Kapitel 3

Ais er nun, am Nachmittag seines ersten Tages im Yew Cottage, in Dr. Fells Arbeitszimmer saß, war Rampole geneigt, alles für ein launisches Spiel seiner Einbildung zu halten. Dieses solide kleine Haus mit den Öllampen und der primitiven sanitären Einrichtung vermittelte ihm das Gefühl, er befinde sich auf Urlaub in irgendeiner Jagdhütte, vielleicht in den Adirondacks, als würden sie schon bald zurück nach New York fahren und eine Autotür würde zugeschlagen, um erst zu Hause wieder vom Pförtner des eigenen Appartmenthauses geöffnet zu werden.

Doch er war hier: Die umhersummenden Bienen im sonnendurchfluteten Garten, die Vogelhäuschen und die Sonnenuhr, der Geruch von altem Holz und frisch gewaschenen Vorhängen - das konnte nur England sein. Hier hatten Spiegeleier mit Speck einen Wohlgeschmack, den er nie zuvor derart zu schätzen gewußt hatte. Pfeifentabak ebenfalls. Die Landschaft hier hatte nichts Künstliches, wie sie es leicht bekommt, wenn man nur im Sommer auf dem Land lebt; vor allem erinnerte sie nicht im geringsten an das Grünzeug auf dem Dachgarten eines Penthouse.

Da war Dr. Fell, der mit einem breitrandigen weißen Hut in seinem Herrschaftsbereich umherschlenderte, der auf liebenswürdige Weise schläfrig aussah und mit größter Sorgfalt nichts tat. Und da war Mrs. Fell, eine kleine, geschäftige, stets heitere Frau, die ständig irgendwelche Gegenstände umwarf. Zwanzigmal an einem Morgen konnte man ein leichtes Poltern vernehmen, worauf sie »Wie ärgerlich!« rief und mit dem Säubern und Wischen fortfuhr bis zum nächsten Mißgeschick. Überdies hatte sie die Angewohnheit, ihren Kopf ständig irgendwo im Haus aus dem Fenster zu strecken, um eine Frage an ihren Gemahl zu richten. Wenn man sie auf der Vorderseite des Hauses vermutete, dann schnellte sie bestimmt, wie der Kuckuck aus der Uhr, aus einem der rückwärtigen Fenster, winkte Rampole freundlich zu und fragte ihren Gatten nach irgendeinem verschwundenen Gegenstand. Der blickte dann immer leicht erstaunt drein und wußte es nie. Also verschwand sie wieder, jedoch nur, um kurz darauf mit einem Kissen oder Staubtuch in der Hand in einem Seitenfenster zu erscheinen. Das Ganze wirkte auf Rampole, der es sich im Liegestuhl unter einer Linde gemütlich gemacht hatte und seine Pfeife schmauchte, wie eins jener Schweizer Barometer, bei dem die beiden rotierenden Figuren aus ihrem Chalet ständig vor- und zurücktreten, um das Wetter anzuzeigen.

Den Vormittag und einen Teil des Nachmittags widmete Dr. Fell gewöhnlich der Arbeit an seinem großen Werk über Die Trinksitten in England seit frühester Zeit, einer monumentalen Studie, in die er sechs Jahre intensivster wissenschaftlicher Forschung gesteckt hatte. Er liebte es, den Ursprüngen so eigenartiger Begriffe wie >auf den Nagel trinken<, >in die Kanne schicken<, >das Fell versaufen< und anderer kurioser Ausdrücke aus der Sprache des Bechers nachzuspüren. Selbst wenn er Rampole davon erzählte, setzte er sich leidenschaftlich mit den Abhandlungen solcher Autoren auseinander wie Tom Nash (Pierce Pennilesse, 1595) und George Gascoigne (Ein tugendhaft Tractatfür tapfere Trinker, worin vor dem tadelnswerthen Mißbrauch gewöhnlichen Zechens wie vor dem Sauffen mit vollen Zügen ernsthaftig gewarnet wird, 1576).

