngster sein.
Die Heuhaufen hatten sich in Burgen verwandelt, auf die die Kanonen des Herzogs von Guise zielten, und die Nacht war so sanft geworden wie der Samt, den ein Degenheld trug. Mr. Budge wurde sentimental. Er dachte an Tennyson. Er erinnerte sich im Augenblick nicht mehr, was Tennyson gesagt oder geschrieben hatte, doch er war ziemlich sicher, daß Tennyson einer Liebesaffäre zwischen Miss Dorothy und dem Yankee zugestimmt hätte. Und außerdem, Herrgottnochmal! Was für eine geheime Befriedigung wäre es ihm, wenn sie endlich einmal jemand zum Leben erweckte! -Aha! Sie hatte heute nachmittag das Herrenhaus verlassen und wollte erst nach dem Tee zurückkommen. Sie war von der Teezeit bis kurz vor Budges Ausflug nach Chatterham fortgewesen. Ha! Inzwischen war Budge ihr Beschützer. (Hat sie in dieser Zeit das Haus verlassen, fragte der Polizeibeamte mit drohend gezücktem Notizbuch. Und der unerschrockene Budge lachte dem Tod ins Gesicht und antwortete: Nein.)
Er blieb stehen. Er stand mitten auf der Straße, ein leichtes Zittern schüttelte seine Knie, und er starrte hinüber über die Wiesen zu seiner Linken.
Links vor ihm erhob sich gegen den mondhellen Himmel das Chatterham-Gefängnis. Das fahle Licht war hell genug, um sogar die einzelnen Bäume im Hexenwinkel deutlich zu sehen. Zwischen den Bäumen bewegte sich ein gelber Lichtstrahl.
Lange Zeit stand Budge reglos mitten auf der staubgrauen Straße. Er hatte eine vage Vorstellung, als ob eine Gefahr, die von dort drohe, ihm nichts anhaben könne, wenn er nur absolut ruhig blieb -wie ja auch ein wütender Hund, so sagt man, einen völlig bewegungslosen Mann nicht angreifen würde. Dann schob er sehr zaghaft seinen Bowlerhut in den Nacken und wischte sich mit einem sauberen Taschentuch die Stirn. Eine verrückte kleine Idee stahl sich in sein Gehirn und setzte sich hartnäckig fest. Dort drüben, wo dieses Irrlicht geisterte, da wartete eine Bewährungsprobe auf den Abenteurer Budge! Hier stand er mitten in der Nacht im Hochgefühl seiner Kühnheit. Später würde wieder der Butler Budge voller Scham vor seinem weißen Bett stehen und erkennen, daß er eben doch nur Budge, der Butler war...
Woraufhin Budge etwas tat, was seinem majestätisch im Herrenhaus umherschreitenden Butler-Ich völlig hirnverbrannt vorgekommen wäre. Gebückt kletterte er über den Zaun und begann, den Wiesenhang zum Hexenwinkel hinüberzuhasten. Und es sollte hier festgehalten werden, daß dabei sein Herz plötzlich zu singen begann.
Immer noch war der Boden naß und aufgeweicht vom kürzlichen Regen. Er mußte den Hang bei vollem Mondlicht überqueren, und viel zu spät fiel ihm ein, daß er sich dem Hexenwinkel ja auch auf einer weniger direkten Route hätte nähern können. Egal, nun war es geschehen. Er merkte, daß er schnaufte; kleine, scharfe Sägeblätter wurden in seiner Kehle auf- und abgezogen. Ihm war sehr heiß, er schwitzte. Und plötzlich schlüpfte mit einem Gehorsam, den der Budge des achtzehnten Jahrhunderts ohne jeden Dank, ja sogar ohne Kommentar akzeptiert haben würde, der Mond hinter eine Wolke.
