Kapitel 12

»Wir stellen fest«, lautete das Urteil der gerichtlichen Leichenschau, »daß der Verstorbene seinen Tod fand als Ergebnis von - « In Rampoles Gedanken hatten sich diese formelhaften Worte eingenistet wie ein unsinniger und verwirrender Refrain. Sie liefen darauf hinaus, daß Herbert Starberth seinen Vetter Martin durch Herabstoßen vom Balkon des Gouverneurszimmers getötet hatte. Da die Autopsie Blut in Mund und Nase gefunden hatte, außerdem eine Quetschung an der Schädelbasis, die durch die Lage, in der er gefunden wurde, nicht erklärt werden konnte, schloß Dr. Markley, der Verstorbene sei aller Wahrscheinlichkeit nach zunächst bewußtlos geschlagen geworden, bevor der eigentliche Mord stattfand. Martins Genick und rechte Hüfte waren gebrochen; weitere unerfreuliche Details hatten in der nüchternen Atmosphäre des Gerichts besonders kalt und häßlich geklungen.

Nun war es vorüber. In Londons Presse hatte die Sensation von Chatterham nicht einmal neun Tage überdauert. Zunächst trieb sie üppige Blüten in Form von Bildern, wilden Spekulationen und hektischen Neuigkeiten und verwelkte dann zwischen den Reklamespalten. Übrig blieb nur die Jagd nach Herbert, doch der war unauffindbar. Die mysteriöse Gestalt auf dem grünen Motorrad geisterte durch England wie durch einen Nebel. Natürlich war er an einem Dutzend Orte gesehen worden, doch niemals handelte es sich dabei wirklich um Herbert Starberth. Obwohl man davon ausging, daß er Richtung Lincoln gefahren war, um dort in einen Zug zu steigen, war es bisher nicht möglich gewesen, dies nachzuweisen; außerdem fehlte von dem grünen Motorrad weiterhin jede Spur. Scotland Yard verhielt sich so unauffällig, daß es unsichtbar blieb wie der Flüchtende selbst. Bisher jedenfalls hatte man aus dem grimmigen Gebäude am Westminster Pier noch nichts von einer Festnahme gehört.

Schon eine Woche nach der gerichtlichen Untersuchung schlief Chatterham wieder. Der Regen hörte nicht mehr auf, er tränkte die Ebene, dröhnte in den Traufen und zischte in den Kaminen, in denen Feuer gegen die Feuchtigkeit entfacht wurden. Der uralte Regen von England lockte vergangene Gerüche hervor wie Gespenster, so daß Lederfolianten mit Frakturschrift und Kupferstiche an den Wänden plötzlich lebendiger zu sein schienen als die Menschen. Rampole saß vor einem Kohlefeuer in Dr. Fells Arbeitszimmer. Außer dem Prasseln und Knacken im Kamin herrschte absolute Stille im Yew Cottage. Der Doktor und Mrs. Fell waren den Nachmittag über nach Chatterham gefahren. Ihr Gast, der allein in dem schmalen Sessel am Feuer saß, brauchte keine Lampe, Er blickte in den dichter werdenden Regen hinter den grauen Fensterscheiben und sah im Feuer Gestalten tanzen.

Der Bogen des Kamingitters schimmerte schwarz. In den Flammen sah er Dorothy Starberths Gesicht, das sich ihm während der Leichenschau kein einziges Mal zugewandt hatte. Es wurde zu viel getratscht. Stühle, die über den mit Sand bestreuten Fußboden kratzten. Stimmen, die durch das Gerichtszimmer hallten wie in einem Steinkrug. Anschließend war sie in einem alten, von Payne gesteuerten Wagen mit verhangenen Fenstern nach Hause gefahren. Sein Blick war dem von der hastigen Abfahrt aufgewirbelten Staub gefolgt, und er hatte Gesichter gesehen, die verstohlen aus den Häusern entlang des Weges spähten. Der Klatsch war ein heimlicher Postbote gewesen und hatte an jede Tür geklopft. Diese verdammten Narren, dachte er und fühlte sich plötzlich sehr elend.