Der Morgen verging, die singenden Amseln auf der Wiese und das einschläfernde Sonnenlicht nahmen dem Chatterham-Gefängnis alles Unheilvolle. Doch im Laufe des Nachmittags betrat Rampole das Arbeitszimmer des Doktors, wo sein Gastgeber gerade seine Pfeife stopfte. Dr. Fell trug einen alten Jagdrock, der weiße Hut hing an einer Ecke des Kaminsimses. Vor ihm auf dem Tisch lagen Papiere, auf die er immer wieder verstohlene Blicke warf.

»Zum Tee werden wir Gäste bekommen«, sagte der Gelehrte. »Der Pfarrer kommt, außerdem der junge Martin Starberth mit seiner Schwester. Sie wohnen im Herrenhaus, wissen Sie. Der Briefträger erzählte mir, daß sie heute morgen angekommen sind. Vielleicht kommt auch Starberths Vetter, aber der ist so lustig wie ein Stockfisch. Ich nehme an, Sie wüßten gerne mehr über das Gefängnis?«

»Wenn dadurch nicht-«

»Vertrauliches ausgeplaudert wird? Oh nein. Alle wissen davon. Ich bin selber ziemlich neugierig, den jungen Martin wiederzusehen. Er war zwei Jahre lang in Amerika, seine Schwester hat das Herrenhaus seit dem Tod ihres Vaters verwaltet. Ein großartiges Mädchen übrigens. Der alte Timothy starb auf wirklich seltsame Weise.«

»Genickbruch?« forschte Rampole, als der andere zögerte.

Dr. Fell grunzte. »Wenn er sich nicht den Hals gebrochen hat, dann jedenfalls den größten Teil der restlichen Anatomie. Der Mann war völlig zerschmettert. Kurz nach Sonnenuntergang war er ausgeritten, und sein Pferd hatte ihn offensichtlich abgeworfen, als er den Galgenhügel in der Nähe des Hexenwinkels herunterritt. Man hat ihn am späten Abend im Unterholz gefunden. Sein Pferd stand in der Nähe und wieherte wie zu Tode erschrocken. Der alte Jenkins, einer seiner Pächter, entdeckte ihn. Er meinte später, daß die Laute, die das Pferd von sich gab, das Schlimmste waren, was er je gehört hätte. Timothy starb am nächsten Tag, aber bis zu seinem Ende war er vollständig bei Bewußtsein.«

Bereits einige Male während seines Aufenthaltes hatte Rampole den Verdacht gehabt, sein Gastgeber könnte sich möglicherweise über ihn, den ahnungslosen Amerikaner, lustig machen. Doch nun wußte er es besser. Dr. Fell bemühte diese alten, grausigen Geschichten nur, weil ihn etwas beunruhigte. Er redete, um sich zu erleichtern. Hinter dem Zusammenkneifen seiner Augen und dem unruhigen Herumwälzen im Stuhl steckten Zweifel, ein Verdacht, vielleicht sogar Furcht. Sein asthmatisches Keuchen klang laut in dem stillen Raum, in den die Nachmittagssonne dämmrige Schatten warf.

Rampole sagte: »Ich vermute, daß dadurch der alte Aberglaube wieder auflebte.«

»Stimmt genau. Aber wissen Sie, es hat in dieser Gegend immer allen möglichen Aberglauben gegeben. Nein, die Sache deutete auf etwas viel Schlimmeres hin.«

»Sie meinen - «

»Mord«, sagte Dr. Fell.

Er beugte sich vor. Seine Augen hinter den Gläsern hatten sich geweitet, und das rötliche Gesicht nahm einen starren Ausdruck an. Er begann, sehr schnell zu reden.

»Passen Sie auf! Ich will ja nichts sagen, vielleicht ist alles nur Einbildung und geht mich nichts an. Hm. Aber Dr. Markley, der gerichtliche Leichenbeschauer, meinte, daß er einen Schlag auf die Schädelbasis abgekriegt hätte, der von dem Sturz herrühren könnte, aber vielleicht auch nicht. Das Aussehen der Leiche wies, so schien es mir jedenfalls, weniger auf einen Sturz hin; eher war es, als hätte jemand auf ihm herumgetrampelt, und damit meine ich nicht das Pferd. Und außerdem: Es war ein feuchter Oktoberabend, und er lag auf sumpfigem Boden. Aber das scheint nicht die Tatsache zu erklären, daß er völlig durchnäßt war.«

Rampole blickte seinen Gastgeber reglos an. Er merkte, daß er sich an die Armlehnen des Sessels klammerte.

