Kurz zuvor mußten in der Bibliothek scharfe Worte gefallen sein. Soviel war der herrschenden Spannung und Beklommenheit und der leichten Rötung auf Sir Benjamins Gesicht klar zu entnehmen. Er stand mit dem Rücken zum leeren Kamin, die Hände hinter sich gefaltet. Mitten im Raum stand, wie Rampole jetzt sah, sein spezieller Liebling: der Anwalt Payne.
»Ich kann Ihnen sagen, was Sie jetzt tun, Sir«, sagte Sir Benjamin. »Sie setzen sich wie ein vernünftiger Mensch dorthin und machen Ihre Aussage dann, wenn ich Sie darum bitte. Nicht eher.«
In Paynes Kehle rasselte es. Rampole sah, wie sich seine kurzgeschnittenen weißen Nackenhaare aufrichteten.
»Sind Sie mit dem Gesetz vertraut, Sir?« krächzte er.
»Ja, Sir, das bin ich«, entgegnete Sir Benjamin. »Zufällig bin ich selbst Jurist. Würden Sie nun bitte meinen Anweisungen Folge leisten, oder soll ich - «
Dr. Fell hüstelte. Er nickte matt Richtung Tür und zog sich, als Dorothy Starberth eintrat, aus dem Sessel hoch. Payne wandte sich abrupt um.
»Ah, kommen Sie nur herein, meine Liebe«, sagte er und schob ihr einen Sessel hin. »Nehmen Sie Platz, ruhen Sie sich aus. Sir Benjamin und ich«, seine weißen Augen funkelten den Chief Constable an, »haben mit Ihnen zu reden.«
Er verschränkte seine Arme und rührte sich nicht weg von der Seite ihres Sessels, wo er sich wie ein Wächter postiert hatte. Sir Benjamin fühlte sich ganz und gar nicht wohl.
»Sie wissen natürlich, Miss Starberth«, begann er, »was wir alle bei dieser tragischen Angelegenheit empfinden. Ich kenne Sie und Ihre Familie lange genug; und ich glaube, daß ich darüber keine weiteren Worte verlieren muß.« Sein ehrliches, altes Gesicht sah freundlich und betrübt aus. »Ich bedränge Sie zu diesem Zeitpunkt nur ungern. Doch wenn Sie sich in der Lage fühlen, ein paar Fragen zu beantworten...«
»Sie sind nicht verpflichtet, etwas zu sagen«, warf Payne ein. »Denken Sie daran, meine Liebe.«
»Natürlich sind Sie nicht verpflichtet«, stimmte ihm Sir Benjamin zu und zügelte seinen Ärger. »Ich wollte Ihnen nur eventuelle Unannehmlichkeiten bei der späteren gerichtlichen Untersuchung ersparen.«
»Natürlich«, sagte das Mädchen. Sie saß ruhig da, die Hände in den Schoß gelegt, und wiederholte nun die Geschichte, die sie bereits in der vergangenen Nacht erzählt hatte. Kurz vor neun war das Abendessen zu Ende gewesen. Sie hatte versucht, Martin zu unterhalten und seine Gedanken von der bevorstehenden Sache abzulenken. Doch er war bedrückt und erregt gewesen und sofort auf sein Zimmer gegangen. Wo Herbert sich aufhielt? Sie wußte es nicht. Sie war nach draußen gegangen, wo es etwas kühler war, und hatte eine knappe Stunde lang vor dem Haus gesessen. Dann war sie hinüber ins Arbeitszimmer gegangen, um einen Blick in die Haushaltsabrechnung des Tages zu werfen. In der Halle hatte sie Budge getroffen, der ihr mitteilte, daß er eine Radlampe hinauf in Martins Zimmer gebracht habe, wie dieser es verlangt hätte. Während der folgenden halben oder dreiviertel Stunde war sie einige Male kurz davor gewesen, zu Martin hinaufzugehen. Doch dieser hatte verlangt, in Ruhe gelassen zu werden. Er war beim Abendessen mürrisch und übelgelaunt gewesen, deshalb hatte sie von ihrem Vorhaben Abstand genommen. Vielleicht fühlte er sich besser, wenn niemand seinen Nervenzustand mitbekam.
