Kapitel 9

Ein gewundener Kiesweg. Graue Tauben, die mißtrauisch unter den Ulmen umherstolzierten. Ein kurzgeschorener Rasen und die Schatten von Vögeln unter der Sonne. Das schlichte, hohe Haus aus dunkelroten Ziegeln, mit weißen Blenden und einer weißen Kuppel, die von einer vergoldeten Wetterfahne gekrönt wurde, war seit den Tagen der Königin Anne in Würde gealtert. Bienen summten irgendwo, und der süße, schwere Geruch von Heu lag in der Luft.

All das hatte Rampole vergangene Nacht nicht wahrgenommen. Es hatte geregnet, als der Ford des Pfarrers hier vorgefahren war und er mit Saunders den leichten Körper, der schon steif wurde, diese Stufen hinaufgetragen hatte. Eine prachtvolle Eingangshalle hatte sich vor ihnen aufgetan, als seien sie mit ihrer tropfenden Last plötzlich vor tausend Zuschauern auf eine hell erleuchtete Bühne gestoßen worden. Als er nun mit seinen Begleitern die Auffahrt hinaufging, schrak er innerlich davor zurück, ihr wiederzubegegnen. Ja, so war es gewesen: auf eine Bühne geschubst, ohne Text, verwirrt und fehl am Platz; entblößt, wie manchmal in bösen Träumen. Sie hatte nicht in der Eingangshalle gewartet. Nur der Butler - wie hieß er doch gleich? - hatte mit leichter Verneigung dort gestanden, die Hände gefaltet. Er hatte im Büro eine Couch vorbereitet.

Sie war aber sofort aus der Bibliothek gekommen. Ihre geröteten Augen hatten erkennen lassen, daß sie einen schrecklichen Weinkrampf gehabt hatte. Doch war sie ruhig und preßte mit ausdruckslosem Gesicht ein Taschentuch. Er hatte nichts gesagt. Was, zum Teufel, hätte er auch sagen sollen? Jedes Wort, jede Geste - alles hätte doch nur plump und schwerfällig aussehen können. Er wußte nicht, warum; es hätte einfach so ausgesehen. Er hatte nur erbärmlich in der Tür gestanden, mit durchnäßten Flanellhosen und Tennisschuhen, und war, so schnell er konnte, wieder verschwunden. Er erinnerte sich noch an seinen Abgang: Es hatte eben zu regnen aufgehört, und die Standuhr schlug Eins. In seiner Erbärmlichkeit hatte er sich, wie ihm jetzt wieder einfiel, an dieser kleinen Sache festgeklammert: Der Regen hörte um ein Uhr auf. Der Regen hörte um ein Uhr auf. Das mußte er sich merken. Warum? Nun, egal -

Nicht, daß er irgendwie Trauer über den Tod von Martin Starberth empfunden hätte. Er hatte ihn nicht mal gemocht. Es war das, wofür er stand: das Verlorene und Verzweifelte im Gesicht des Mädchens, als sie hereinkam, um ihren Toten zu betrachten. Wie sie ihr Taschentuch knetete, das kurze Zucken im Gesicht, wie bei einem Schmerz, der zu groß ist, um noch ertragen zu werden. Der elegante Martin hatte merkwürdig ausgesehen im Tod: Er trug ein Paar alter grauer Hosen und eine zerrissene Tweedjacke... Wie würde es Dorothy jetzt gehen? Er bemerkte die verschlossenen Läden und den Trauerflor an der Tür und fröstelte innerlich.

Budge öffnete ihnen und wirkte erleichtert, als er den Chief Constable erkannte.

»Ja, Sir«, sagte er, »soll ich Miss Dorothy holen?«

Sir Benjamin sog an seiner Unterlippe. Ihm war unbehaglich.

