Kapitel 6

Mr. Budge, der Butler, machte seine übliche Runde durch das Herrenhaus, um zu prüfen, ob alle Fenster des Hauses fest verschlossen waren, bevor er sich in sein ehrbares Junggesellenbett zurückziehen wollte. Mr. Budge wußte sehr genau, daß die Fenster verschlossen sein würden; das war während der fünfzehn Jahre, die er nun im Amt war, immer so gewesen, und das würde auch so bleiben - zumindest bis das große, backsteinerne Haus untergehen oder >von den Amerikanern aufgekauft und weggeschafft werden würde. Dieses Schicksal jedenfalls beschwor Mrs. Bundle, die Haushälterin, stets mit so unheilverkündender Stimme, als erzähle sie eine Gespenstergeschichte. Dennoch hegte er finsteren Argwohn gegen die Hausmädchen. Er wußte, daß alle Hausmädchen, kaum daß er ihnen den Rücken zukehrte, von dem Verlangen überwältigt wurden, im Haus herumzuschleichen und Fenster zu öffnen, so daß Landstreicher eindringen konnten. Bis zu Einbrechern verstieg sich seine Phantasie Gott sei Dank nicht.

Besonders gewissenhaft durchquerte er mit einer Lampe in der Hand die lange Galerie im oberen Stockwerk; in Kürze würde es regnen. Budges Gemüt war schwer belastet. Nicht von der bevorstehenden Nachtwache des jungen Herrn im Gouverneurszimmer. Das war Tradition, eine seit jeher feststehende Tatsache, wie in Kriegszeiten der Dienst für das Vaterland, den man ebenso stoisch akzeptierte; und wie der Krieg hatte sie ihre Gefahren, das war nun einmal so. Mr. Budge war ein verständiger Mann. Ihm war ebensogut bekannt, daß böse Geister existierten, wie er wußte, daß es Kröten, Fledermäuse und andere unerfreuliche Dinge gab. Doch hegte er den Verdacht, daß selbst die Gespenster in dieser degenerierten Zeit, in der die Hausmädchen zuviel Freizeit hatten, sanft und schwächlich geworden waren. Es war eben alles nicht mehr so wie in den alten Tagen, als sein Vater noch Dienst getan hatte. Doch seine vordringliche Aufgabe war jetzt, dafür zu sorgen, daß bei der Rückkehr des jungen Herrn in der Bibliothek ein anständiges Feuer brannte und dazu ein Teller mit Sandwiches und eine Karaffe Whisky bereitstanden.

Nein, seine Gedanken beschäftigten sich mit ernsteren Problemen. Als er in der Mitte der Eichengalerie die Wand mit den Porträts erreichte, machte er, wie üblich, eine kurze Pause und hielt seine Lampe direkt vor das Bild des alten Anthony. Ein Künstler des achtzehnten Jahrhunderts hatte den schwarzgekleideten Anthony gemalt, wie er die Orden auf der Brust und seine Hand auf einem Totenschädel am Tisch saß. Budge hatte noch volles Haar, und er war ein stattlicher Mann. Trotz Anthonys Vergangenheit liebte er es, Ähnlichkeiten zwischen sich selbst und dem blassen, reserviert klerikalen Gesichtsausdruck des ersten Gouverneurs festzustellen. Wenn er das Porträt betrachtet hatte, schritt er stets noch gemessener davon. Niemand würde sein dunkles Geheimnis erraten: daß er nämlich weinte bei den traurigen Passagen der Kinofilme, denen er verfallen war, und daß er sich einmal nächtelang schlaflos hin und her gewälzt hatte in der schrecklichen Furcht, Mrs. Tarpon, die Frau des Apothekers, könnte ihn in diesem Zustand während der Vorführung eines amerikanischen Films namens »Der Weg nach Osten« in Lincoln gesehen haben.

Hier besann er sich. Er war fertig mit dem Obergeschoß und ging mit dem würdevollen Schritt eines Gardesoldaten die breite Treppe hinunter. Die Gaslampen in der Eingangshalle brannten gleichmäßig - vielleicht ein leichtes Flackern dort im dritten Glühstrumpf von rechts. Er würde sich nicht wundern, wenn es auch hier demnächst Elektrizität gäbe! Wieder so etwas Amerikanisches! Selbst Mr. Martin war bereits von den Yankees korrumpiert; unbändig war er ja immer gewesen, dabei aber ein wirklicher Gentleman, bis er angefangen hatte, in diesem lauten Kauderwelsch zu reden, das niemand verstehen konnte und das von nichts anderem zu handeln schien als von Bars und Getränken, die nach Piraten benannt und mit Gin gemixt wurden, der doch nur was für alte Weiber und Säufer war. Und sogar einen Revolver trug er, soweit er wußte. »Tom Collins«, das war doch der Pirat? Oder hieß er John Silver? Und dann dieses Zeug, das sie »Sidecar« nannten...