Ungefähr um zwanzig vor elf hatte sie gehört, daß er sein Zimmer verließ, herunterkam und aus der Haustür ging. Sie war ihm nachgerannt und hatte die Seitentür erreicht, als er gerade die Auffahrt hinunterging. Sie hatte ihm etwas hinterhergerufen in der Furcht, er könne zuviel getrunken haben. Er hatte sogar geantwortet und ein paar Worte genuschelt, die sie aber nicht verstehen konnte. Seine Sprechweise war schwerfällig, doch wirkte er recht sicher auf den Beinen. Dann war sie ans Telefon gegangen und hatte bei Dr. Fell angerufen, um ihm mitzuteilen, daß Martin losgegangen war.
Das war alles. Ihre ruhige, kehlige Stimme stockte kein einziges Mal während der Erzählung, und ihre Augen blieben fest auf Sir Benjamin gerichtet. Ihr auch ohne jeden Lippenstift voller und roter Mund schien sich dabei kaum zu bewegen. Als sie fertig war, lehnte sie sich zurück und starrte ins Sonnenlicht, das durch eines der geöffneten Fenster hereindrang.
»Miss Starberth«, sagte Dr. Fell nach einer Weile, » haben Sie wohl etwas dagegen, wenn ich Ihnen eine Frage stelle? - Danke sehr. Budge hat uns erzählt, daß gestern abend die Uhr draußen in der Eingangshalle falsch ging, alle anderen Uhren jedoch richtig. Wenn Sie sagen, er habe das Haus zwanzig Minuten vor elf verlassen, meinen Sie dann die Zeit auf dieser Uhr oder die richtige Zeit?«
»Wieso - « Erstaunt blickte sie zuerst ihn, dann ihre Armbanduhr und dann die Uhr auf dem Kaminsims an. »Wieso, die richtige Zeit natürlich! Da bin ich mir ganz sicher. Ich habe die Uhr in der Halle überhaupt nicht beachtet. Ja doch, die richtige Zeit.«
Dr. Fell ließ sich zurückfallen, während das Mädchen ihn mit leichtem Stirnrunzeln ansah. Sichtlich von dieser erneut angesprochenen Nebensächlichkeit irritiert, hatte Sir Benjamin damit begonnen, auf dem Kaminvorleger auf und ab zu gehen. Es war ihm anzumerken, daß er sich zu bestimmten Fragen aufgerafft, aber durch die Unterbrechung des Doktors seine Entschlossenheit wieder verloren hatte. Endlich wandte er sich um.
»Miss Starberth, Budge hat uns bereits von Herberts völlig unerklärlicher Abwesenheit erzählt...«
Sie senkte den Kopf.
»Denken Sie bitte nach! Sind Sie sicher, daß er nicht doch die Möglichkeit einer plötzlichen Abreise erwähnt hat? Können Sie sich keinen Grund für eine solche Reise vorstellen?«
»Keinen«, sagte sie und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Sie brauchen nicht so förmlich zu sein, Sir Benjamin. Ich weiß ebenso gut wie Sie, was das bedeutet.«
»Gut, also, um offen zu sein: Die Geschworenen werden dies bei der gerichtlichen Untersuchung vermutlich sehr nachteilig auslegen, es sei denn, er kehrte augenblicklich zurück. Und selbst dann -verstehen Sie? Hat es in der Vergangenheit irgendwelchen Streit zwischen Herbert und Martin gegeben?«
»Niemals.«
»Oder in jüngster Zeit?«
»Ungefähr einen Monat nach Vaters Tod ist Martin abgereist«, antwortete sie und verschränkte ihre Finger. »Wir haben ihn erst vorgestern, als wir ihn von seinem Schiff in Southampton abholten, wiedergesehen. Es hat niemals die geringste Spannung zwischen ihnen gegeben.«
Sir Benjamin war in sichtlicher Verlegenheit. Er blickte zu Dr. Fell, als wolle er sich von diesem soufflieren lassen. Doch der Doktor sagte nichts.