Das Rauschen des Regens verstärkte sich, einige Tropfen zischten in den Flammen. Er starrte auf den Briefumschlag auf seinen Knien. Diese sinnlosen Strophen, die er von dem Blatt abgeschrieben hatte, das sie ihm gezeigt hatte. Er hatte Dr. Fell davon erzählt, doch der alte Privatgelehrte hatte sie sich bis jetzt noch nicht angesehen. Aus Pietätsgründen, wie auch vor dem Hintergrund des ersten Durcheinanders und der späteren Beerdigung, hatten sie dieses Problem zunächst hintangestellt. Nun aber, da Martin Starberth irgendwo da draußen im Regen seine letzte Ruhe gefunden hatte... Rampole schüttelte sich. Einige Gemeinplätze fielen ihm ein. Er wußte jetzt, daß sie schreckliche Wahrheiten waren.

»Wenn auch die Würmer diesen Leib zerstören...«, waren solche festen, ruhigen Worte, ausgesprochen unter einem leeren Himmel. In seiner Erinnerung fiel die Erde noch einmal auf den Sarg, gestreut mit der Bewegung eines Sämanns. Er sah die nassen, sturmzerzausten Weiden vor dem grauen Horizont, und er hörte den einförmigen Singsang der Totenmesse, der ihn so eigentümlich berührte, wie nur einmal zuvor, als er, noch ein Kind, in der Abenddämmerung entfernte Stimmen »Auld Lang Syne« hatte singen hören.

Was war das? Noch völlig vertieft in Kindheitserinnerungen bemerkte er plötzlich, daß er ein wirkliches Geräusch gehört hatte. Jemand klopfte an die Eingangstür des Hauses.

Er stand auf, zündete die Lampe auf dem Tisch an und leuchtete sich damit hinaus in den Flur. Als er die Tür öffnete, schlugen Regentropfen in sein Gesicht; er hielt die Lampe hoch.

»Ich möchte zu Mrs. Fell«, sagte die Stimme des Mädchens. »Ob sie mir wohl einen Tee anbietet?«

Sie blickte unter ihrem triefnassen Hutrand ernsthaft zu ihm auf. Der Schein der Lampe beleuchtete ihr Gesicht vor dem dunklen Hintergrund des Regens, und während sie sprach, blickte sie harmlos an ihm vorbei in den Flur.

»Fells sind nicht zu Hause«, sagte er. »Doch laß dich davon bitte nicht abhalten hereinzukommen. Ich weiß zwar nicht, ob ich einen richtigen Tee zubereiten kann...«

»Ich aber«, teilte sie mit.

Alle Steifheit verschwand. Sie lächelte. Kurz darauf hingen ihr nasser Hut und Mantel im Flur, und sie machte sich geschickt in der Küche zu schaffen, während er sich der guten Form halber den Anschein ernsthafter Beschäftigung gab. Niemals hat man doch, überlegte er, ein schlechteres Gewissen, als wenn man bei der Essenszubereitung mitten in der Küche herumsteht. Es ist, wie wenn man jemand beim Reifenwechseln zuguckt. Sobald man sich bewegt, um wirklich etwas zu tun, stößt man mit dem anderen zusammen. Und dann fühlt man sich, als ob man den Reifenwechsler aus reiner Bosheit geschubst hätte. Gesprochen wurde nicht viel, denn Dorothy war energisch und geräuschvoll mit der Teezubereitung beschäftigt.

Sie deckte im Arbeitszimmer vor dem Feuer einen kleinen Tisch. Die Vorhänge waren zugezogen, die Glut mit frischer Kohle neu entfacht. Eifrig und mit hochgezogenen Augenbrauen schmierte sie Butter auf Toast; im gelben Licht der Lampe sah er die Schatten unter ihren Augen. Heiße Muffins, Marmelade und ein starker Tee, das emsige Kratzen des Messers auf den Toasts und der warme, süßliche Geruch des darübergestreuten Zimtes...

Plötzlich blickte sie auf.

»Hör mal, willst du eigentlich deinen Tee nicht trinken?«

»Nein«, sagte er einfach. »Erzähl mir erst, was los ist.« Das Messer klirrte auf dem Teller, als sie es betont ruhig hinlegte. Ohne ihn anzusehen antwortete sie: »Es ist nichts. Ich mußte nur einfach aus dem Haus raus.«

»Iß du wenigstens etwas, ich habe keinen Hunger.«

»Ach, merkst du denn nicht, daß ich auch keinen habe?« fragte sie. »Es ist so gemütlich hier. Das Feuer, der Regen...« Sie spannte ihre Muskeln wie eine Katze und starrte auf eine Ecke des Kaminsimses. Zwischen ihnen dampften die Teetassen. Sie hockte auf einem alten durchgesessenen Sofa, dessen Bezug von einem müden Rot war. Der Umschlag, auf den er das Gedicht abgeschrieben hatte, war vor den Kamin gefallen und lag mit dem Gesicht nach oben. Sie nickte in die Richtung.