»Nein, im Moment noch nicht. Wo ist sie?«

»Oben, Sir.«

»Und Mr. Starberth?«

»Ebenfalls oben, Sir. Die Leute vom Bestattungsinstitut sind hier.«

»Sonst noch jemand?«

»Ich glaube, Mr. Payne ist auf dem Weg hierher, Sir. Und Dr. Markley wollte kommen, Sir. Er sagte mir, daß er Sie sehen wollte, Sir, sobald er seine Morgenrunde beendet habe.«

»Aha. Verstehe. Übrigens, Budge... diese Leute vom Begräbnisinstitut: Ich möchte die Kleidungsstücke sehen, die Mr. Starberth letzte Nacht getragen hat, und den Inhalt der Taschen, verstanden?«

Bugde neigte seinen leicht platten Kopf zu Dr. Fell. »Ja, Sir. Dr. Fell erwähnte diese Möglichkeit bereits letzte Nacht. Ich nahm mir die Freiheit, alles aufzubewahren, ohne irgend etwas aus den Taschen zu holen.«

»Gut, Mann. Holen Sie das Zeug und bringen Sie es in die Bibliothek... Und - äh - Budge!«

»Ja, Sir?«

»Falls Sie Miss Starberth sehen sollten«, sagte Sir Benjamin nervös, »teilen Sie ihr mein tiefstes - äh - Sie verstehen? Ja.« Er zögerte, dieser aufrichtige Polizeioffizier, und errötete leicht, weil ihm das wohl wie eine >Irreführung von Freunden< erschien. »Und ich würde gerne Mr. Herbert Starberth sehen, sobald es genehm ist.«

Budge blieb ungerührt. »Mr. Herbert ist bis jetzt noch nicht zurück, Sir.«

»Oh, ja! Verstehe. Gut, dann holen Sie jetzt die Kleidungsstücke.«

Sie betraten die abgedunkelte Bibliothek. In einem Trauerhaus, wo die Gefühle aufgewühlt sind, behalten allein die Frauen einen klaren Verstand; Männer, wie diese vier, sind sprachlos und ungeschickt. Saunders war der einzige, der Anzeichen innerer Ruhe zeigte. Er hatte seine glatten Manieren wiedergewonnen und sah so salbungsvoll aus, als wollte er das Gebetbuch aufschlagen und daraus vorlesen.

»Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, Gentlemen«, sagte er. »Ich glaube, ich sehe einmal nach, ob mich Miss Starberth empfängt. Dies ist eine schwere Prüfung, eine schwere Prüfung; und wenn ich etwas Beistand leisten kann...«

»Schon recht«, sagte der Chief Constable mürrisch. Als der Pfarrer weg war, begann er, auf und ab zu gehen. »Natürlich ist es eine schwere Prüfung. Aber warum, zum Teufel, darüber reden? Ich schätze so was nicht.«

Rampole stimmte ihm von Herzen zu. Sie standen alle nervös in dem großen, ehrwürdigen Raum herum; Sir Benjamin öffnete einige Läden. Zart tönten silbrige Stundenschläge von der großen Uhr in der Eingangshalle herüber. In dieser Bibliothek sah alles alt, solide und traditionsgebunden aus. Da stand ein Globus, den nie jemand drehte, die Regale steckten voll mit Werken anerkannter Autoren, die niemand je las, und über dem Kaminsims hing ein ausgestopfter Schwertfisch, den (davon war man überzeugt) niemand je gefangen hatte. In einem Fenster hing, wie ein Amulett gegen Hexen, eine Glaskugel.

Budge kam bald zurück mit einem Wäschebeutel über dem Arm.

»Alles da«, verkündete er, »mit Ausnahme der Unterwäsche. Nichts wurde aus den Taschen entfernt.«

»Danke Ihnen. Bleiben Sie, Budge. Ich möchte Ihnen gerne einige Fragen stellen.«

Dr. Fell und Rampole kamen herüber, um zuzusehen, wie Sir Benjamin den Beutel auf den Tisch in der Mitte legte und begann, die Sachen nacheinander herauszuholen. Eine graue Jacke, die vor Dreck starrte, abgewetzt und mit aufgerissenen Nähten. Einige Knöpfe fehlten.

»Aha«, murmelte der Chief Constable und griff in die Taschen. »Eine Zigarettendose - recht hübsch, mit - sieht nach amerikanischen Zigaretten aus. Ja. Lucky Strike. Eine Streichholzschachtel. Eine Taschenflasche mit Brandy, zwei Drittel voll. Das war es auch schon.«

Er kramte weiter.