»Im Moment«, fuhr er fort und räusperte sich, »fällt mir nichts weiter ein. Das ist alles - äh - sehr verwirrend. Wirklich, äußerst verwirrend. Wir möchten Sie natürlich nicht länger quälen, wenn Sie sich also gerne zurückziehen möchten...«
»Danke. Aber wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte das Mädchen, »ziehe ich es vor hierzubleiben. Das ist - nun, ich will eben hierbleiben.«
Payne klopfte ihr auf die Schulter. »Ich werde mich um das Weitere kümmern«, sagte er zu ihr und nickte dem Chief Constable mit trockener, boshafter Befriedigung zu.
Sie wurden unterbrochen. Aus der Halle draußen war ein unruhiges, flüsterndes Gemurmel zu hören und dann eine schrille Stimme, die so plötzlich mit dem Ton einer sprechenden Krähe »Unsinn!« krächzte, daß sie erstarrten. Lautlos glitt Budge herein.
»Wenn es recht ist, Sir«, sagte er dem Chief Constable, »bringt Mrs. Bundle eines der Hausmädchen, das etwas über die Uhr weiß.«
» - jetzt aber los!« zeterte die Krähenstimme. »Sie marschieren jetzt geradewegs hier herein, junge Dame, und erzählen es ihnen. Das sind mir ja feine Zustände, wirklich feine Zustände sage ich, wenn wir nicht mal in diesem Haus Leute beschäftigen, die die Wahrheit sagen... Wirklich... Pop!« beschloß Mrs. Bundle ihre Rede und machte mit ihren Lippen ein Geräusch, als würde ein Korken aus einer Flasche gezogen.
Sie kam zur Tür hereingestürmt und eskortierte ein zu Tode erschrockenes Hausmädchen. Mrs. Bundle war ein kleine, dürre Frau mit Seemannsgang und einem Spitzenhäubchen, das über leuchtenden Augen und einem grauen Gesicht von so außergewöhnlicher Bosheit hing, daß Rampole sie anstarrte. Aus einem verstaubten Gesicht funkelte sie alle an, doch schien sie weniger jeden einzelnen von ihnen zu verdammen, als über tiefem Unrecht zu brüten. Dann blickte sie starr geradeaus, wobei sie seltsam schielte.
»Hier ist sie«, sagte Mrs. Bundle. »Und ich meine, wie die Dinge stehen, könnten wir alle ebensogut in unseren Betten ermordet oder von den Amerikanern aufgekauft werden. Ist genau das Gleiche. Immer wieder hab' ich zu Mr. Budge gesagt, Mr. Budge, hab' ich gesagt, merken Sie auf meine Worte, nichts Gutes kommt daher, wenn man mit den Gespensters rumfackelt. Ist nicht nach der Natur, hab' ich gesagt, daß ein Lehmkloß - und das sind wir doch alle - immer versucht, die Gespenster beim Bart zu packen. Jawoll. Pop! Man könnte ja meinen, wir wären alle Amerikaner. Pop! Und diese Geister, die - «
»Natürlich Mrs. Bündle, natürlich«, sagte der Chief Constable beschwichtigend. Dann wandte er sich dem kleinen Hausmädchen zu, das in Mrs. Bundles Griff zitterte wie die Jungfrau in den Klauen einer Hexe. »Sie wissen etwas über die Uhr, - äh - ?«
»Martha, Sir. Ja, Sir. Wirklich.«
»Erzählen Sie uns davon, Martha.«
»Sie kauen Kaugummi, zum Teufel mit ihnen«, rief Mrs. Bundle mit solch wildem Unmut, daß sie einen Hopser tat.
»Wie?« meinte der Chief Constable. »Wer?« .