»Aber Sie sagten doch, er sei bei vollem Bewußtsein gestorben, Sir. Hat er denn nicht gesprochen?«

»Ich war natürlich nicht dabei. Ich habe die Geschichte vom Pfarrer und von Payne. Sie erinnern sich doch an Payne? Ja, er hat gesprochen, er schien sogar in einer Art dämonischer Hochstimmung gewesen zu sein. Bei Tagesanbruch wußte man, daß er im Sterben lag. Nach Dr. Markleys Bericht hatte er bis dahin auf einem Brett geschrieben, das man ihm über das Bett gelegt hatte. Sie versuchten, ihn davon abzuhalten, doch er zeigte ihnen die Zähne. > Anweisungen für meinen Sohn<, soll er geknurrt haben -Martin war ja, wie gesagt, zu der Zeit in Amerika. >Die Bewährungsprobe muß er auf sich nehmen, oder etwa nicht?<«

Dr. Fell hielt inne, um seine Pfeife anzuzünden. Er sog die Flamme heftig in den Pfeifenkopf, als könne er sich auf diese Weise eine klarere Sicht verschaffen.

»Man zögerte, Mr. Saunders, den Pfarrer, zu verständigen, denn Timothy war ein alter Sünder und wütender Kirchenhasser. Trotzdem hatte er immer gesagt, Saunders sei ein Ehrenmann, auch wenn er nicht mit ihm übereinstimmen könne, und so holt man also den Pfarrer bei Sonnenaufgang herbei, um zu sehen, ob der alte Mann vielleicht doch einige Sterbegebete haben will. Er geht hinein, um mit dem alten Timothy allein zu sprechen. Nach einer Weile kommt er wieder raus und wischt sich den Schweiß von der Stirn. >Mein Gott<, ruft der Pfarrer, als ob er betet, >der Mann ist nicht mehr bei Verstand. Jemand muß mit hereinkommenA >Geht es um die letzte Beichte?< fragt Timothys Neffe verstört. >Ja, ja<, meint der Pfarrer, >aber das ist es nicht. Es ist die Art, wie er redet. < >Was hat er gesagt? < will der Neffe wissen. >Das darf ich Ihnen nicht sagen<, antwortet der Pfarrer, >aber ich wünsche, ich könnte es.<

Im Schlafzimmer hört man Timothy vergnügt krächzen, obwohl er sich doch wegen der Schienen kaum noch bewegen kann. Als nächstes ruft er Dorothy allein zu sich herein; danach seinen Anwalt Payne. Payne ist es auch, der schließlich die Nachricht bringt, es ginge mit ihm zu Ende. Während also draußen der Tag beginnt, betritt man gemeinsam den eichengetäfelten Raum mit dem Himmelbett. Timothy kann kaum noch reden, aber er sagt noch ein deutlich vernehmbares Wort: >Taschentuch< - und scheint dabei zu grinsen. Während die anderen sich niederknieen, spricht der Pfarrer die Gebete; als Saunders eben das Zeichen des Kreuzes macht, dringt etwas Schaum aus Timothys Mund, er zuckt noch einmal und stirbt.«

Während einer langen Stille konnte Rampole draußen die Amseln singen hören. Die sinkende Sonne stand tief in den Zweigen der Eiben.

»Wirklich ungewöhnlich«, pflichtete der Amerikaner schließlich bei. »Aber wenn er nichts gesagt hat, dann liegen doch schwerlich genug Gründe für einen Mordverdacht vor.«

»Meinen Sie?« sagte Dr. Fell nachdenklich. »Nun, vielleicht... In derselben Nacht - des Tages, an dem er starb, meine ich -, in derselben Nacht war im Fenster des Gouverneurszimmers ein Licht zu sehen.«

»Hat jemand nachgeforscht?«

»Nein. Für kein Geld der Welt bekäme man einen der Dorfbewohner nach Einbruch der Dunkelheit auch nur in die Nähe des Gefängnisses.«

»Na gut, Einbildung, Aberglaube.«

»Nein, keine Einbildung, kein Aberglaube«, versicherte der Doktor und schüttelte den Kopf. »Das denke ich nicht. Ich habe das Licht selbst gesehen.«