Er erreichte den Rand des Hexenwinkels. Vor ihm stand eine Buche, an die er sich lehnte. Seine Kehle war wund vom Rennen, und er hatte das Gefühl, als presse ihm der Bowlerhut das Gehirn zusammen. Er schnappte nach Luft.
Das hier war Wahnsinn.
Vergiß den Abenteurer Budge! Das hier war einfach wahnsinnig. Weiter vorne war wieder der Lichtschein zu erkennen. Er sah, wie es etwa zehn Meter vor ihm, ganz nahe am Brunnen, zwischen den Baumstämmen schimmerte. Es blitzte wie ein Signal. Offenbar als Antwort darauf blinkte weiter oben ein anderer Lichtstrahl auf und verschwand wieder. Für Budge, der seinen Hals emporreckte, gab es keine Zweifel: Das kam vom Balkon des Gouverneurszimmers. Jemand mußte dort eine Lampe aufgestellt haben. Er sah den Schatten eines sehr beleibten Mannes, der sich über die Brüstung lehnte, und der Schatten schien sich am Geländer zu schaffen zu machen.
Ein Seil rauschte mit solcher Wucht herab, daß Budge zurücksprang. Mit einem dumpfem Laut schlug es auf dem Brunnenrand auf, pendelte kurz und rutschte dann über den Rand in die Öffnung. Fasziniert schob Budge seinen Kopf wieder vor. Das Licht neben dem Brunnen war jetzt ein stetiger Strahl. Es schien von einer kleinen Gestalt gehalten zu werden - fast wie eine Frau, dachte er. Dann tauchte ein Gesicht im Lichtstrahl auf. Das Gesicht blickte auf, und eine Hand winkte hoch hinauf zum Balkon.
Der Yankee.
Darüber bestand trotz der Entfernung kein Zweifel. Der Yankee mit dem fremden, grinsenden, unbekümmerten Gesicht. Sein Name war - Mr. Rampole. Ja. Mr. Rampole schien das Seil auszuprobieren. Er schwang mit angezogenen Beinen hin und her. Dann kletterte er ein wenig das Seil hinauf, hielt sich mit einer Hand fest und ruckte mit der anderen daran. Dann sprang er wieder herab und winkte erneut. Noch ein Licht blitzte auf, wie aus einer Blendlaterne. Mr. Rampole befestigte es an seinem Gürtel, in den er auch noch andere Gegenstände zu schieben schien - ein Beil und eine Art winziger Hacke.
Er zwängte seinen Körper zwischen zwei der langen Eisenspitzen auf dem Brunnenrand hindurch und setzte sich, die Hände am Seil, einen Augenblick auf den Innenrand. Wieder grinste er die kleine Gestalt an, die das andere Licht hielt. Dann schwang er sich vom Rand in den Brunnen hinab, das Licht wurde verschluckt. Erst als jetzt die kleine Gestalt zur Brunnenmündung hinüberrannte und der Strahl aus Rampoles Lampe einen kurzen Moment lang herauf schien, erkannte Budge, daß das Gesicht, das sich über den Brunnen beugte, das Gesicht von Miss Dorothy war...
Jetzt war der Zuschauer am Rand des Hexenwinkels nicht mehr der Abenteurer Budge, auch nicht der Butler Budge. Er war einfach eine geduckte, ungläubige Gestalt, die diese verblüffenden Vorgänge zu begreifen versuchte. Die Frösche klagten laut, und Insekten umschwirrten sein Gesicht. Geschützt zwischen den Bäumen kroch er näher. Miss Dorothys Lampe erlosch., Ihm fiel ein, daß er den Rankins im nächsten Monat eine selten aufregende Geschichte beim Portwein würde präsentieren können!
