Kapitel 7

Sir Benjamin Arnold, der Chief Constable, saß hinter dem Schreibtisch in Dr. Fells Arbeitszimmer, die knochigen Hände wie ein Schulmeister gefaltet. Trotz der tiefen Bräune seines Pferdegesichtes sah er tatsächlich ein wenig wie ein Schulmeister aus. Sein volles weißes Haar hatte er straff zurückgekämmt, die Augen blickten scharf hinter dem Kneifer hervor.

» - dachte ich, es wäre das Beste«, sagte er gerade, »die Sache persönlich zu übernehmen. Eigentlich sollte ein Inspektor aus Lincoln herübergeschickt werden. Aber ich kenne die Starberths und besonders Dr. Fell schon so lange, daß ich dachte, es sei besser, wenn ich selber komme und die Leitung des Falles übernehme. Auf diese Weise können wir vielleicht einen Skandal oder etwas Derartiges vermeiden. Einiges wird natürlich bei der amtlichen Leichenschau publik werden.«

Er zögerte und räusperte sich.

»Ihnen, Doktor, und Ihnen, Mr. Saunders, ist ja bekannt, daß ich bisher noch niemals Gelegenheit hatte, einen Mordfall zu bearbeiten. Ich bin fast sicher, daß ich bald mit meinem Latein am Ende sein werde. Wenn alles schiefgeht, müssen wir eben Scotland Yard einschalten. Doch solange wir noch unter uns sind, können wir die Sache vielleicht in Ordnung bringen.«

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und es war ein klarer, warmer Morgen. Im Arbeitszimmer war es trotzdem nicht sehr hell. Während einer langen Stille hörten sie draußen im Flur einen Polizisten auf und ab gehen. Saunders nickte schwerfällig. Dr. Fell gab sich finster und mürrisch. Rampole war noch zu müde und benommen, um wirklich aufmerksam zu sein.

»Sie-äh-sagten >Mordfall<, Sir Benjamin?« fragte der Pfarrer interessiert.

»Natürlich ist mir die Familienlegende der Starberths bekannt«, antwortete der Chief Constable und nickte. »Ich muß gestehen, daß ich dazu meine eigene Theorie habe. Vielleicht hätte ich nicht von >Mordfall< im eigentlichen Sinn sprechen sollen. Ein Unfall kann ausgeschlossen werden. Doch darauf komme ich gleich noch... Nun, Doktor.«

Er richtete sich auf und preßte die Lippen aufeinander. Dann verschränkte er seine Finger und bewegte sich in seinem Stuhl wie ein Dozent, der mit der Behandlung eines wichtigen Themas beginnen will.

»Nun, Doktor. Sie haben bereits alles erzählt bis zu dem Zeitpunkt, als das Licht im Gouverneurszimmer erlosch. Was geschah, als Sie hinüberliefen, um nachzusehen?«

Schlecht gelaunt pochte Dr. Fell mit einem Stock an den Rand des Schreibtisches. Er kaute an seinem Schnurrbart herum.

»Ich bin nicht gelaufen. Danke für das Kompliment, aber so beweglich wie die zwei da bin ich nicht. Hm, nein. Am besten lassen Sie die erzählen.«

»Natürlich... Mr. Rampole, ich glaube, Sie entdeckten die Leiche?«

Die knappe, offizielle Vorgehensweise dieses Mannes machte Rampole nervös. Er konnte nicht mehr ungezwungen reden und hatte das Gefühl, daß alles, was er sagte, gegen ihn verwendet werden konnte. Justiz! - das war eine gewaltige, zermürbende Sache. Er fühlte sich schuldig, ohne zu wissen, warum.

»Das habe ich.«

»Dann sagen Sie mir doch bitte: Wie sind Sie darauf gekommen, direkt zum Brunnen zu laufen, anstatt zum Tor und dann hinauf ins Gouverneurszimmer? Hatten Sie Ursache zu vermuten, was geschehen war?«

»Ich - ich weiß es nicht. Ich habe schon den ganzen Tag versucht, das herauszufinden. Es ging einfach automatisch. Ich hatte dieses Tagebuch gelesen - die Geschichte von der Legende und all das, deshalb...« Er machte eine hilflose Geste.