Zögernd fragte Rampole: »Und heute nacht muß dieser Martin Starberth also eine Stunde im Gouverneurszimmer verbringen. ..«

»Ja. Wenn er sich nicht davor drückt. Er war schon immer ein nervöser Bursche, ein Träumer, und die Sache mit dem Gefängnis kam ihm immer etwas heikel vor. Das letzte Mal war er vor ungefähr einem Jahr in Chatterham, als er zur Eröffnung von Timothys Testament nach Hause kam. Eine der testamentarischen Bestimmungen für den Erben war natürlich, daß er die übliche >Bewährungsprobe< zu bestehen hätte. Dann vertraute er das Herrenhaus seiner Schwester und seinem Vetter Herbert an und kehrte wieder nach Amerika zurück. Auch jetzt hält er sich in England nur für die Zeit der - Festlichkeiten auf.«

Rampole schüttelte den Kopf.

»Sie haben mir jetzt eine ganze Menge erzählt«, sagte er, »nur nicht den Ursprung des Ganzen. Ich verstehe den Sinn dieser Tradition nicht.«

Dr. Fell nahm seinen Zwicker ab und setzte sich eine Lesebrille auf, die ihm das Aussehen einer Eule verlieh. Einen Moment lang beugte er sich, die Hände an den Schläfen, über die Papiere auf seinem Schreibtisch.

»Ich habe hier Abschriften des offiziellen Journals, das Anthony Starberth, Esquire, Gouverneur des Chatterham-Gefängnisses von 1797 bis 1820, und Martin Starberth, Esquire, Gouverneur von 1821 bis 1837, täglich wie eine Art Logbuch geführt haben. Die Originale werden im Herrenhaus aufbewahrt, aber der alte Timothy erlaubte mir damals, sie abzuschreiben. Eines Tages sollten sie mal in Buchform veröffentlich werden, als Streiflicht auf die Bestrafungsmethoden jener Zeit.« Er verharrte eine Weile mit gesenktem Kopf, sog stetig an seiner Pfeife und starrte nachdenklich auf sein Tintenfaß. »Wissen Sie, in jenen Zeiten, im Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts, gab es nur wenige Zuchthäuser in Europa. Kriminelle wurden entweder sofort gehenkt oder gebrandmarkt, verstümmelt und dann laufengelassen, oder sie wurden in die Kolonien deportiert. Es gab zwar Ausnahmen, zum Beispiel für säumige Zahler, doch in der Regel wurde kein Unterschied gemacht zwischen Leuten, die bereits verurteilt waren, und denen, die noch auf ein Gerichtsverfahren warteten. Das tückische System warf alle in einen Kerker.

Dann begann ein Mann namens John Howard eine Kampagne zur Einführung von Zuchthäusern. Mit dem Bau des Chatterham-Gefängnisses wurde sogar noch vor dem in Milbank begonnen, welches gewöhnlich als das älteste gilt. Es wurde errichtet von den Sträflingen, die es beherbergen sollte; mit Steinen, die auf dem Land der Starberths gebrochen wurden; bewacht von den Musketen einer Truppe Rotröcke, die Georg III. extra zu diesem Zweck abkommandiert hatte. Die neunschwänzige Katze fand großzügige Anwendung, Arbeitsverweigerer wurden an den Daumen aufgehängt oder auf andere Weise gefoltert. - Sie sehen, an jedem Stein klebt Blut.«

Dr. Fell machte eine Pause, und Rampole fielen unwillkürlich jene alten Worte ein, die er laut wiederholte: »Und ward ein großes Geschrei in Ägypten...«

»Ja, groß und bitter. Das Amt des Gouverneurs wurde natürlich Anthony Starberth übertragen. Seine Familie war damals schon lange in derartigen Angelegenheiten tätig. Anthonys Vater war, glaube ich, Stellvertreter des Sheriffs von Lincoln. Es wird überliefert«, sagte Dr. Fell und zog mit kräftigem Schnauben die Nase hoch, »daß Anthony an jedem Tag, den die Bauarbeiten dauerten, ob hell oder dunkel, bei Sonne oder Hagel, auf einer buntgescheckten Stute herausgeritten kam, um die Arbeiten zu überwachen. Und die Gefangenen lernten ihn kennen - und hassen. Deutlich sahen sie ihn auf seinem Pferd thronen, mit seinem Dreispitz und einem blauen Wollumhang vor dem weiten Himmel und dem schwarzen Hintergrund des Moores.