»Ein altes Hemd, nichts in der Tasche. Socken. Hier die Hose, ebenfalls reparaturbedürftig. Er hat gewußt, daß es eine staubige Angelegenheit werden würde, in diesem Gefängnis herumzustolpern. Hier steckt seine Brieftasche.« Sir Benjamin zögerte. »Ich glaube, ich werfe doch besser einen Blick hinein. Hm. Eine Zehnschillingnote, zwei Pfundnoten und ein Fünfer. Briefe, alle an ihn, abgeschickt in Amerika, amerikanische Briefmarken. >Martin Starberth, Esqu., 470 West 24. St. N.Y.< Hm. Glauben Sie, irgendein Feind könnte ihm aus Amerika hierher gefolgt sein...?«

»Ich bezweifle es«, sagte Dr. Fell. »Die können Sie weglegen.«

»Ein Notizbuch voller Eintragungen. >A & S<, 25, >Good Roysterers<, 10, >Roaring Caravans<, 3, >Oedipus Rises<, >Bloo-mingdales<, 25, >Good -< Was soll das alles?«

»Wahrscheinlich Bestellungen«, sagte Rampole. »Er erzählte mir, er sei im Verlagsgeschäft tätig. Sonst noch was?«

»Eine Anzahl Karten. >Der Freiheits-Club<, 65 West 51. St., Clubs jeder Art, Dutzende davon. >Valhalla Cordial Shop, We Deliver 342 Bleecker- «

»Ist in Ordnung«, meinte Rampole. »Ich verstehe.«

»Das war's. Damit hätten wir Brieftasche und Kleidung. Warten Sie! Donnerwetter! Hier steckt seine Uhr. Läuft noch. Der Körper dämpfte die Wucht des Falls und die Uhr - «

»Lassen Sie mich sehen«, schaltete sich Dr. Fell plötzlich ein. Er drehte die flache goldene Uhr um, deren Ticken laut und vernehmlich durch den stillen Raum tönte. »In den Romanen«, fuhr er fort, »ist die Uhr des Toten immer äußerst vorteilhaft zerstört und bringt den Detektiv auf eine falsche Todeszeit, weil der Mörder die Zeiger natürlich anders eingestellt hat. Sehen Sie also hier die Ausnahme aus dem wirklichen Leben.«

»Ich verstehe«, versetzte der Chief Constable. »Doch warum sind Sie daran so interessiert? In unserem Mordfall spielt doch die Todeszeit überhaupt keine Rolle.«

»Oh doch!« sagte Dr. Fell. »Eine größere, als Sie denken. Momentan zeigt die Uhr fünfundzwanzig Minuten nach zehn.« Er spähte zu der Uhr auf dem Kaminsims hinüber. »Die Uhr dort zeigt auf die Sekunde genau ebenfalls fünfundzwanzig Minuten nach zehn... Budge, wissen Sie zufällig, ob diese Uhr richtig geht?«

Budge nickte. »Ja, Sir. Sie geht richtig. Das weiß ich genau, Sir.«

Der Doktor zögerte, sah den Butler scharf an und legte die Uhr hin.

»Sie blicken verflixt ernst drein, Mann« sagte er. »Warum sind Sie denn so sicher?«

»Weil letzte Nacht etwas Ungewöhnliches passiert ist, Sir. Die Standuhr in der Eingangshalle ging zehn Minuten vor. Ich - äh -bemerkte es zufällig, als ich sie mit der Uhr hier drinnen verglich. Daraufhin ging ich rund, um alle anderen Uhren im Haus zu überprüfen. Normalerweise stellen wir unsere Uhren nach der Standuhr, Sir, und ich dachte - «

»Sie haben also nachgeschaut«, fragte Dr. Fell. »Sie haben auch die anderen Uhren überprüft, ja?«

»Wieso - ja, Sir«, sagte Budge leicht erschrocken.