»Hast du Dr. Fell davon erzählt?«

»Ich hab' es erwähnt. Doch ich habe ihm noch nichts von deinem Einfall gesagt, daß es dabei möglicherweise um ein Versteck geht.«

Er stellte fest, daß er kaum wußte, wovon er sprach. Er erhob sich mit einer Bewegung, die so plötzlich kam wie ein Schlag vor die Brust. Seine Knie zitterten leicht, überdeutlich hörte er das Singen des Teekessels. Er sah ihre im flackernden Feuerschein hellen, ruhigen Augen, als er zum Sofa hinüberging. Einen Augenblick lang starrte sie ins Feuer, dann drehte sie sich zu ihm hin.

Als er wieder zu sich kam, starrte er selbst ins Feuer, die Hitze brannte in seinen Augen, von fern hörte er das Singen des Kessels und das Prasseln des Regens. Als er aufgehört hatte, sie zu küssen, ruhte sie lange Zeit reglos an seiner Schulter, die Augen fest geschlossen. Die Furcht, sie könnte ihn zurückweisen, war verflogen, das enorme Klopfen seines Herzens ließ nach und wich einem Frieden, der sich wie eine Decke um sie legte. Er hätte wie verrückt jubeln können und kam sich gleichzeitig ziemlich dumm vor. Als er sich zu ihr drehte, erschrak er, weil sie mit weit aufgerissenen Augen ausdruckslos die Zimmerdecke anstarrte.

Laut hörte er seine eigene Stimme. »Ich - «, sagte er, »ich hätte nicht - «

Ihre ausdruckslosen Augen suchten seinen Blick; sie schienen aus einer fernen Tiefe heraufzuschauen. Ganz langsam legte sie ihre Arme um seinen Hals und zog ihn wieder zu sich herab. Ein wildes Herzklopfen, während der Kessel zu singen aufhörte und jemand durch einen warmen Nebel Zusammenhangloses in sein Ohr zu murmeln schien. Dann riß sie sich plötzlich von ihm los und sprang auf. Mit glühenden Wangen schritt sie im Schein der Lampe auf und ab, dann hielt sie vor ihm an.

»Ich weiß«, sagte sie atemlos und mit gepreßter Stimme. »Ich bin ein gefühlloses, kleines Biest. Ich bin einfach ein Lump, das ist alles. So etwas zu tun - und Martin... «

Er erhob sich energisch und nahm sie bei den Schultern.

»Denk nicht daran! Hör auf damit«, sagte er. »Das ist vorbei und nicht mehr zu ändern, verstehst du das nicht? Dorothy, ich liebe dich.«

»Glaubst du denn, ich liebe dich nicht?« rief sie. »Ich werde niemals - ich könnte niemals - jemanden so sehr lieben wie dich. Das macht mir Angst. Es ist das erste, woran ich morgens beim Aufwachen denken muß, und nachts träume ich sogar davon. So schlimm steht es. Aber wie schrecklich von mir, ausgerechnet jetzt an so etwas zu denken...«

Ihre Stimme schwankte. Er hatte seinen Griff an ihrer Schulter verstärkt, als wollte er sie von einem Sprung abhalten.

»Wir sind beide ein bißchen verrückt«, fuhr sie fort. »Ich werde nicht sagen, ich hätte dich gern. Das werde ich nicht zugeben. Wir sind von dieser entsetzlichen Sache beide noch zu aufgeregt...«

»Aber das wird doch nicht ewig so bleiben, oder? Mein Gott, kannst du denn nicht mit dieser sinnlosen Brüterei aufhören? Du weißt doch, was du mit diesen ganzen Befürchtungen erreichst. Nichts. Du hast selbst gehört, was Dr. Fell gesagt hat.«

»Ich kann es eben nicht erklären. Ich weiß, was ich machen werde - weggehen. Ich werde verschwinden - heute nacht - morgen - und dich vergessen - «