Anthony hatte in einem Duell ein Auge verloren. Er war ein ziemlicher Dandy, dabei sehr geizig, außer, wenn es um seine eigene Person ging. Er war kleinlich und grausam, schrieb jede Menge schlechte Gedichte und haßte seine Familie, weil sie darüber spottete. Ich glaube, er sagte immer, sie würden nochmal dafür bezahlen müssen, daß sie sich über seine Gedichte lustig machten.

Das Gefängnis wurde 1797 vollendet, und Anthony zog ein. Er war es, der die Regel einführte, daß der älteste Sohn nachzusehen habe, was von ihm im Tresor des Gouverneurszimmers hinterlegt worden war. Unter seiner Leitung war das Gefängnis, das muß ich wohl nicht extra betonen, die Hölle selbst. Ganz bewußt mäßige ich meinen Bericht. Dieses eine Auge und sein Grinsen. .. Es war gut«, sagte Dr. Fell und legte seine Hand auf die Papiere, als wollte er das Geschriebene fortwischen, »es war gut, mein Junge, daß er rechtzeitig alles für den Fall seines Todes arrangiert hatte.«

»Was ist ihm denn passiert?«

»Gideon!« rief eine vorwurfsvolle Stimme, gefolgt von einer Klopf-salve gegen die Tür des Arbeitszimmers, die Rampole aufspringen ließ. »Gideon! Tee!«

»Hä?« Dr. Fell hob den Kopf und glotzte verständnislos.

Mrs. Fell beklagte sich. »Der Tee, Gideon! Und ich wünschte, du könntest dieses schreckliche Bier sein lassen - obwohl die Butterplätzchen, weiß Gott, schlecht genug sind. Und dann diese stickige Luft da drin, außerdem sehe ich den Pfarrer und Miss Starberth schon den Weg heraufkommen.« Ein tiefes Atemholen war zu hören, worauf Mrs. Fell noch einmal zusammenfaßte: »Tee!«

Mit einem Seufzer erhob sich der Doktor. Sie hörten, wie Mrs. Fell den Korridor hinuntereilte und murmelte: »Nichts als Ärger, Ärger, Ärger«, - wie der defekte Anlasser eines Autos.

»Wir heben uns das für später auf«, sagte Dr. Fell.

Dorothy Starberth kam den Weg hoch. Mit leichtem Schritt ging sie an der Seite eines mächtigen, kahlköpfigen Mannes, der sich mit seinem Hut Luft zufächelte. Einen Augenblick lang verspürte Rampole einen Anfall von Schwäche. - Nur ruhig! Benimm dich jetzt bloß nicht wie ein Dreijähriger. Er hörte ihre helle, spöttische Stimme. Sie trug einen gelben Pullover mit hohem Kragen und ein braunes Kostüm, die Hände steckten in den Jackentaschen. Die Sonne schimmerte auf ihrem vollen schwarzen Haar, das sie achtlos nach hinten gestrichen hatte. Wenn sie sich zur Seite drehte, war ihr Profil zu sehen, das so klar geschnitten war wie eine Vogelschwinge. Sie kamen jetzt über den Rasen, ihre dunkelblauen Augen fixierten ihn unter langen Wimpern. »Ich glaube, Sie kennen Miss Starberth«, sagte Dr. Fell. »Mr. Saunders, dies ist Mr. Rampole aus Amerika. Er ist zu Besuch bei uns.«

Mit der ganzen Kraft zupackenden Christentums drückte der Glatzkopf Rampoles Hand. Mr. Thomas Saunders lächelte professionell, und seine glattrasierten Kinnbacken glänzten. Er war einer jener Geistlichen, die die Leute mit der Bemerkung loben, sie wirkten so ganz und gar nicht wie ein Geistlicher. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, doch die blassen blauen Augen blickten wachsam wie die eines Pfadfinderführers. Mr. Saunders war vierzig Jahre alt, sah aber wesentlich jünger aus. Man spürte, daß er seinem Glauben mit der gleichen Zuversicht und Selbstverständlichkeit diente, mit der er schon Eton (oder Harrow oder Winchester oder wem auch immer) auf dem Sportplatz gedient hatte. Rund um seinen rosigen Schädel flockte ein Kranz blonder Haare wie eine Tonsur, und er trug eine enorme Uhrkette.