Dabei mußte er an Mr. Herberts Motorrad denken. Budge wurde unruhig.

»Budge!« rief eine Stimme aus der Bibliothek.

Die Gewohnheit straffte seine Haltung und ließ sein Gesicht ausdruckslos werden. Bedächtig stellte er die Lampe auf den kleinen Tisch in der Halle und betrat die Bibliothek mit jenem geziemenden Ausdruck der Ungewißheit, ob er auch richtig gehört hatte.

»Sie haben gerufen, Miss Dorothy?« fragte Budge mit offiziellem Gesicht. Obwohl sein Inneres einer säuberlich abgewischten Schiefertafel glich, konnte er doch nicht umhin, eine verwirrende, ja beinahe schockierende Tatsache zu bemerken. Der Wandsafe war geöffnet. Dessen Position hinter dem Porträt von Mr. Timothy, seinem verstorbenen Herrn, war ihm bekannt; doch in fünfzehn Jahren hatte er ihn noch nie so unanständig entblößt und offen gesehen. Er bemerkte dies sogar noch, bevor er seinen Blick automatisch hinüber zum Kamin richtete, um sich zu vergewissern, daß das Holz gut brannte. Miss Dorothy saß, ein Blatt Papier in Händen, in einem der breiten, harten Sessel.

»Budge«, sagte sie, »würden Sie Mr. Herbert bitten herunterzukommen?«

Er zögerte. »Mr. Herbert ist nicht in seinem Zimmer, Miss Dorothy.«

»Würden Sie ihn dann bitte suchen?«

»Ich glaube, Mr. Herbert ist nicht im Hause«, sagte Budge so, als habe er einem Problem große Aufmerksamkeit gewidmet und sei nun zu einem Entschluß gekommen.

Sie ließ das Blatt in ihren Schoß sinken. »Budge, was um Himmels willen wollen Sie damit sagen?«

»Er - äh - hat nichts von einer bevorstehenden Abfahrt gesagt?«

»Gott im Himmel, nein ! Wo wollte er denn hin?«

»Ich erwähne die Angelegenheit nur, Miss Dorothy, weil ich kurz nach dem Abendessen in seinem Zimmer etwas zu erledigen hatte. Er schien gerade eine Tasche zu packen.«

Wieder zögerte Budge. Er wurde unruhig, weil ihr Gesicht einen seltsamen Ausdruck angenommen hatte. Sie erhob sich.

»Wann hat er das Haus verlassen?«

Budge blickte zur Uhr auf dem Kaminsims hinüber. Die Zeiger wiesen auf 23 Uhr 45. »Ich bin nicht sicher, Miss Dorothy«, gab er zurück. »Sehr bald nach dem Abendessen, glaube ich. Er fuhr auf seinem Motorrad weg. Mr. Martin hatte mich gebeten, ihm eine Fahrradlampe zu bringen, die für seinen - eh - Aufenthalt dort drüben geeignet sei. So kam es, daß ich Mr. Herberts Abfahrt bemerkte. Ich ging gerade hinaus in den Schuppen, um von einem der Räder eine Lampe abzumontieren, und - eh - da fuhr er an mir vorüber...«

Komisch, wie Miss Dorothy das aufnahm! Sicher, sie hatte ein Recht, über Mr. Herberts unerhörte Abfahrt, so ganz ohne jemandem ein Wort zu sagen, erregt zu sein, zumal da der Safe zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren offenstand; doch er mochte nicht, daß sie das zeigte. Er fühlte sich wie damals, als er durch ein Schlüsselloch gelauert und gesehen hatte - hastig verdrängte Budge den Gedanken, die Erinnerung an seine Jugendsünden machte ihn verlegen.