»Könntest du mich vergessen? Weil, wenn du das könntest - «

Er sah, daß sich ihre Augen mit Tränen füllten, und verwünschte sich selbst. Er bemühte sich, ruhig zu sprechen. »Es ist überhaupt nicht nötig zu vergessen. Es gibt nur eines, was wir tun müssen: Wir müssen diesen ganzen Quatsch aufklären, Mord und Fluch und diesen ganzen Unsinn, und dann bist du frei. Dann gehen wir beide zusammen weg und - «

»Würdest du mich haben wollen?«

»Kleines Dummchen!«

»Nun gut«, meinte sie nach einer Weile kläglich, »ich frage ja nur. Oh verdammt, wenn ich daran denke, daß ich noch vor einem Monat Romane gelesen und mich gefragt habe, ob ich vielleicht, ohne es zu ahnen, Wilfrid Denim liebe, und dabei staunte, wie man nur so viel Getue um diese Sache machen kann. Wenn ich mich dagegen jetzt so sehe... Ich habe mich völlig verrückt benommen, ich hätte alles getan - !« Unbändig warf sie ihren Kopf in den Nacken und lachte. Ihr schelmischer Gesichtsausdruck kehrte zurück. Sie sprach mit scherzhaftem Ton, und doch merkte man, daß es ihr todernst war. »Ich will hoffen, du meinst es ehrlich, alter Junge. Ich glaube beinahe, ich würde sterben, wenn es nicht wahr wäre.«

Rampole begann daraufhin, mit gewählten Ausdrücken zu erklären, wie unwürdig er ihrer doch sei. Junge Männer haben in solchen Situationen häufig diesen Drang, und Rampole ging sogar soweit, das auch zu glauben. Die Wirkung wurde nur dadurch leicht beeinträchtigt, daß er auf dem Höhepunkt seiner Ansprache mit der Hand auf den Butterteller schlug. Doch sie meinte nur, ihretwegen könne er sich in der Butter wälzen, und lachte über seine Betretenheit. Schließlich beschlossen sie, etwas zu essen. Sie hielt weiterhin alles für >lächerlich<, und Rampole eignete sich diese Vorstellung bedenkenlos an.

»Nimm doch noch was von dem albernen Tee«, forderte er sie auf. »Oder ein wenig von dieser dusseligen Irrenanstaltszitrone und eine Prise von dem schwachsinnigen Zucker. Mach schon, nimm. Es ist eine komische Sache, aber ich würde dir am liebsten den bescheuerten Toast an den Kopf knallen, haargenau weil ich dich so sehr liebe. Marmelade? Sie hat einen sehr niedrigen I.Q. Kann ich nur empfehlen. Außerdem - «

»Bitte! Dr. Fell kann jeden Moment hereinkommen. Hör auf, herumzutanzen! - Und würde es dir etwas ausmachen, das Fenster zu öffnen? Ihr ekelhaften Amerikaner mögt es immer so stickig. Bitte!«

Er schritt hinüber zum Fenster neben dem Kamin und schlug die Vorhänge zurück, wobei er seinen Monolog aber fortsetzte und ihren Akzent tadellos imitierte. Der Regen hatte nachgelassen. Er schob die Flügel des Fensters auf und blickte, während er den Kopf hinausstreckte, instinktiv zum Gefängnis hinüber. Was er sah, bewirkte keinen Schock der Überraschung oder Furcht, sondern versetzte ihn in ein gelassenes, kaltes Hochgefühl. Er sprach vergnügt und entschlossen.

»Diesmal«, sagte er, »werde ich den Kerl kriegen, ich werde ihn kriegen.«

Er nickte beim Sprechen und wandte dem Mädchen sein grimmiges Gesicht zu, während er hinaus in den Regen zeigte. Da war wieder ein Licht im Gouverneurszimmer des Chatterham-Ge-fängnisses.

Es sah aus wie eine Kerze, klein und flackernd in der Dämmerung. Sie warf nur einen kurzen Blick hinüber und packte ihn an der Schulter.

»Was hast du vor?«

»Ich hab's dir schon gesagt. Wenn der Himmel es zuläßt«, sagte er munter, »werde ich ihn windelweich prügeln.«

»Du willst doch nicht da hinauf?«

»Warum nicht? Du wirst schon sehen. Das ist alles, was du tun mußt - nur zusehen.«

»Ich lasse dich nicht gehen. Nein, ich meine es ernst. Wirklich! Du kannst doch nicht - «

Rampole stieß ein Lachen hervor, das er einem Bühnenschurken abgelauscht zu haben schien. Er griff die Lampe vom Tisch und stürmte hinaus in den Flur, so daß sie ihm wohl oder übel folgen mußte. Sie versuchte, ihm den Weg zu versperren.