»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir«, dröhnte der Pfarrer herzlich. »Ich - äh - hatte die Freude, während des Krieges eine Reihe Ihrer Landsleute kennenzulernen. Vettern von Übersee, wissen Sie, unsere Vettern von Übersee!«

Er lachte leicht und professionell. Diese Mischung aus berufsmäßiger Glätte und Gewandtheit irritierte den Amerikaner. Er murmelte irgend etwas und wandte sich Dorothy Starberth zu.

»Wie geht's Ihnen?« fragte sie und reichte ihm ihre kühle Hand.

»Famos, Sie wiederzusehen. Was machen unsere gemeinsamen Freunde, die Harrises?«

Rampole wollte schon fragen: »Wer?«, als er ihren erwartungsvoll unschuldigen Blick und das aufmunternde angedeutete Lächeln auffing.

»Oh, die Harrises«, sagte er. »Hervorragend, danke sehr, es geht ihnen hervorragend.« Und in einem überraschenden Geistesblitz fügte er hinzu: »Muriel kriegt gerade den ersten Zahn.«

Da niemand von dieser Nachricht beeindruckt zu sein schien und er doch ein wenig unsicher war, ob sie authentisch genug geklungen hatte, wollte er gerade weitere intime Details über die Familie Harris verraten, als Mrs. Fell plötzlich in einem ihrer kuckucksähnlichen Auftritte aus der Haustür geschossen kam und alle mit Beschlag belegte. Sie murmelte eine Reihe kaum zu verstehender Bemerkungen, die sich hauptsächlich auf Bier, Butterkekse und die liebenswürdige Zuvorkommenheit des Pfarrers zu beziehen schienen. Ob er sich denn gut von der gräßlichen Dusche durch den schrecklichen Rasensprenger erholt und ob er sich auch ganz sicher keine Lungenentzündung geholt hätte. Mr. Saunders hüstelte versuchsweise und verneinte letzteres.

»Du meine Güte... wie ärgerlich«, sagte Mrs. Fell, die in die Rabatten getreten war. »So kurzsichtig, blind wie eine Fledermaus. .. Oh, meine Liebe«, sie wirbelte zu dem Mädchen herum, »wo ist denn Ihr Bruder? Sie sagten doch, er würde mitkommen.«

Sekundenlang legte sich wieder jener Schatten über Dorothy Starberths Gesicht, den Rampole dort schon am vergangenen Abend gesehen hatte. Sie zögerte, griff mit einer Hand nach ihrer Manschette, als wollte sie auf die Uhr sehen, zog sie aber sogleich wieder zurück.

»Oh, er kommt noch«, sagte sie. »Er ist im Dorf, kauft noch ein paar Sachen ein. Sicher kommt er gleich.«

Der Teetisch war im Garten hinter dem Haus gedeckt. Eine mächtige Linde beschattete ihn, und ein paar Meter weiter plätscherte ein Bach. Rampole und das Mädchen blieben ein Stück hinter den anderen zurück. »Die kleine Hedwig«, sagte Rampole, »liegt mit Mumps darnieder - «

»Mit den Blattern! Oh, Sie Biest. Ich dachte, Sie wollten mich verraten. In einem kleinem Dorf wie diesem... Woher wußten die, daß wir uns schon kennen?«

»So ein alter Esel von Anwalt hat uns auf dem Bahnsteig miteinander reden sehen. Und ich dachte schon, Sie wollten mich verraten.«

Auf diese außerordentliche Übereinstimmung hin mußten sie sich anblicken, und er sah, daß ihre Augen wieder leuchteten. Er war in Hochstimmung, doch zugleich verlegen. »Ha!« sagte er, beinahe wie Dr. Fell. Beide lachten. Im Gras tanzten Schattenflecken. Mit gedämpfter Stimme fuhr sie fort:

»Ich weiß nicht, wie ich's Ihnen erklären soll, aber ich war so verzweifelt gestern abend wegen diesem und jenem. Und London ist so riesig, und alles ging schief. Ich wollte so gerne mit jemandem reden. Und dann stießen Sie mit mir zusammen und sahen nett aus, also hab' ich es einfach getan.«

Rampole wurde von dem Verlangen gepackt, jemandem einen freudigen Knuff zu versetzen. In seiner Phantasie schlug er Purzelbäume. Seine Brust schwoll vor Glück.