»Und? Gingen sie richtig?«

»Das, wenn ich so sagen darf, Sir, ist das Komische an der Sache. Alle gingen richtig. Alle, außer der Standuhr. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es dazu kam, Sir. Jemand muß sie verstellt haben. In der Aufregung und Eile hatte ich noch keine Möglichkeit, der Sache nachzugehen... «

»Was soll das alles?« wollte der Chief Constable wissen. »Nach dem, was Sie mir erzählt haben, erreichte der junge Starberth das Gouverneurszimmer doch Schlag elf. Seine Uhr stimmt, alles stimmt... «

»Ja«, sagte Dr. Fell. »Das ist es ja eben, was alles so falsch werden läßt, wissen Sie. Eine Frage noch, Budge. Gibt es eine Uhr in Mr. Martins Zimmer?«

»Ja, Sir. Ein große Wanduhr.«

Dr. Fell nickte einige Male, als ginge er mit sich selbst zu Rate. Dann schlurfte er zu einem Sessel und ließ sich seufzend darin nieder.

»Fahren Sie fort, alter Knabe. Ich stelle vielleicht in den komischsten Augenblicken jede Menge blöder Fragen, und wahrscheinlich werde ich das noch den ganzen Tag lang bei jedem Ihrer Zeugen machen. Ertragen Sie mich bitte, ja? - Eh, Budge! Wenn Sir Benjamin mit Ihnen fertig ist, möchte ich, daß Sie die Person ausfindig machen, die die Uhr in der Eingangshalle verstellt hat. Das ist ziemlich wichtig.«

Der Chief Constable trommelte ungeduldig mit seinen Fingern auf den Tisch. »Sind Sie sicher, daß Sie jetzt fertig sind?« fragte er. »Wenn nicht - «

»Nun, ich könnte noch darauf hinweisen«, antwortete der Doktor und hob seinen Stock, »daß der Mörder mit Sicherheit etwas aus diesen Kleidungsstücken entwendet hat. Was wohl? -Natürlich die Schlüssel, Mann! All die Schlüssel, die er gehabt haben muß. Die haben Sie ja nicht gefunden, oder?«

Sir Benjamin schwieg und nickte nachdenklich. Mit einer entschlossenen Geste wandte er sich dann an Budge. Erneut kauten sie dieselben unergiebigen Einzelheiten durch, die sie schon in der vergangenen Nacht erfahren hatten. Rampole wollte das nicht noch einmal hören. Er kannte die schlichten Fakten schon, die Dr. Fell dem Butler entlockt hatte. Er wollte Dorothy Starberth sehen. Der Pfarrer würde jetzt oben bei ihr sein und sie wie ein frommer Heizer mit tröstenden Platitüden zuschaufeln, in der Annahme, die Tröstung hänge von der Menge des Gesagten ab. Er konnte sich genau vorstellen, wie Saunders seine konventionellen Sätze in genau jener glatten, gedankenlosen Manier aufsagte, bei der Frauen dann »Sie sind mir ja so eine Hilfe!« murmeln und sich für das Zartgefühl bedanken können.

Warum schwiegen die Menschen nicht in Gegenwart des Todes? Warum stammelten sie immer wieder diesen Unsinn wie: »Er-sieht-so-natürlich-aus, nicht?« und all die anderen Bemerkungen, bei denen die Frauen bloß wieder anfangen zu heulen? Einerlei. Ihm mißfiel die Vorstellung, daß Saunders (der diese Rolle auch noch genießen würde) da oben so freundlich und brüderlich mit ihr tat. Budges berufsmäßig gelassene Miene ging ihm ebenfalls auf die Nerven und dieser gelackte Satzbau und diese makellosen Aussprüche, als kämen seine Worte aus einer Sprechmaschine. Schlechtes Benehmen oder nicht - er konnte hier nicht länger herumsitzen. Was die anderen auch darüber denken mochten, er mußte näher bei ihr sein. Damit schlüpfte er aus dem Zimmer.