»Verstehe. Was taten Sie dann?«

»Ich war so aus der Fassung, daß ich zurücktaumelte gegen den Felsen und dort sitzen blieb. Dann wurde mir allmählich klar, wo ich mich befand, und ich rief Mr. Saunders.«

»Und Sie, Mr. Saunders?«

»Was mich angeht, Sir Benjamin«, sagte der Pfarrer und legte volles Gewicht auf den Titel, »ich war schon fast am Eingang des Gefängnisses, als ich - äh - Mr. Rampoles Rufen hörte. Ich hatte es etwas merkwürdig gefunden, daß er direkt zum Hexenwinkel wollte, und versuchte noch, ihm Zeichen zu geben. Aber es war kaum Zeit - äh - zum Überlegen.« Er legte die Stirn in nachdenkliche Falten.

»Natürlich. Als Sie über die Leiche stolperten, Mr. Rampole, lag diese neben dem Brunnen, direkt unterhalb des Balkons?«

»Ja.«

»Wie lag sie? Auf dem Rücken oder auf dem Gesicht?«

Rampole überlegte mit geschlossenen Augen. Ihm fiel nichts anderes ein, als daß das Gesicht so naß gewesen war. »Auf der Seite, glaube ich. Ja, ich bin mir sicher.«

»Linke oder rechte?«

»Ich weiß nicht... Warten Sie. Ja, doch. Es war die rechte.«

Unerwartet lehnte sich Dr. Fell vor und klopfte mit dem Stock an den Tisch. »Sind Sie sicher?« wollte er wissen. »Sind Sie sich dessen wirklich sicher, mein Junge? Versuchen Sie sich zu erinnern, man kann sich so leicht täuschen.«

Der andere nickte. Doch, ja: den Nacken des Toten fühlen, sich darüber beugen, spüren, daß er voll auf die rechte Schulter geknallt war... Er nickte heftig, um das Bild zu vertreiben. »Es war die rechte Seite«, antwortete er. »Ich kann es ganz sicher beschwören.«

»Das stimmt genau, Sir Benjamin«, bestätigte der Pfarrer und legte seine Fingerspitzen aneinander.

»Sehr gut. Was taten Sie als nächstes, Mr. Rampole?«

»Nun, Mr. Saunders kam herbei, und wir waren uns nicht sicher, was zu tun sei. Wir hatten nur den einen Gedanken, ihn aus der Nässe wegzukriegen. Deshalb planten wir zunächst, ihn hier zum Yew Cottage herüberzuschaffen, wollten aber Mrs. Fell nicht erschrecken und trugen ihn deshalb einfach hinauf in einen Raum im Gefängnis. Ach ja, und wir fanden die Radlampe, die er zum Leuchten benutzt hatte. Ich versuchte noch, sie zu reparieren, aber sie war völlig zerstört.«

»Wo befand sich die Lampe? In seiner Hand?«

»Nein. Sie lag ein Stück weit entfernt. Es sah aus, als wäre sie vom Balkon geworfen worden. Ich meine, sie lag zu weit weg, als daß er sie hätte festgehalten haben können.«

Der Chief Constable trommelte mit seinen Fingern auf den Tisch. Eine Spirale von Falten legte sich um seinen Hals, als er sich zur Seite wandte und Rampole anstarrte.

»Dieser Punkt«, sagte er, »könnte von höchster Wichtigkeit sein für die Entscheidung des Untersuchungsrichters, ob hier ein Unfall, ein Selbstmord oder ein Mord vorliegt... Laut Dr. Markley war der Schädel des jungen Starberth eingeschlagen, und zwar entweder von dem Sturz oder einem festen Schlag mit etwas, das gewöhnlich >stumpfer Gegenstand< genannt wird. Sein Genick war gebrochen, und er hatte weitere Quetschungen und Prellungen infolge eines schweren Sturzes. Doch damit können wir uns später beschäftigen...

Was geschah dann, Mr. Rampole?«

»Ich blieb bei ihm, während Mr. Saunders hinunterlief, um Dr. Fell Bescheid zu sagen und dann nach Chatterham zu Dr. Markley zu fahren. Ich wartete nur, leuchtete mit Streichhölzern und - ich meine, ich wartete einfach nur.«

Er zitterte.