»Ich habe dich gebeten, nicht zu gehen!«

»Das hast du allerdings«, gab er zurück und zwängte sich in seinen Regenmantel. »Würdest du mir bitte einmal in den Ärmel von dem Ding hier helfen, ja?... Gutes Mädchen! Was ich jetzt noch brauche«, knurrte er und inspizierte die Hutablage, »ist ein Stock. Ein schöner, schwerer Knüppel... Aha, dort. >Sind Sie bewaffnet, Lestrade?< >Ich bin bewaffnet!< Sogar reichlich.«

»Du, ich warne dich! Ich komme mit!« rief sie und griff nach seinem Arm.

»Gut, dann zieh deinen Mantel über. Ich weiß nicht, wie lange dieser kleine Spaßvogel da oben noch wartet. Wo wir gerade dabei sind, am besten nehme ich wohl eine Taschenlampe mit. Der Doktor hat hier gestern abend eine hingelegt, fällt mir ein... Also los.«

»Liebling«, hauchte Dorothy Starberth, »ich wußte, daß du mich mitnehmen würdest.«

Aufgeweicht und dreckbespritzt stapften sie über den Rasen zur Weide hinüber. Am Zaun hatte sie einige Schwierigkeiten mit ihrem langen Regenmantel. Als er sie hinüberhob, spürte er einen Kuß auf seiner nassen Backe. Allmählich ließ der Jubel, endlich diese Person im Gouverneurszimmer zu stellen, etwas nach. Das hier war kein Spaß. Es war eine widerliche, gefährliche Arbeit. Er wandte sich im Dämmerlicht um.

»Schau«, sagte er, »du gehst jetzt wirklich besser zurück. Wir machen das hier nicht zum Vergnügen, und ich möchte nicht, daß dir etwas zustößt.«

In der Stille hörte er den Regen auf seinen Hut tropfen. Nur dieses einsame Licht schimmerte durch die Regenwand, flackerte weiß über der Wiese. Als sie antwortete, klang es leise, kühl und entschlossen.

»Das weiß ich ebensogut wie du. Aber ich will es wissen. Außerdem mußt du mich mitnehmen, denn du findest doch gar nicht allein zum Gouverneurszimmer, wenn ich dir nicht den Weg zeige. - Schach und Matt, mein Lieber.«

Sie begann, ihm voran die Böschung hinaufzustapfen. Er folgte ihr und zischte dabei mit seinem Knüppel durch das aufgeweichte, hohe Gras. Beide schwiegen, doch das Mädchen keuchte, als sie das Tor des Gefängnisses erreichten. So weit entfernt vom Kaminfeuer mußte man sich schon einige Male selbst versichern, daß es absolut nichts Übernatürliches in diesem altertümlichen Gebäude der Folter und des Henkens gab. Rampole drückte auf den Knopf der Taschenlampe. Der weiße Strahl drang in den glitschiggrünen, übelriechenden Tunnel, tastete ihn ab, schwankte, bewegte sich dann langsam vorwärts.

»Glaubst du«, flüsterte das Mädchen, »daß es wirklich der Mann ist, der - ?«

»Du gehst besser zurück, ich sag' es dir!«

»Denk dir was Originelleres aus«, flüsterte sie mit schwacher Stimme. »Ich hab' zwar Angst, aber wenn ich zurückgehen müßte, hätte ich noch mehr Angst. Gib mir deinen Arm und dann zeige ich dir den Weg. Vorsichtig. - Was er wohl da oben macht? Er muß doch verrückt sein, so was zu riskieren.«

»Glaubst du, er kann uns kommen hören?«

»Oh nein. Jetzt noch nicht. Es ist noch meilenweit bis dahin.«

Ihre Schritte klangen hohl wie tröpfelndes Sickerwasser. Ram-poles Licht hüpfte. Mißtrauisch wurden sie von kleinen Augen beobachtet, die hastig verschwanden, wenn der Strahl in dunkle Winkel leuchtete. Mücken umschwirrten ihre Gesichter, und irgendwo in der Nähe mußte auch Wasser sein, denn das Quaken von Fröschen - ein rauher, gutturaler Chor - drang zu ihnen herüber. Rampole befand sich also ein weiteres Mal auf dieser endlosen Reise, wand sich durch enge Korridore und verrostete Türen, steinerne Treppen hinunter und wieder hinauf. Als der Strahl der Lampe auf das Gesicht der Eisernen Jungfrau fiel, flatterte etwas durch die Dunkelheit.