Aber wohin jetzt? Wohl nicht nach oben, denn das wäre doch ein wenig des Guten zuviel. Er konnte aber auch nicht in der Halle herumschleichen, als suche er den Gaszähler. Gab es eigentlich Gaszähler in England? Na ja. Er schlenderte in den hinteren Teil der dämmrigen Halle und entdeckte in der Nähe der Treppe eine halbgeöffnete Tür. Eine Gestalt stand dort im Gegenlicht - Dorothy Starberth winkte ihm zu.

Als er im Schatten der Treppe vor ihr stand und ihre Hände ergriff, spürte er, daß sie zitterte. Anfangs hatte er Angst, ihr ins Gesicht zu sehen, weil er trotz des Kloßes in seinem Hals herauszuplatzen fürchtete: »Ich habe dich enttäuscht, aber ich hätte dich nicht enttäuschen dürfen!« Aber das zu sagen - nein! Oder er könnte ihr, hier im schützenden Schatten neben dem sanften Ticken der alten Uhr, erklären: »Ich liebe dich.« Der Gedanke an das, was er noch alles sagen könnte, traf ihn mit stechendem Schmerz.

Doch es fielen keine Worte. Nur die Uhr murmelte in dieser stillen Kathedrale; in ihm aber rief es: Großer Gott, warum muß es bloß all diesen Unsinn geben, diese Pflicht zu Stärke und Selbstvertrauen, und das noch bei jemandem wie ihr? So möchte ich sie nicht. Ihren zarten Körper, den ich jetzt in meinen Armen halten könnte, würde ich beschützen und behüten. Und ihr Flüstern klänge für mich wie ein Kriegsruf in der Nacht. Gegen diesen Schutz könnte ihr nicht einmal die Hölle etwas anhaben, denn ich hielte sie für immer fest. Aber ihm war klar, daß er diesen Überschwang jetzt zügeln mußte. Das war ja doch nur verrücktes, lächerliches Zeug, was er da phantasierte. Aus diesem Gewirr seiner Träume allerdings drang jetzt sein unbeholfenes Selbst, das sagte:

»Ich weiß...«

Ein törichtes Flüstern, als er ihre Hand streichelte. Dann fanden sie sich irgendwie hinter der Tür wieder, in einem kleinen Arbeitszimmer mit heruntergelassenen Markisen.

»Ich habe gehört, wie du hereinkamst«, sagte sie mit leiser Stimme, »und ich hörte auch, daß Mr. Saunders die Treppe heraufkam, aber ich wollte nicht mit ihm reden. Deshalb ließ ich ihn von Mrs. Bundle aufhalten und kam über die Hintertreppe herunter. Sie wird ihm schon die Ohren vollquatschen.«

Sie setzte sich auf ein altes Roßhaarsofa, ihr Kinn in die Hände gestützt, die Augen schwer und ohne Glanz. Sie schwiegen. Der verschlossene, dämmrige Raum war drückend schwül. Als sie mit einer kleinen verkrampften Geste wieder zu reden begann, berührte er ihre Schulter.

»Wenn du lieber nicht reden willst...«

»Ich muß aber reden. Es scheint schon Tage her zu sein, daß ich das letzte Mal geschlafen habe. Und ich muß gleich auch noch da hinein, um die ganze Sache mit denen nochmal durchzukauen.«

Sein Griff wurde fester. Sie hob den Kopf.

»Du mußt mich nicht so ansehen«, sagte sie sanft. »Glaubst du mir, daß ich Martin nie sonderlich gern gemocht habe? Das ist es nicht, sein Tod, meine ich. Er hat nie einem von uns besonders nahe gestanden, weißt du. Eigentlich sollte ich mich schlimmer fühlen, als ich es tue.«

»Nun, dann...«

»Beides ist aber gleich schlimm!« rief sie mit erhobener Stimme. »Entweder, wir können nichts daran machen und sind verhext, verdammt, wir alle; es liegt im Blut. Vergeltung. Ich habe nie daran geglaubt und werde es auch nicht glauben. Oder - «

»Schluß damit. Du mußt dich zusammenreißen.«

»Oder - vielleicht auch beides. Wie sollen wir wissen, was alles im Blut eines Menschen steckt? In deinem oder meinem oder dem von irgend jemand? Vielleicht gibt es Mörderblut genausogut wie Gespenster... Ist die Tür auch zu?«