»Danke Ihnen. Mr. Saunders?«

»Dem ist kaum noch etwas hinzuzufügen, Sir Benjamin«, erwiderte der Pfarrer und begann, sich in Einzelheiten zu ergehen. »Ich fuhr nach Chatterham, nachdem ich Dr. Fell gebeten hatte, im Herrenhaus anzurufen und Mr. Budge, den Butler, über das Geschehene zu informieren.«

»Dieser Idiot«, erregte sich Dr. Fell. Als der Pfarrer ihn überrascht und leicht schockiert ansah, fügte er hinzu: »Budge, meine ich natürlich. In Krisensituationen ist Budge keine fünf Pence wert. Am Telefon wiederholte er alles, was ich ihm sagte, und dann hörte ich noch, wie jemand aufschrie. Anstatt die Nachricht vor Miss Starberth geheimzuhalten, bis jemand es ihr sanft beibringen konnte, wußte sie es in derselben Sekunde.«

»Wie gesagt, Sir Benjamin - natürlich haben Sie recht, Doktor, das war höchst unangemessen -, wie ich also bereits sagte«, stotterte der Pfarrer wie jemand, der es mehreren Leuten zugleich recht machen will, »ich fuhr zu Dr. Markley, hielt aber vorher kurz am Pfarrhaus, um mir einen Regenmantel zu holen. Dann kamen wir zurück und nahmen auch Dr. Fell mit zum Gefängnis. Nach einer kurzen Untersuchung meinte Dr. Markley, man könne nichts tun, als die Polizei zu benachrichtigen. Dann brachten wir den - äh - die sterbliche Hülle in meinem Wagen zum Herrenhaus.«

Er schien noch etwas sagen zu wollen, schloß jedoch plötzlich seine Lippen. Eine bedrückende Stille stand im Raum, als hätte keiner mehr die Absicht, noch etwas zu sagen. Der Chief

Constable hatte ein großes Taschenmesser geöffnet und begann, einen Bleistift zu spitzen. Das schnelle, kurze Raspeln des Messers auf dem Graphit war so laut, daß Sir Benjamin jäh aufsah.

»Sie haben die Leute im Herrenhaus befragt?« wollte er wissen.

»Das haben wir«, sagte Dr. Fell. »Sie hielt sich bewundernswert gut. Wir erhielten von beiden, Miss Starberth und Budge, einen klaren, knappen Bericht über alles, was sich gestern abend abgespielt hat. Die anderen Bediensteten haben wir nicht gestört.«

»Macht nichts. Ich höre es sowieso lieber von ihnen selbst aus erster Hand. Haben Sie mit dem jungen Herbert gesprochen?«

»Haben wir nicht«, antwortete der Doktor nach einer Pause.

»Budge zufolge hat er kurz nach dem Abendessen eine Tasche gepackt und das Herrenhaus auf seinem Motorrad verlassen. Er ist bis jetzt noch nicht zurück.«

Sir Benjamin legte Messer und Bleistift vor sich auf den Tisch. Unbeweglich saß er da und starrte die anderen an. Dann nahm er seinen Kneifer ab und begann, ihn mit einem zerknitterten Taschentuch zu polieren. Seine vorher so scharfen Augen wirkten mit einem Mal stumpf und eingesunken.

»Ihre Andeutung«, sagte er schließlich, »ist absurd.«

»Allerdings«, pflichtete der Pfarrer bei und blickte geradeaus.

»Lieber Gott, das war keine Andeutung«, polterte Dr. Fell und stieß die Metallspitze seines Stockes auf den Boden. »Sie haben gesagt, Sie wollten Tatsachen hören. Aber Sie wollen gar keine Tatsachen. Sie wollen, daß ich etwas sage wie: >Natürlich gibt es da noch den unbedeutenden Punkt, daß Herbert Starberth nach Lincoln ins Kino gefahren ist, daß er ein paar Sachen mitgenommen hat, um sie in die Reinigung zu bringen und daß er das Lichtspieltheater so spät verlassen hat, daß er zweifelsohne beschlossen hat, die Nacht über bei einem Freund zu bleiben. < Diese Andeutungen wären dann das, was Sie Tatsachen nennen. Ich jedoch berichte die reinen Fakten, und Sie bezeichnen sie als Andeutungen!«

»Du liebe Güte!« sagte der Pfarrer nachdenklich, »genau das könnte er aber gemacht haben, wissen Sie.«

»Schön«, sagte Dr. Fell, »jetzt können wir ja jedem erzählen, was er getan hat. Aber bezeichnen Sie das bitte nicht als Tatsache, das ist das Entscheidende.«

Der Chief Constable wirkte leicht gereizt.