Fledermäuse. Das Mädchen duckte sich, und Rampole schlug wütend nach ihnen. Er hatte sich verschätzt, der Stock klirrte auf Eisen und schickte ein hallendes Scheppern zum Dach hinauf. Aus einer flatternden Wolke schrillte das Quieken der Fledermäuse als Antwort herüber. Rampole spürte, wie ihre Hand an seinem Arm zitterte.

»Wir haben ihn gewarnt«, flüsterte sie. »Ich habe Angst! Jetzt haben wir ihn gewarnt... Nein, nein, laß mich nicht hier! Ich muß bei dir bleiben. Wenn das Licht hier ausgeht... Diese garstigen Viecher, beinahe spüre ich sie in meinen Haaren...«

Obwohl er ihr beruhigend zuredete, fühlte er das heftige Pochen seines eigenen Herzens. Wenn es wirklich Tote gab, dachte er, die in dem steinernen Gebäude, wo sie gestorben waren, umgingen, dann hatten sie bestimmt genau solche leeren, spinnwebverhangenen Grimassen wie die Eiserne Jungfrau. Der Schweißgeruch dieser alten Folterkammer schien noch immer über den Gegenständen zu liegen. Er biß die Zähne zusammen, als habe er eine Bleikugel dazwischen, wie es die Soldaten zu Anthonys Zeiten taten, um die Schmerzen bei einer Amputation zu betäuben.

Anthony...

Vor ihnen erschien ein Licht. Sie bemerkten es, sehr matt, ganz am Ende einer Flucht von Stufen, die zu jenem Korridor führten, von dem das Gouverneurszimmer abging. Jemand trug eine Kerze.

Rampole knipste sein Licht aus. Er spürte, daß Dorothy im Dunkeln zitterte, als er sie hinter sich zog und dann entlang der linken Wand, den Knüppel frei in der Rechten, die Treppe hinaufzusteigen begann. Mit kalter Klarheit wußte er, daß er keine Furcht vor einem Mörder hatte. Liebend gerne sogar würde er mit seinem Stock auf den Schädel eines Mörders einschlagen.

Was jedoch die kleinen Drähte in seinen Knien straffte und vibrieren ließ und seinen Magen so kalt werden ließ wie einen ausgewrungenen Putzlappen, das war die Angst, es könnte doch jemand anderes sein.

Einen Moment lang fürchtete er, das Mädchen hinter ihm würde aufschreien. Und er wußte, daß er auch geschrien hätte, wenn dort drüben im Kerzenlicht ein Schatten aufgetaucht wäre und dieser Schatten einen dreispitzigen Hut getragen hätte... Von oben ertönten Schritte. Offenbar hatte der andere sie kommen hören, glaubte nun aber, sich geirrt zu haben; denn das Geräusch verschwand wieder in Richtung Gouverneurszimmer.

Irgendwo tappte ein Stock...

Stille.

Langsam, endlose Minuten lang, schlich Rampole die Treppe hinauf. Ein matter Lichtschein drang aus der geöffneten Tür des Gouverneurszimmers. Er steckte die Taschenlampe ein und ergriff Dorothys kalte, feuchte Hand. Seine Schuhe quietschten, doch die Ratten quietschten ebenfalls. Er glitt den Flur entlang und spähte um die Ecke der Tür.

In einem Halter auf dem Schreibtisch brannte eine Kerze. Davor saß bewegungslos Dr. Fell, das Kinn in die Hand gestützt, einen Stock gegen sein Bein gelehnt. An die Wand hinter ihm warf die Kerze seinen Schatten, der Rampole seltsamerweise an eine Statue Rodins erinnerte. Unter dem Baldachin auf Anthonys altem Bett saß, auf die Hinterpfoten aufgerichtet, eine große graue Ratte, die mit blitzenden, höhnischen Augen zu Dr. Fell hinüberblickte.

»Kommt rein, Kinder«, sagte Dr. Fell, kaum zur Tür aufblickend. »Ich muß gestehen, ich war sehr beruhigt, als ich merkte, daß ihr es seid.«

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