»Ja.«

»Jeder von uns, ach - « Ihre Stimme wurde unsicher, und sie preßte die Hände zusammen, als könne sie nichts mit ihnen anfangen. »Ich könnte ja dich töten. Ich würde vielleicht die Pistole aus der Schreibtischschublade dort nehmen, weil ich gar nicht anders könnte, und plötzlich...« Sie zitterte. »Wenn diese ganzen Leute nicht zum Selbstmord verdammt waren oder vom Schicksal persönlich vom Balkon gestoßen wurden oder von Gespenstern, ich weiß nicht - dann war irgend jemand dazu verdammt, sie zu töten -aus unserer Familie... «

»Du mußt aufhören damit! Hörst du! Sieh mal - «

Sie nickte nur sanft, strich mit den Fingerspitzen über ihre Augenlider und blickte auf. »Glaubst du, daß Herbert Martin getötet hat?«

»Nein! Nein, natürlich nicht. Und es war auch nicht dieser Gespensterquatsch. Außerdem weißt du genau, daß dein Vetter Martin niemals hätte töten können. Er bewunderte ihn. Und er ist solide und zuverlässig - «

»Er hat manchmal mit sich selbst gesprochen«, sagte das Mädchen dumpf. »Ich erinnere mich jetzt, er sprach mit sich selbst. Die Stillen sind es, vor denen habe ich Angst. Das sind diejenigen, die verrückt werden, wenn es sich wirklich um verseuchtes Blut handelt... Er hatte große rote Hände. Und seine Haare wollten einfach nicht liegenbleiben, so sehr er sie auch glattstrich. Er war so zart gebaut wie Martin, aber seine Hände waren viel zu groß. Er hat immer versucht, wie Martin auszusehen. Ich frage mich, ob er Martin vielleicht gehaßt hat?«

Ein kurzes Schweigen, während sie an den Nähten des Sofas herumzupfte.

»Ständig versuchte er, etwas zu erfinden, was aber niemals funktionierte. Eine neue Buttermaschine zum Beispiel. Er hielt sich für einen Erfinder. Von Martin wurde er immer ausgelacht.«

Plötzlich standen Gestalten im dunklen Zimmer. Rampole sah zwei Figuren im Sonnenuntergang mitten auf einer Straße stehen, sehr ähnlich in ihrer Erscheinung und doch so wesensverschieden. Martin betrunken, eine Zigarette im Mundwinkel. Herbert linkisch und mit stumpfen Gesichtszügen, einen schlechtsitzenden Hut genau auf der Mitte des Kopfes. Man fühlte, wenn Herbert jetzt rauchte, dann würde ihm die Zigarette exakt in der Mitte des Mundes stecken und nur peinlich zittern.

»Jemand hat gestern abend den Safe in der Bibliothek geöffnet«, sagte Dorothy Starberth. »Das ist etwas, was ich Dr. Fell gestern erzählt habe. Ich habe ihm vieles nicht gesagt, was wichtig gewesen wäre. Ich habe ihm auch nicht berichtet, daß Herbert beim Abendessen viel aufgeregter war als Martin... Es war Herbert, der den Bibliothekssafe geöffnet hat.«

»Aber - «

»Martin kannte die Kombination nicht. Er war zwei Jahre weg und hatte gar keine Gelegenheit dazu. Die einzigen, die sie kannten, waren ich selbst, Mr. Payne - und Herbert. Ich sah das Ding gestern abend offenstehen.«

»Fehlte etwas?«

»Ich glaube nicht. Es wurden keine Wertsachen darin aufbewahrt. Seit Vater sich dieses Arbeitszimmer hier einrichtete, hat er den Safe nicht mehr benutzt. Ich bin sicher, daß er ihn jahrelang nicht geöffnet hat, und von uns anderen auch keiner. Er war bloß vollgestopft mit alten Papieren. Es ist nichts entwendet worden, jedenfalls nichts, was mir aufgefallen wäre. Ich habe aber etwas gefunden.«

Er fragte sich, ob sie hysterisch wurde. Sie erhob sich vom Sofa, öffnete den Sekretär mit einem Schlüssel, der um ihren Hals hing, und zog ein vergilbtes Stück Papier heraus. Als sie es ihm reichte, unterdrückte er das Verlangen, sie in seine Arme zu schließen.