»Er hat niemandem erzählt, daß er wegfahren wollte?«

»Nein, es sei denn, er hat es jemand anderem als Miss Starberth oder Budge gesagt.«

»Aha. Nun, ich werde mit ihnen reden. Jetzt will ich nichts mehr davon hören. Sagen Sie, es gab keine Feindseligkeiten zwischen ihm und Martin, oder?«

»Wenn es sie gab, hat er sie jedenfalls bewundernswert gut zu verbergen gewußt.«

Saunders strich über sein rundes rosiges Kinn und gab zu bedenken: »Vielleicht ist er ja bereits zurück. Wir sind doch seit gestern nacht nicht mehr drüben im Herrenhaus gewesen.«

Dr. Fell brummelte. Sir Benjamin erhob sich mit offensichtlichem Widerstreben und bohrte im Stehen mit der Messerspitze in der Schreibunterlage. Dann machte er eine seiner Schulmeistergesten und preßte erneut die Lippen fest zusammen.

»Wenn die Herren nichts dagegen haben, werfen wir jetzt einen Blick ins Gouverneurszimmer. Ich gehe davon aus, daß niemand von Ihnen letzte Nacht dort oben war? ... Gut. Dann können wir ganz unvoreingenommen beginnen.«

»Sollte mich wundern«, sagte Dr. Fell.

Etwas sagte »Oooo-o!« und sprang hastig zur Seite, als sie das Arbeitszimmer verließen. Am Ende des Flures brachte sich Mrs. Fell in Sicherheit. Dem zerstreuten Gesicht des Polizeibeamten war anzusehen, daß sie mit ihm gesprochen hatte. Der Beamte hielt mit offensichtlicher Verlegenheit einen großen Schmalzkrapfen in der Hand. »Legen Sie das weg, Withers«, schnarrte der Chief Constable, »und begleiten Sie uns. Haben Sie im Gefängnis einen Mann postiert? ... Gut. Kommen Sie.«

Sie traten hinaus auf die Straße, allen voran Sir Benjamin, mit seiner flatternden alten Sommerjacke und einem zerknautschten Hut, der ihm schief auf dem Kopf saß. Niemand sprach, bis sie die Anhöhe zum Eingangstor des Gefängnisses hinaufgestiegen waren. Das eiserne Gitter, mit dem es einmal versperrt gewesen war, hing in rostiger Trunkenheit schief in den Angeln. Rampole erinnerte sich, daß es geknarrt und gequietscht hatte, als sie Martin Starberths Leiche hineingetragen hatten. Ein dunkler Gang, kühl und voller Mücken, führte geradeaus. Aus dem Sonnenlicht hier hereinzukommen war, als betrete man ein Brunnenhaus.

»Ich bin hier zwar schon ein- oder zweimal gewesen«, sagte der Chief Constable und spähte neugierig umher, »doch ich erinnere mich nicht mehr an die Anordnung der Räume. Doktor, wollen Sie nicht vorangehen? ... Sagen Sie, der Trakt mit dem Gouverneurszimmer ist doch verschlossen, nicht wahr? Angenommen der junge Starberth hat, als er hineinging, die äußere Tür des Raumes abgeschlossen, was machen wir dann? Ich hätte die Schlüssel aus seiner Kleidung mitnehmen sollen.«

»Wenn ihn jemand vom Balkon gestoßen hat«, brummte Dr. Fell, »dann können Sie sicher sein, daß der Mörder danach wieder aus dem Gouverneurszimmer heraus mußte. Und er hat auch bestimmt keinen Sprung von fünfzehn Metern aus dem Fenster gewagt. Seien Sie sicher, wir werden die Tür offen finden.«

»Scheußlich finster hier drin«, meinte Sir Benjamin. Er reckte seinen langen Hals und wies auf eine Tür zu seiner Rechten.

»Dorthin haben Sie den jungen Starberth letzte Nacht gebracht?«

Rampole nickte, und der Chief Constable stieß die morsche Eichentür ein wenig auf, um einen Blick hineinzuwerfen.