»Sie nehmen Torten und bewerfen damit Leute«, sagte Mrs. Bundle. »Bah. Pop! Pfui Teufel!...«
Die Haushälterin schien an dem Thema festhalten zu wollen. Sie sprach jetzt, wie es schien, nicht mehr von Gespenstern, sondern von den Amerikanern, die sie im folgenden als »scheußliche Cowboys mit Strohhüten« bezeichnete. Ihr Monolog, bei dem sie mit der einen Hand ein Schlüsselbund schüttelte und mit der anderen Martha, war von leicht nebulösem Inhalt, was aber an der Unfähigkeit der Zuhörer liegen mochte, zu unterscheiden, wann sie sich auf Gespenster und wann auf Amerikaner bezog. Sie hatte gerade eine These vorgetragen, deren Thema offenbar die unhöfliche Angewohnheit der Gespenster war, sich aus Siphons mit Sodawasser zu bespritzen, als Sir Benjamin genügend Mut gefaßt hatte, um dazwischenzugehen.
»Nun, Martha, fahren Sie bitte fort. Sie waren es, die die Uhr verstellt hat?«
»Ja, Sir. Aber er hat es mir befohlen, Sir, und - «
»Wer hat das befohlen?«
»Mr. Herbert, Sir. Wirklich. Ich gehe gerade durch die Halle, als er aus der Bibliothek kommt und auf seine Uhr blickt. Und da sagt er zu mir: >Martha, diese Uhr geht zehn Minuten nach.
Stellen Sie sie richtige sagt er. Sehr scharf. Verstehen Sie. Ich war so baff, völlig von den Socken. Er und scharf mit mir reden und alles. Tut er sonst nie. Und er sagt: >Schauen Sie auch die anderen Uhren nach, Martha. Stellen Sie sie richtig, wenn sie falsch gehen. Denken Sie dran!<«
Sir Benjamin sah zu Dr. Fell hinüber.
»Das ist Ihre Untersuchung«, sagte der Chief Constable. »Machen Sie weiter.«
»Hm«, sagte Dr. Fell. Sein Gepolter aus der hinteren Ecke verwirrte Martha, deren rosafarbenes Gesicht noch ein wenig röter wurde. »Wann, sagten Sie, war das?«
»Ich hab's noch nicht gesagt, Sir. Kann ich aber, denn ich habe ja auf die Uhr gesehen. Natürlich. Vorstellen, wie er gesagt hatte und alles. Es war kurz vor dem Abendessen, Sir, und der Pfarrer war wieder gegangen, nachdem er Mr. Martin nach Hause gebracht hatte, und Mr. Martin war in der Bibliothek, ja, da war er, und so verstellte ich eben die Uhr und sie zeigte gerade fünfundzwanzig Minuten nach acht. War's aber nicht. Sie ging dann ja zehn Minuten vor, als ich sie verstellt hatte. Ich meine - «
»Ja, natürlich. Und warum haben Sie nicht auch die anderen Uhren vorgestellt?«
»Ich wollte gerade, Sir. Doch dann komme ich in die Bibliothek, und dort ist Mr. Martin, und der sagt: >Was machen Sie denn da?< und als ich es ihm erzähle, da sagt er: > Lassen Sie die Uhren in Ruhe<, ja, das sagte er. Und selbstverständlich tat ich das. Er war ja der Herr und alles. Das ist alles, was ich weiß, Sir.«
»Danke Ihnen, Martha... Mrs. Bundle, haben Sie oder eines der Hausmädchen gesehen, wie Mr. Herbert gestern abend das Haus verließ?«
Mrs. Bundle zeigte die Zähne. »Als wir in Holdem auf der Kirmes waren«, antwortete sie böse, »da wurde Annie Murphys Geldbörse von Taschendieben gestohlen. Außerdem setzten sie mich auf so ein Ding, das immer nur rund und rund ging, jawoll. Immer nur rund und rund. Und dann ging ich auf diesen Brettern, die wackelten, und auf Treppen, die zusammenklappten, und alles auch noch im Dunkeln, und meine Haarnadeln lösten sich. Ja, ist das denn die Art, eine Dame zu behandeln? Iieeh! Zum Teufel damit«, zeterte die Haushälterin und schwang wütend ihre Schlüssel. »Es war natürlich eine Erfindung, ja, das war's, eine verteufelte Er - fin - dung! Alle diese Erfindungen sind so, was ich Mr. Herbert auch oft genug gesagt habe, und als ich ihn letzte Nacht hinaus zum Schuppen gehen sehe - «
»Sie sahen Mr. Herbert weggehen?« wollte der Chief Constable wissen.