Er sagte, nicht gerade geistreich, aber - Sei aufrichtig, kritischer Leser! - höchst natürlich:

»Ich bin froh, daß Sie es getan haben.«

»Ich auch.«

»Froh?«

»Froh.«

»Ha!« machte Rampole und stieß triumphierend die Luft aus.

Von vorne hörten sie Mrs. Fells dünne Stimme. » - Azaleen, Petunien, Geranien, Pappelrosen, Geißblatt und Heckenröschen!« schallte es, als riefe sie Züge aus. »Ich kann sie nicht erkennen, weil ich so kurzsichtig bin. Aber ich weiß, sie sind da.« Mit strahlendem, wenn auch etwas vagem Lächeln packte sie die Neuankömmlinge und nötigte sie auf die Stühle. »Oh Gideon, Schatz, du holst dir doch nicht schon wieder so ein gräßliches Bier, nicht wahr?«

Aber Dr. Fell hatte sich bereits zum Bach hinuntergebeugt. Geschäftig schnaufend förderte er eine Reihe tropfender Flaschen zu Tage und richtete sich mit einem Stock wieder auf.

»Wissen Sie, Mr. Rampole«, sagte der Pfarrer mit einem Ton gemütlicher Duldsamkeit, »manchmal glaube ich« - er fuhr fort, als wollte er eine schreckliche Anklage vom Stapel lassen, zu der er jedoch, um sie abzuschwächen, verschmitzt lächelte - »manchmal glaube ich, der gute Doktor ist überhaupt kein Engländer. Diese barbarische Angewohnheit, zur Teezeit Bier zu trinken -nein, Sir, das ist einfach nicht englisch!«

Dr. Fell machte ein grimmiges Gesicht.

»Sir«, sagte er, »lassen Sie sich von mir darüber aufklären, daß es der Tee ist, der nicht englisch ist. Werfen Sie einen Blick in den Anhang meines Buches, Anmerkung 86 zu Kapitel 9, das ich solchen Dingen gewidmet habe wie Tee, Kakao oder diesem unsagbar scheußlichen Getränk, das als Eiscreme-Soda bekannt ist. Der Tee, so können Sie dort lesen, kam erst 1666 aus Holland nach England. Aus Holland - vom erbittertsten Feind; und in Holland nannte man den Tee verächtlich >Heuwasser<. Selbst die Franzosen konnten ihn nicht ausstehen, Patin nennt den Tee l'impertinente nouveauté du siècle und Dr. Duncan schreibt in seiner Abhandlung von den warmen Getränken - «

»Und das vor dem Pfarrer!« klagte Mrs. Fell.

»Äh?« meinte der Doktor und hatte das unbestimmte Gefühl, sie glaube vielleicht, er habe geflucht. »Wie bitte, Liebes?«

»Bier«, sagte Mrs. Fell.

»Zum Teufel«, rief der Doktor leidenschaftlich. »Entschuldigung, ich bitte vielmals um Entschuldigung.« Er wandte sich an Rampole.

»Trinken Sie ein Bier mit mir, mein Junge?«

»Warum nicht?« antwortete dieser dankbar. »Sehr gern.«

»Es kommt aber direkt aus dem kalten Wasser, und ihr holt euch wahrscheinlich beide eine Lungenentzündung«, meinte Mrs. Fell düster. Lungenentzündung schien ihre fixe Idee zu sein. »Wohin das führen soll, weiß ich nicht... Noch etwas Tee, Mr. Saunders? Und da neben Ihnen stehen die Plätzchen... Wo jetzt sowieso jeder eine Lungenentzündung kriegt; auch dieser arme junge Mann, der heute nacht in diesem zugigen Gouverneurszimmer sitzen muß, holt sich da bestimmt eine Lungen - «

Abrupte Stille. Dann begann Saunders sehr geschmeidig und ungezwungen von Blumen zu reden; dabei wies er auf ein Beet mit Geranien. Er schien durch Änderung ihrer Blickrichtung auch ihre Gedanken ablenken zu wollen.