»Lies!« sagte sie atemlos. »Dir vertraue ich. Den anderen werde ich nichts erzählen. Ich muß es jemandem sagen... Lies!«

Verwirrt betrachtete er das Blatt. »3. Februar 1895. Meine Abschrift der Verse - Timothy Starberth«, stand in verblaßter Tinte darüber. Sie lautete:

Er klassisch übern Himmel fährt;

Wenn Alpha ruft nach seinem Ende,

Wo Newgate-Kittchen wallbewehrt -Schifft Charon darauf Diesseits' Wende.

Homer von Trojas Unglück sang -Dort scheint die Sonn' um Mitternacht,

Ist mondbesternt und macht schön bang:

Der Kors' ward hier zur Welt gebracht!

Wo ruht dein aschzerstäubt' Gebein?

Dein Fuß stößt dran, du bist erstaunt,

Zur Krippe weist Kometenschein.

Der Kelten blinder Sänger raunt:

Wohl schwarzen Todes Boten sind.

Nimm Ost-Süd-West: wer's findt, gewinnt!

»Tja«, murmelte Rampole über die Zeilen gebeugt, »sehr schlechte Verse, die, soweit ich sehe, nicht den geringsten Sinn ergeben. Aber das trifft auf eine Menge Gedichte zu, die ich gelesen habe.., Was ist das?«

Sie blickte ihn fest an. »Siehst du das Datum? Der dritte Februar war Vaters Geburtstag. Er wurde 1870 geboren und war 1895 also -«

»Fünfundzwanzig Jahre alt!« entfuhr es Rampole.

Beide schwiegen, und Rampole starrte die rätselhaften Verse mit allmählich erwachendem Verständnis an. All die wilden Vermutungen, die er und Sir Benjamin angestellt hatten und die Dr. Fell doch so heftig verspottet hatte, nahmen wieder Gestalt an.

»Jetzt werde ich dir mal weiterhelfen«, schlug er vor. »Wenn das stimmt, dann befand sich das Original dieses Papiers - es heißt hier ja >meine Abschrift - im Tresor des Gouverneurszimmers. Stimmt's?«

»Das muß es also sein, was die ältesten Söhne sich ansehen sollten.« Sie nahm ihm das Blatt aus der Hand, als würde sie es hassen. Sie hätte es zerknüllt, wenn er nicht den Kopf geschüttelt hätte. »Ich habe darüber nachgedacht und wieder nachgedacht«, sagte sie. »Das ist die einzige Erklärung, die ich sehe. Ich hoffe, sie stimmt. Ich hatte mir so viele grausige Dinge vorgestellt, die im Safe sein könnten. Aber das hier ist genauso schlimm. Unsere Leute sterben weiter.«

Er setzte sich aufs Sofa.

»Wenn es da oben ein Original gegeben hat, dann ist es jetzt verschwunden.«

Ruhig und ohne etwas auszulassen erzählte er ihr von ihrem Besuch im Gouverneurszimmer. »Das hier«, fügte er dann hinzu, »ist in irgendeiner Weise ein Kryptogramm. Es muß eines sein. Könnte wohl irgendwer Martin getötet haben, bloß um hier dranzukommen?«

Diskret wurde an die Tür geklopft, und die beiden erschraken wie Verschwörer. Dorothy legte einen Finger auf die Lippen und verschloß das Blatt hastig im Schreibtisch.

»Herein«, sagte sie. In der Öffnung der Tür erschien Budges glattes Gesicht. Falls er überrascht war, Rampole hier vorzufinden, so ließ er sich nichts anmerken.

»Entschuldigen Sie, Miss Dorothy«, sagte er. »Mr. Payne ist soeben angekommen. Sir Benjamin würde Sie, wenn es Ihnen recht ist, gerne in der Bibliothek sprechen.«

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