» - zum Schuppen, wo er seine Erfindungen aufbewahrt, die ich mir, da können Sie aber sicher sein, nicht ansehe. Treppen, die zusammenbrechen und einem die Haarnadeln rausschütteln. Was glauben Sie denn...«
»Welche Erfindungen?« fragte der Chief Constable ziemlich hilflos.
»Ist schon in Ordnung, Sir Benjamin«, meinte Dorothy. »Herbert bastelt immer an irgendwas herum, aber ohne viel Erfolg. Da draußen hat er seine Werkstatt.«
Weitere Informationen konnten Mrs. Bundle nicht entlockt werden. Sie war überzeugt, daß alle Erfindungen etwas mit bestimmten komischen Apparaten zu tun hatten, die einen in der Dunkelheit der Holderner Kirmes umherschubsten. Offensichtlich hatte jemand mit einem etwas primitivem Sinn für Humor die gute Dame in ein Verkehrtes Haus geführt, wo sie so lange geschrien hatte, bis es einen Menschenauflauf gab. Sie hatte sich in einer Apparatur verfangen, dabei jemand mit ihrem Schirm auf den Kopf geschlagen und war schließlich von der Polizei hinauseskortiert worden. Genauso wurde sie jetzt, nach einer stürmischen Rückschau auf diese Ereignisse, die aber den Zuhörern keinerlei Aufschluß bieten konnte, von Budge hinausgeführt.
»Zeitverschwendung«, grollte Sir Benjamin, als sie gegangen war. »Ihre Fragen zu der Uhr sind also beantwortet, Doktor. Ich glaube, wir können fortfahren.«
»Ja, ich denke, das können wir«, warf Payne abrupt ein.
Er hatte sich von seiner Position neben dem Sessel des Mädchens noch nicht fortbewegt. Klein und mit verschränkten Armen stand er so häßlich da wie ein chinesischer Götze.
»Ich denke, das können wir«, wiederholte er. »Da diese ziellose Fragerei zu nichts geführt hat, glaube ich, daß es nun an mir ist, einige Erklärungen zu verlangen. Ich verwalte ein Mandat dieser Familie. Seit hundert Jahren war es niemandem außer Mitgliedern der Familie Starberth - unter welchen Vorwänden auch immer -erlaubt, das Gouverneurszimmer zu betreten. Heute morgen aber, so glaube ich verstanden zu haben, haben Sie Gentlemen - einer von Ihnen übrigens ein völlig Fremder - diese Bestimmung verletzt. Diese Tatsache allein verlangt bereits eine Erklärung.«
Sir Benjamin biß die Zähne zusammen. »Entschuldigen Sie, mein Freund«, sagte er, »der Meinung bin ich nicht.«
Der Anwalt hob mit wütender Stimme an: »Was Sie meinen, Sir, ist von geringer - «, als Dr. Fell ihm das Wort abschnitt. Er sprach mit müder, lässiger Stimme.
»Payne«, sagte Dr. Fell, »Sie sind ein Esel. Sie machen bei jeder Gelegenheit nichts als Schwierigkeiten. Ich wünsche mir, Sie benähmen sich nicht ständig wie ein altes Weib. Übrigens, woher wußten Sie eigentlich, daß wir da oben gewesen sind?«
Der mild vorwurfsvolle Ton, in dem er sprach, war schlimmer als jede Verachtung. Payne glotzte.