Einzelne Lichtreflexe blitzten aus dem Brunnen, als ob eine Lampe im Wasser zischte, ohne jedoch endgültig zu verlöschen. Für Bruchteile von Sekunden sah er die Umrisse spitzer Buchenblätter aufleuchten und einmal, so schien es, Miss Dorothys Gesicht. Der bleiche Mond war wieder hervorgekommen und beleuchtete gespenstisch die Mauern des Gefängnisses. Obwohl er fürchtete, ein Geräusch zu verursachen, kroch Budge kurzatmig und schwitzend noch näher heran. Der Chor der Frösche, Grillen und Gott weiß, was sonst noch alles, war jedoch so laut, daß Budge sich fragte, ob überhaupt irgendein Geräusch zu hören gewesen wäre. Außerdem war es kalt hier.
An dieser Stelle muß betont werden, daß Budge kein sehr phantasievoller Mensch war. Die Umstände erlaubten es nicht. Aber als er seinen Blick von dem tief unten im Brunnen tanzenden Lichtgeflacker abwandte und im Mondlicht eine reglose Gestalt bemerkte, wußte er gleich, daß sie nicht hierher gehörte. Tief im Innern wußte Budge, daß die Anwesenheit Miss Dorothys und des Amerikaners richtig war, so richtig wie die Kombination von Bratensoße und Roastbeef, und daß die Anwesenheit des anderen falsch war.
Es war, Budge behauptet das heute noch, ein kleingewachsener Mann. Er stand einige Meter hinter Miss Dorothy, ein krummer, unheimlicher Schatten zwischen den Mondschatten der Bäume. Und er hielt etwas in der Hand.
Aus dem Brunnen gurgelte ein Geräusch. Ununterbrochen waren dort Geräusche gewesen, doch dies jetzt war eindeutig ein Schrei oder Stöhnen oder Würgen nach Luft gewesen...
An das Folgende erinnerte sich Budge später nur sehr undeutlich. Er wußte nicht, wieviel Zeit zwischen jenem dumpfen Echo und dem Auftauchen eines Kopfes über dem Rand des Brunnens vergangen war. Er erinnerte sich nur, daß Miss Dorothy irgendwann ihre Lampe wieder angeknipst hatte. Sie leuchtete aber nicht hinunter in den Brunnen, sondern richtete das Licht auf die Öffnung mit den rostigen Eisenspitzen. Der Lichtschein aus dem Brunnen wurde jetzt stärker, als jemand emporkletterte.
Von den Gitterstäben eingerahmt erschien ein Kopf. Zunächst konnte Budge ihn nicht besonders deutlich erkennen, denn er spähte in die Dunkelheit, um die fremde Gestalt weiter hinten ausmachen zu können, diese reglose Figur, die wie ein Monster aus Draht und Haaren und Stahl wirkte. Budge konnte sie aber nicht entdecken und schaute wieder zu dem von Eisenstäben umrahmten Kopf hinüber, der sich höher und höher aus dem Brunnen schob.
Das war nicht Mr. Rampoles Gesicht. Es war das Gesicht von Mr. Herbert, das sich da über den Eisenspitzen abzeichnete. Der Unterkiefer hing herab, und Budge stand inzwischen so nahe, daß er das Einschußloch zwischen den Augen sehen konnte.
Keine drei Meter vor sich sah er diesen gräßlichen Kopf auftauchen, als ob da Mr. Herbert aus dem Brunnen kletterte. Die nassen Haare klebten ihm auf der Stirn. Die Lider waren halb geschlossen über den weißen Augäpfeln. Die Farbe des Einschußloches war Blau. Budge schwankte, eins seiner Knie knickte seitwärts, und er glaubte, sich übergeben zu müssen.
Der Kopf bewegte sich. Er drehte sich von ihm weg, und eine Hand erschien auf dem Brunnenrand. Mr. Herbert war tot. Aber er schien tatsächlich aus dem Brunnen zu klettern.
Miss Dorothy kreischte auf. Doch bevor ihre Lampe erlosch, sah Budge etwas anderes, das seinen Schrecken wie einen zu fest geschnallten Gürtel löste und ihn vor dem Erbrechen bewahrte. Er sah, unter Mr. Herberts Schulter gezwängt, den Kopf des jungen Amerikaners; und er erkannte auch, daß die Hand auf dem Brunnenmassiv die des Yankees war, der eine steife Leiche aus der Tiefe mit emporbrachte.