»Nicht viel drin«, verkündete er. »Pah! Verdammte Spinnweben. Steinfußboden, vergitterte Fenster, Kamin, so weit ich erkennen kann. Nicht sonderlich viel Licht.« Er schlug nach ein paar unsichtbaren Insekten vor seinem Gesicht.

»Das war der Aufenthaltsraum der Wärter, und daneben lag das Gefängnisbüro«, führte Dr. Fell aus. »Dort war es, wo der Gouverneur seine Gäste verhörte und registrierte, bevor sie in ihre Quartiere gewiesen wurden.«

»Jedenfalls ist alles voller Ratten«, sagte Rampole so unvermittelt, daß alle zu ihm hinsahen.

Wie schon in der letzten Nacht, umgab ihn wieder der erdige Kellergeruch dieses Ortes. »Alles voller Ratten«, wiederholte er.

»Oh, äh - zweifellos«, meinte der Pfarrer . »Nun, Gentlemen?«

Sie drangen tiefer in den Gang ein. Die Wände waren schief, die Mauersteine zerbrochen und die Risse zugewachsen mit dunkelgrünem Moos. Ein schönes Typhusloch, dachte Rampole. Mittlerweile konnten sie kaum noch etwas sehen und stolperten voran, wobei sie sich gegenseitig an den Schultern festhielten.

»Wir hätten eine Taschenlampe mitnehmen sollen«, grollte Sir Benjamin. »Da vorne ist ein Hindernis - «

Etwas schlug mit dumpfem Klirren auf den moosüberzogenen Steinfußboden. Unwillkürlich zuckten sie zusammen.

»Handschellen«, sagte Dr. Fell aus dem Dunkel vor ihnen, »Fußeisen und so was. Hängen hier immer noch an den Wänden rum. Wir sind jetzt also im Zellentrakt. Halten Sie Ausschau nach der Tür.« Es war unmöglich, dachte Rampole, sich im Gewirr der Gänge zurechtzufinden, obwohl etwas Licht hereinsickerte, sobald sie die erste der inneren Türen passiert hatten. An einer Stelle stießen sie auf ein stark vergittertes Fenster, das in die anderthalb Meter dicke Mauer eingelassen war und auf einen feuchtkühlen, schattigen Innenhof führte. Der mußte einmal gepflastert gewesen sein, erstickte jetzt aber unter Brennesseln und Unkraut. An einer Seite hingen zerbrochene Zellentüren wie verfaulte Zahne heraus. Seltsamerweise stand genau in der Mitte dieses desolaten Hofes ein riesiger Apfelbaum in voller Blüte.

»Der Todestrakt«, sagte Dr. Fell.

Danach sprach keiner mehr. Sie forschten nicht mehr nach der Bedeutung bestimmter Dinge, die sie sahen, und fragten auch ihren Führer nicht danach. Kurz bevor sie das Treppenhaus zur ersten Etage erreichten, entdeckten sie im flackernden Licht der Streichhölzer die Eiserne Jungfrau, daneben die Öfen für gewisse Holzkohlefeuer. Das Gesicht der Eisernen Jungfrau zeigte ein schläfriges, sattes Lächeln, und von ihren Lippen herab schaukelten Spinnen in ihren Netzen; Fledermäuse flatterten im Raum umher, so daß sie nicht lange verweilten.

Rampole hielt die Hände fest zusammengepreßt. Am meisten störte ihn, daß ständig etwas gegen sein Gesicht strich, und er hatte das Gefühl, als ob ihm etwas den Nacken hinaufkrieche. Und man konnte die Ratten hören. Als sie schließlich vor einer großen, eisenbeschlagenen Tür haltmachten, die zu einer Galerie im ersten Stockwerk führte, wußte er, daß sie es geschafft hatten. Er hatte ein Gefühl, als könne er, nachdem er auf einem Ameisenhaufen gesessen hatte, in ein kühles, klares Wasser eintauchen.

»Ist sie offen?« fragte der Pfarrer mit irritierend lauter Stimme.

Die Tür knarrte und quietschte, als Dr. Fell sie mit Unterstützung des Chief Constable aufschob. Sie war verzogen und nur sehr schwer über den Steinboden zu schieben. Eine Staubwolke wirbelte auf.

Dann standen sie an der Schwelle des Gouverneurszimmers und sahen sich um.