»Ich habe Augen im Kopf«, schnarrte er. »Ich sah Sie herauskommen. Ich bin nach Ihnen ebenfalls hinaufgegangen, um sicherzustellen, daß Ihre unbefugte Einmischung keinen Schaden angerichtet hat.«
»Oho!« sagte Dr. Fell. »Dann haben Sie die Bestimmung also auch verletzt?«
»Das steht hier nicht zur Debatte, Sir. Ich bin privilegiert. Ich weiß, was in dem Tresor ist...« Er war so verärgert, daß er unvorsichtig wurde. »Es ist nicht das erste Mal, daß ich das Privileg habe, das zu sehen.«
Dr. Fell hatte ausdruckslos auf den Boden gestarrt. Nun hob er sein löwenähnliches Haupt und betrachtete den anderen mit immer noch ausdruckslosem Blick. »Das ist ja interessant«, murmelte er. »Hatte ich mir fast schon gedacht. Hm. Ja.«
»Ich muß Sie erneut daran erinnern«, sagte Payne, »daß ich Treuhänder bin - «
»Jetzt nicht mehr«, sagte Dr. Fell. Eine Pause entstand, in der es eisig wurde im Zimmer. Der Anwalt riß die Augen auf und drehte sich mühsam zu Dr. Fell um.
»Ich sagte: >Jetzt nicht mehr<«, wiederholte der Doktor mit leicht erhobener Stimme. »Martin war der letzte der direkten Linie. Damit ist alles vorbei. Ihre Treuhandschaft, der Fluch, oder wie auch immer Sie es nennen wollen, das alles ist für ewige Zeiten vorbei. Ich für mein Teil kann dazu nur sagen: Gott sei Dank! Jedenfalls braucht es nicht länger ein Geheimnis zu bleiben. Wenn Sie heute morgen da oben gewesen sind, dann wissen Sie ja, daß etwas aus dem Safe entfernt worden ist...«
»Woher wissen Sie das denn?« verriet sich Payne.
»Ich versuche nicht, besonders pfiffig zu sein«, antwortete Dr. Fell müde. »Und ich wünschte, Sie würden es auch nicht versuchen. Wenn Sie der Gerechtigkeit dienen wollen, dann ist es in jedem Falle besser, Sie erzählen uns die ganze Geschichte der Treuhandschaft. Wenn wir diese Geschichte nicht kennen, werden wir niemals die Wahrheit über den Mord an Martin erfahren. Machen Sie weiter, Sir Benjamin. Ich hasse es, mich ständig einzumischen.«
»Das ist genau die Situation«, sagte Sir Benjamin. »Sie dürfen keine Beweise zurückhalten, Sir. Es sei denn, Sie wollen in Beugehaft genommen werden.«
Payne blickte von einem zum anderen. Es war ihm anzumerken, daß er es bislang in seinem Beruf recht einfach gehabt hatte. Nur sehr wenige Leute hatten ihm Paroli geboten oder ihm gar Daumenschrauben angelegt. Jetzt versuchte er so verzweifelt, Ruhe und Gelassenheit zu bewahren, wie jemand, der sich bemüht, ein Segelboot durch einen Sturm zu manövrieren.
»Ich werde Ihnen so viel erzählen, wie ich für passend halte«, sagte er mit Mühe, »mehr nicht. Was wollen Sie wissen?«
»Danke«, meinte der Chief Constable trocken. »Zunächst: Sie bewahrten die Schlüssel zum Gouverneurszimmer auf, nicht wahr?«
»Jawohl.«
»Wie viele Schlüssel gab es?«
»Vier.«
»Verdammt, Mann«, schnaubte Sir Benjamin. »Sie sind doch nicht im Zeugenstand. Antworten Sie bitte etwas ausführlicher.«
»Einen Schlüssel für die äußere Tür zum Zimmer. Einen für die Eisentür zum Balkon. Einen Schlüssel für den Tresor. Und da Sie bereits in den Tresor hineingesehen haben«, sagte Payne schneidend, »kann ich Ihnen den Rest auch sagen: einen kleinen Schlüssel für eine Stahlkassette, die sich im Tresor befand.«
»Eine Kassette - «, wiederholte Sir Benjamin. Er spähte hinüber zu Dr. Fell. Sein Scharfsinn hatte sich also als richtig erwiesen; ein kleines, wissendes, leicht maliziöses Lächeln stahl sich in sein Gesicht. »Eine Kassette. Die, wie wir wissen, verschwunden ist. Was war in der Kassette?«
Payne ging mit sich zu Rate. Er hielt die Arme immer noch verschränkt, nur die Finger der einen Hand begannen, auf seinen Oberarm zu trommeln.