Das silbrigblaue Mondlicht verwandelte die Szene in eine japanische Zeichnung. Alles war wie in einer Pantomime. Budge dachte nicht mehr an die fremde Gestalt, die er hinter dem Brunnen durch die Eisenstäben hatte spähen sehen. Er wußte nicht, ob dieser Mann überhaupt den Kopf des jungen Amerikaners unter Mr. Herberts Leiche gesehen hatte. Aber plötzlich hörte er ein Taumeln und Stolpern im Gebüsch, ein wildes Hasten wie von einer Fledermaus, die in verzweifelter Suche nach einem Ausweg gegen die Wände eines Raumes flatterte. Jemand rannte mit unartikulierten Schreien den Hexenwinkel hinunter.
Das feine Dämmerlicht der Pantomime zerriß. Weit oben, auf dem Balkon des Gouverneurszimmers, strahlte ein helles Licht auf. Es schnitt in die Dunkelheit zwischen den Bäumen, dann dröhnte eine Stimme vom Balkon:
»Da läuft er. Schnappt ihn euch!«
Das Licht wirbelte herum und malte grüne und schwarze Flecken zwischen die Bäume. Äste knackten, Füße patschten über sumpfigen Boden. Budges Denken war in diesen Sekunden so elementar einfach wie das eines Tieres. Der einzige deutliche Gedanke, der sein Gehirn erreichte, war, daß dort vorne der Schuldige durchs Gebüsch davonrannte. Verschwommen nur nahm er noch wahr, daß verschiedene Lampen dem Fliehenden ihren Strahl hinterherschickten. Plötzlich hoben sich ein Kopf und Schultern gegen das Mondlicht ab. Dann sah Budge, daß der Laufende einen schlüpfrigen Hang hinunterrutschte und geradewegs auf ihn zurannte.
Budge - fettleibig und schon über fünfzig - spürte, wie das Fleisch seines umfangreichen Körpers zitterte. Weder war er jetzt Budge der Draufgänger, noch Budge der Butler, sondern nur ein entnervter Mann, der sich an einen Baumstamm lehnte. Jetzt, da das Mondlicht herabfiel wie glänzende Regentropfen, sah er die Hand des anderen: Sie steckte in einem großen Gärtnerhandschuh und hielt den Zeigefinger am Abzugsbügel einer langläufigen Pistole.
Budge hatte Visionen aus seiner Jugendzeit. Er stand mitten auf einem großen Rugbyfeld und blickte wild um sich; aus allen Richtungen schienen Gestalten auf ihn loszustürmen. Es war ihm, als sei er nackt. Der andere Mann duckte sich.
Budge - fettleibig und schon über fünfzig - spürte einen großen Schmerz in seiner Lunge. Aber er ließ sich nicht hinter den Baum fallen. Er wußte, was er zu tun hatte, denn er war zuverlässig, hatte einen ruhigen Verstand und einen klaren Blick.
»In Ordnung«, sagte er laut, »in Ordnung!«, und hechtete nach dem anderen.
Er hörte den Knall. Es gab ein gelbliches Züngeln, wie wenn man einen schlecht funktionierenden Gasherd anzünden will. Etwas schlug ihm vor die Brust und wirbelte ihn aus dem Gleichgewicht, während seine Finger sich in den Mantel des anderen verkrallten. Er spürte, wie seine Fingernägel den Stoff aufrissen, daß seine Hüfte plötzlich vor Schwäche zur Seite knickte und daß er fiel. Es war ein Gefühl, als flöge er durch die Luft. Dann platschte sein Gesicht ins tote Laub, und er hörte undeutlich, wie sein eigener Körper dumpf auf die Erde schlug.
So fiel Budge der Engländer.