»Ich würde sagen, wir sollten nicht sofort hineingehen«, murmelte Sir Benjamin nach längerem Schweigen. »Wie dem auch sei... Hat jemand von Ihnen diesen Raum früher schon einmal gesehen? ... Nein? Das hatte ich auch nicht erwartet. Hm. An der Einrichtung kann sich nicht viel geändert haben, oder?«

»Die meisten Möbel sind noch vom alten Anthony«, sagte Dr. Fell.

»Der Rest gehörte seinem Sohn Martin, der hier ebenfalls Gouverneur war, bis er im Jahre 1837 - nun, starb. Beide hinterließen Anweisung, den Raum nicht zu verändern.«

Es war ein großes Zimmer, jedoch mit ziemlich niedriger Decke. Unmittelbar gegenüber der Tür, in der sie standen, befand sich das Fenster. Diese Seite des Gefängnisses lag im Schatten, außerdem ließen die Efeuranken an der massiven Fenstervergitterung nicht sehr viel Licht hinein. Darunter standen noch Pfützen von Regenwasser auf dem unebenen Fußboden. Ungefähr sechs Fuß links vom Fenster befand sich die Balkontür. Sie war geöffnet und stand fast im rechten Winkel von der Wand ab. Lose Ranken wilden Weines, die beim Öffnen der Türe auseinandergerissen worden waren, hingen vor dem Eingang herunter, so daß von dort kaum mehr Licht hereindrang als durch das Fenster.

Offensichtlich hatte sich vor langer Zeit einmal jemand bemüht, diesem düsteren Ort einen Hauch von Gemütlichkeit zu verleihen. Die steinernen Wände waren mit Paneelen aus schwarzem Walnußholz verkleidet, das jetzt aber langsam verrottete. In der Wand zur Linken, genau zwischen einem hohen Schrank und einem Bücherregal voller großer verblaßter Kalbslederbände, war ein gemauerter Kamin eingelassen, auf dessen Sims eine Reihe leerer Kerzenhalter stand. Ein schimmeliger Ohrensessel war vor den Kamin gerückt. Dort, erinnerte sich Rampole, hatte wohl der alte Anthony mit seiner Schlafmütze vor der Glut gesessen, als er das Klopfen an der Balkontüre hörte und die geflüsterte Einladung, doch zu den Toten hinauszukommen...

In der Mitte des Zimmers gab es einen alten, dick mit Staub und Schutt bedeckten Schreibtisch, neben dem ein einfacher Holzstuhl stand. Rampole starrte hinüber. Ja, dort im Staub, wo letzte Nacht die Fahrradlampe gestanden haben mußte, war ein schmaler, rechteckiger Abdruck zu sehen. Und dort, auf dem hölzernen Stuhl gegenüber der rechten Wand, dort hatte also Martin Starberth gesessen, den Lichtstrahl auf...

Aha. In der Mitte der Mauer auf der rechten Seite befand sich, bündig mit dieser, die Tür zum Tresor oder Safe, oder wie immer er genannt wurde: eine einfache Eisentür, sechs Fuß hoch und halb so breit, jetzt stumpf vor Rost. Unmittelbar unter dem eisernen Griff befand sich eine seltsame Vorrichtung, eine Art flachen Kästchens mit einem großen Schlüsselloch auf der einen Seite und etwas, das einer Metallklappe über einem kleinen Drehknopf glich, auf der anderen.

»Die Berichte waren also korrekt«, sagte Dr. Fell unvermittelt. »Ich dachte es mir. Andernfalls wäre es allzu leicht gewesen.«

»Was?« fragte der Chief Constable etwas gereizt.

Der Doktor wies mit einem Stock hinüber. »Angenommen, ein Einbrecher wollte das Ding knacken. Wenn da nur ein Schlüsselloch wäre, könnte er sich einen Abdruck von dem Schloß machen und einen, wenn auch ziemlich großen Nachschlüssel anfertigen. Aber mit dieser Vorrichtung gelangte er wohl kaum hinein, ohne die ganze Wand mit Dynamit in die Luft zu jagen.«