»Alles, was ich wissen mußte«, antwortete er nach kurzem Schweigen, »war, daß eine Anzahl von Spielkarten darin war, jede mit der Unterschrift des ersten Anthony Starberth darauf. Der Erbe war angehalten, eine dieser Karten herauszunehmen und sie am nächsten Tag dem Treuhänder vorzuweisen als Beleg, daß er die Kassette auch wirklich geöffnet hatte. Was sonst noch darin gewesen sein mag - « Er zuckte die Achseln.
»Sie meinen, Sie wissen es nicht?« forschte Sir Benjamin.
»Ich meine, daß ich es vorziehe, darüber nichts zu sagen.«
»Wir werden gleich noch einmal darauf zurückkommen«, meinte der Chief Constable gedehnt. »Also, vier Schlüssel. Was nun das Codewort angeht, mit dem man das Buchstabenschloß öffnet - denn wir sind ja auch nicht ganz blind, Mr. Payne -, was dieses Wort angeht: Wurde Ihnen das auch anvertraut?«
Ein Zögern. »In gewisser Weise: Ja«, erwiderte der Anwalt nach vorsichtigem Nachdenken. »Das Wort ist auf dem Kopf des Tresorschlüssels eingraviert. Auf diese Weise ist ein Einbrecher, der sich möglicherweise einen Nachschlüssel für das Schloß machen läßt, ohne den Originalschlüssel dennoch völlig machtlos.«
»Kennen Sie das Wort?«
Ein längeres Zögern. »Natürlich«, sagte Payne.
»Kannte es sonst noch jemand?«
»Ich betrachte diese Frage als eine Unverschämtheit, Sir«, entgegnete ihm der andere. Kleine braune Zähne wurden unter seiner Oberlippe sichtbar, sein Gesicht bestand nur noch aus häßlichen Runzeln, und das graue, geschorene Haar sträubte sich. Wieder zögerte er, fügte dann aber etwas milder gestimmt hinzu: »Es sei denn, der verstorbene Mr. Timothy Starberth hätte es mündlich an seinen Sohn weitergegeben. Er hat, das muß ich allerdings sagen, die Tradition nie besonders ernstgenommen.«
Sir Benjamin wanderte eine Weile vor dem Kamin hin und her, die Hände hinterm Rücken zusammenschlagend. Dann wandte er sich um.
»Wann haben Sie dem jungen Starberth die Schlüssel übergeben?«
»Gestern nachmittag, in meinem Büro in Chatterham.«
»Begleitete ihn irgend jemand?«
»Sein Vetter Herbert.«
»Bei dem Gespräch selbst war Herbert aber nicht anwesend, nehme ich an?«
»Selbstverständlich nicht. Ich händigte ihm die Schlüssel aus und gab ihm jene Anweisungen, die mir noch blieben: daß er den Safe und die Kassette öffnen, den Inhalt eingehend betrachten und mir dann eine der Karten mit Anthony Starberths Namen darauf bringen sollte. Das war alles.«
Rampole, der weiter hinten im Schatten saß, mußte wieder an die beiden Gestalten auf der weißen Landstraße denken. Martin und Herbert waren also vom Büro des Anwalts gekommen, als sie mit ihnen zusammengetroffen waren und Martin so höhnisch den rätselhaften Satz gesprochen hatte: »Das Wort heißt Galgen.« Und er dachte an das vergilbte Blatt Papier mit diesen seltsamen, unsinnigen Versen, das Dorothy ihm gezeigt hatte. Jetzt war ziemlich klar, was in der Kassette gelegen hatte - trotz Dr. Fells Spott über ein > Papier<. Dorothy Starberth saß reglos und mit gefalteten Händen da. Doch sie schien heftiger zu atmen... Warum?