Dr. Fell beteiligte sich an dem Gespräch und funkelte seine Ehefrau an. Ihr war nicht bewußt, daß sie verbotenes Terrain betreten hatte. Doch über die Gesellschaft unter der Linde hatte sich eine Befangenheit gelegt, die nicht mehr weichen wollte.

Ein sanfter, rosiger Widerschein kroch durch den Garten, obwohl es noch einige Stunden hell sein würde. Durch die Zweige des Baumes leuchtete warm und klar der westliche Himmel. Alle schwiegen, selbst Mrs. Fell, und starrten auf das Teeservice. Ein Korbsessel knarrte. In der Ferne hörte man das Klingen und Bimmeln von Glocken. Rampole sah, wie die auf einer weiten Wiese etwas verloren wirkenden Kühe durch die geheimnisschwere Abenddämmerung nach Hause getrieben wurden. Ein dunkles Summen lag in der Luft.

Unvermittelt erhob sich Dorothy Starberth.

»Wie dumm von mir!« sagte sie. »Beinahe hätte ich's völlig vergessen. Ich muß noch ins Dorf und Zigaretten besorgen, bevor der Tabakladen schließt.« Sie lächelte mit betonter Zwanglosigkeit, die aber niemanden täuschen konnte. Ihr Lächeln glich einer Maske. Mit ausgesuchter Sorglosigkeit blickte sie auf ihre Armbanduhr. »Es war herrlich bei Ihnen, Mrs. Fell. Sie müssen bald einmal zu uns kommen. Was meinen Sie«, wandte sie sich, wie einer plötzlichen Eingebung folgend, an Rampole, »würden Sie mich wohl ein wenig begleiten? Sie haben unser Dorf doch noch nicht gesehen, oder? Wir haben eine recht hübsche frühgotische Kirche hier, wie unser Mr. Saunders Ihnen gern bestätigen wird.«

»Allerdings.« Der Pfarrer zögerte, blickte sie recht väterlich an und winkte mit der Hand. »Gehen Sie nur. Ich nehme noch eine Tasse Tee, wenn Mrs. Fell nichts dagegen hat. Es ist so gemütlich hier«, strahlte er seine Gastgeberin an, »man muß sich fast schämen, so zu faulenzen.«

Voller Selbstzufriedenheit lehnte er sich zurück, wie jemand, der murmelt: >Ach, ich war ja auch einmal jung<. Doch Rampole hatte den Eindruck, daß der Pfarrer ganz und gar nicht erbaut war. Plötzlich durchzuckte den Amerikaner der Gedanke, dieser gönnerhafte alte Glatzkopf (sic! so Rampoles erregte Gedanken) könnte mehr als nur seelsorgerisches Interesse an Dorothy Star-berth haben. Zum Teufel mit dem Kerl! Jetzt fiel ihm auch wieder ein, wie einschmeichelnd er sich über ihre Schulter gebeugt hatte, als sie zusammen den Weg heraufgekommen waren.

»Ich mußte da weg«, sagte das Mädchen halb atemlos. Ihre eiligen Schritte raschelten im Gras. »Ich wollte laufen, möglichst schnell.«

»Ich weiß.«

»Wenn man geht«, erklärte sie mit derselben atemlosen Stimme, »fühlt man sich frei. Man hat dann nicht mehr das Gefühl, die Dinge wie ein Jongleur in der Schwebe halten zu müssen, sich halb zu verrenken, um nur ja nichts fallen zu lassen... Oh!«

Gras dämpfte ihre Schritte auf dem schattigen Weg. Die Einmündung des Weges in die Straße war von Hecken verdeckt, doch sie hörten schlurfende Schritte dort draußen und Bruchstücke eines Gesprächs. Plötzlich wurde eine Stimme laut, schwang scharf und gemein durch die sanfte Luft.

»Du kennst das Wort dafür sehr gut«, sagte die Stimme. »Das Wort ist Galgen. Jawohl, und du weißt das ebenso gut wie ich.«

Die Stimme lachte. Dorothy Starberth hielt inne, ihr vor dem dunklen Hintergrund der grünen Hecke scharf geschnittenes Gesicht war voller Angst.

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