»Mit welcher Vorrichtung?«

»Der Buchstabenkombination. Ich hörte, es wäre eine daran. Die Idee ist nicht neu, wissen Sie. Metternich hatte schon so etwas, und Talleyrand spricht von Maporte qu'on peut ouvrir avec un mot, comme les quarante voleurs de Scheherazade. Sehen Sie diesen Knopf mit dem beweglichen Metallding darüber? Das Metallstück verdeckt eine Wählscheibe wie bei einem modernen Safe, außer daß hier an Stelle der Zahlen die sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets verwendet wurden. Sie müssen an dem Knopf drehen und das vorher festgelegte Codewort Buchstabe für Buchstabe einstellen, bevor die Tür überhaupt geöffnet werden kann. Der bloße Schlüssel ohne dieses Wort ist nutzlos.«

»Vorausgesetzt, jemand wollte das verflixte Ding überhaupt öffnen«, sagte Sir Benjamin.

Man schwieg erneut, allen war unbehaglich zumute. Der Pfarrer wischte sich, eine eindeutige Geste, die Stirn mit einem Taschentuch ab und betrachtete ein großes Himmelbett vor der rechten Wand. Es war immer noch mit mottenzerfressener Wäsche und verfaulenden Kissen bezogen; an schwarzen Messingringen hingen Vorhangfetzen vom Betthimmel. Daneben stand ein Nachttisch, darauf ein Kerzenhalter. Wieder mußte Rampole an einige Zeilen aus Anthonys Manuskript denken: Ich hatte meine Kerze für die Nacht geputzt, die Schlafmütze aufgesetzt und wollte im Bett noch etwas lesen, als ich sah, daß sich zwischen meinen Bettlaken etwas bewegte... Schnell wandte der Amerikaner seinen Blick ab. Immerhin hatte nach Anthony noch eine Person in diesem Zimmer gelebt und war dort gestorben. Drüben, neben dem Safe, stand ein verglaster Sekretär mit einer Minervabüste und einer dicken Bibel darauf. Niemand von ihnen, außer vielleicht Dr. Fell, konnte sich von der Vorstellung befreien, man befände sich an einem gefährlichen Ort, wo man sich nur sehr vorsichtig und ohne etwas anzurühren bewegen durfte. Der Chief Constable schüttelte sich.

»Na gut«, begann Sir Benjamin grimmig, »da wären wir also. Ich will mich hängen lassen, wenn ich weiß, was wir jetzt tun sollen. Dort hat wohl der arme Kerl gesessen. Da drüben hatte er die Lampe abgestellt. Keine Anzeichen für einen Kampf - nichts zerbrochen - «

»Übrigens«, unterbrach ihn Dr. Fell nachdenklich, »ich frage mich, ob der Tresor noch geöffnet ist.«

Rampole spürte, daß sich seine Kehle zusammenzog.

»Mein lieber Doktor«, meinte Saunders, »glauben Sie, daß die Starberths das billigen... Also, ich muß schon sagen!«

Dr. Fell stapfte bereits an ihm vorbei, die Metallspitzen seiner Stöcke klirrten auf dem Boden. Sir Benjamin richtete sich auf und wandte sich scharf an Saunders.

»Wir haben hier einen Mordfall, sollten Sie bedenken! Wir müssen nachschauen. Doch halt! - Warten Sie eine Sekunde, Doktor!« Gemessen wie ein Gaul schritt er hinüber, seinen langen Kopf vorgestreckt. Mit gesenkter Stimme fügte er hinzu: »Glauben Sie, daß das klug ist?«

»Außerdem bin ich neugierig«, murmelte der Doktor, als ob er den anderen gar nicht gehört hätte, »auf welchem Buchstaben die Kombination jetzt steht. Würden Sie ein wenig zur Seite treten, alter Knabe? Hier... Donnerwetter! Das Ding ist ja frisch geölt!«

Er schob die Metallklappe hin und her, während sich die anderen um ihn drängten.

»Sie steht auf dem Buchstaben >N<. Möglicherweise ist das der letzte Buchstabe des Wortes, oder auch nicht. Egal, los jetzt.«

Mit einem listigen Schmunzeln zwischen den Kinnrollen drehte er sich zu ihnen um und blinzelte spöttisch über die Brillengläser, als er den Tresorgriff packte.

»Alle fertig? Jetzt gut aufgepaßt!« Er drehte den Griff, und die Tür quietschte langsam in den Scharnieren. Mit scharfem Klirren fiel einer seiner Stöcke zu Boden.

Nichts kam heraus...

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