»Sie lehnen es also ab, Mr. Payne«, sagte der Chief Constable weiter, »uns zu sagen, was die Kassette im Tresor sonst noch enthielt?«
Paynes Hand fuhr hinauf zu seinem Kinn und strich darüber. Diese Geste, erinnerte sich Rampole, war ein Zeichen seiner Nervosität. »Es war ein Dokument«, antwortete er vorsichtig. »Mehr kann ich nicht sagen, Gentlemen.«
Dr. Fell erhob sich wie ein riesiges Walroß, das aus dem Wasser auftaucht.
»Aha«, sagte er, prustete heftig und stieß scharf mit einem der Stöcke auf den Boden. »Das dachte ich mir. Das war es, was ich wissen wollte. Dieses Dokument durfte unter keinen Umständen die Kassette verlassen, nicht wahr, Payne? - Gut! Sehr gut! Dann kann ich jetzt weitermachen.«
»Ich dachte, Sie glaubten nicht an die Existenz eines Dokumentes«, meinte der Chief Constable und drehte sich mit noch spöttischerem Gesichtsausdruck dem Doktor zu.
»Oh, das habe ich nie gesagt«, protestierte der mild. »Ich habe mich bloß gegen Ihre wilden Vermutungen gewandt, die ohne jede logische Grundlage davon ausgingen, es gäbe eine Kassette und ein Dokument. Ich habe nie gesagt, daß Sie Unrecht hatten. Im Gegenteil, ich gelangte selbst bereits früher zu den gleichen Schlüssen, allerdings auf der Grundlage guter und logischer Beweise. Das ist der Unterschied, wissen Sie.«
Er hob den Kopf und blickte Payne an. »Ich möchte Sie nicht wegen des Dokumentes bedrängen, das Anthony Starberth im frühen neunzehnten Jahrhundert seinen Erben hinterlassen hat«, erklärte er ruhig. »Doch, Payne, was ist mit dem anderen Dokument?«
»Dem anderen -?«
»Ich meine dasjenige, das Timothy Starberth, Martins Vater, vor noch nicht ganz zwei Jahren in der Stahlkassette desselben Tresors deponierte.«
Kaum merklich rundete Payne seine Lippen, als wollte er Tabaksrauch langsam herausblasen. Er bewegte sich ein wenig, und das Knarren der Dielenbretter war deutlich in der lastenden Stille des Raumes zu vernehmen.
»Was soll das? Was hat das zu bedeuten?« stieß Sir Benjamin hervor.
»Machen Sie weiter«, sagte Payne ruhig.
»Ich habe die Geschichte wohl ein Dutzend Mal gehört«, fuhr Dr. Fell fort und nickte geistesabwesend, »wie der alte Timothy, kurz bevor er starb, dalag und schrieb. Blatt um Blatt schrieb er voll, obwohl sein Körper so zerschmettert war, daß er kaum den Stift halten konnte. Mit einer Schreibunterlage über seinem Bett, fröhlich plappernd und aufgekratzt, tat er nichts als immer nur schreiben.«
»Na und?« fragte Sir Benjamin.
»Na und, was schrieb er denn da? Anweisungen für meinen Sohn<, sagte er, aber das war gelogen. Das sollte nur einige von Ihnen von der Fährte abbringen. So wie die Dinge um diese sogenannte >Bewährungsprobe< standen, benötigte sein Sohn keinerlei weitere Anweisungen - lediglich die Schlüssel von Payne. Auf jeden Fall hätte es dazu nicht ganzer Seiten eines engbeschriebenen Manuskriptes bedurft. Und der alte Timothy hat auch nichts abgeschrieben, das war überhaupt nicht nötig. Außerdem hat Anthonys >Dokument<, wie Payne bestätigt, den Tresor niemals verlassen. Was also schrieb er?«
Niemand sagte ein Wort. Rampole war an den Rand seines Sessels gerutscht. Von dort konnte er Dorothy Starberths Augen sehen, die unverwandt auf Dr. Fell gerichtet waren. Sehr laut fragte Sir Benjamin:
»Na schön. Was schrieb er denn?«
»Die Geschichte seines eigenen Mordes«, sagte Dr. Fell.