»Seltsam, daß ich ihn nicht bemerkt habe«, sagte sie und blickte Budge dabei forschend an. »Ich habe doch nach dem Abendessen mindestens eine Stunde vor dem Haus gesessen.«

Budge räusperte sich. »Das wollte ich ja gerade sagen, Miss Dorothy, er fuhr nicht die Auffahrt hinunter, sondern über die Weide in Richtung Shooters Lane. Ich bemerkte es, weil ich eine ganze Weile brauchte, um die richtige Lampe für Mr. Martin zu finden, und dabei sah ich, wie er in die Landstraße einbog.«

»Haben Sie Mr. Martin davon erzählt?«

Budge erlaubte sich, leicht schockiert auszusehen. »Nein, Miss Dorothy!« antwortete er mißbilligend. »Ich übergab ihm, wie Sie wissen, die Lampe, doch schien es mir nicht meine Aufgabe zu sein... «

»Danke sehr, Budge. Sie brauchen nicht mehr auf Mr. Martin zu warten.«

Er verbeugte sich, wobei er aus den Augenwinkeln noch feststellte, daß die Sandwiches und der Whisky an der richtigen Stelle standen, und zog sich zurück. Jetzt konnte er seine Grammatik wieder lockern, wie einen zu straff gezogenen Gürtel. Er war wieder Mr. Budge. Wie seltsam war doch die junge Herrin. Beinahe hätte er gedacht: »Freches, kleines Ding«, doch das wäre respektlos gewesen. So steif und poliert wirkte sie mit ihrer straffen Haltung und den kühlen Augen. Kein Gefühl, kein Herz. Er hatte sie doch aufwachsen sehen, seit - mal überlegen: Letzten April war sie einundzwanzig geworden -, also seit ihrem sechsten Lebensjahr. Sie war kein so umgängliches oder selbstsicheres Kind gewesen wie Mr. Martin, oder so still und dankbar für jede Aufmerksamkeit wie Mr. Herbert, sondern irgendwie merkwürdig...

Er merkte, daß es jetzt häufiger donnerte. Der Widerschein der Blitze drang in die dunkelsten Ecken des Hauses. Wie gut, daß er dieses Kaminfeuer entfacht hatte. Die alte Standuhr in der Eingangshalle mußte aufgezogen werden. Während er das tat, grübelte er weiter darüber nach, was für ein merkwürdiges Kind Miss Dorothy doch gewesen war. Besonders an eine Szene erinnerte er sich: ein Abendessen, er selbst bediente im Hintergrund, der Herr und die Herrin lebten noch. Master Martin und Master Herbert hatten mit ein paar anderen Jungen im Obstgarten von Oldham Krieg gespielt. Als Master Martin davon erzählte, hänselte er seinen Vetter, daß der nicht als Ausguck in die Äste des höchsten Ahornbaumes geklettert war. Martin war stets der Anführer gewesen, Herbert trottete immer nur gehorsam hinterdrein; doch diesmal hatte er es abgelehnt, dem Befehl zu gehorchen. »Ich wollte nicht!« wiederholte er bei Tisch. »Die Äste waren morsch!« »Das war richtig, Bert«, sagte die Herrin in ihrer freundlichen Art. »Sogar im Krieg muß man vorsichtig sein.« Doch die kleine Miss Dorothy, die den ganzen Abend noch nichts gesagt hatte, versetzte alle in Erstaunen, als sie plötzlich leidenschaftlich verkündete: »Wenn ich groß bin, dann werde ich aber einen Mann heiraten, der überhaupt nicht vorsichtig ist!« Dabei blickte sie sehr wild. Sie war von der Herrin getadelt worden, und der Herr hatte nur in seiner trockenen, häßlichen Art in sich hineingekichert. Seltsam, daß er sich ausgerechnet jetzt daran erinnerte...

Inzwischen regnete es. Als er mit dem Aufziehen der Uhr fertig war, begann sie zu schlagen. Budge, der gedankenverloren darauf starrte, war überrascht und wunderte sich, weshalb. Mitternacht, die Uhr schlug. Nun, das hatte seine Ordnung, sicherlich.

Nein. Irgend etwas war falsch. Im Hintergrund seines kleinen, automatisch funktionierenden Verstandes knirschte etwas. Bedrückt betrachtete er stirnrunzelnd die dem Zifferblatt aufgemalte Landschaft. Aha, jetzt hatte er es! Nur ein paar Minuten zuvor hatte er mit Miss Dorothy gesprochen, und da hatte die Uhr in der Bibliothek auf 23 Uhr 45 gestanden. Die Bibliotheksuhr mußte falsch gehen.

Er zog seine goldene Uhr, die in all den Jahren immer richtig gegangen war, aus der Tasche und öffnete sie. Zehn Minuten vor zwölf. Nein, die Bibliotheksuhr war richtig gegangen. Diese alte Standuhr hier, nach der die Hausmädchen alle anderen Uhren im Haus stellten, ging genau zehneinhalb Minuten vor. Budge unterdrückte einen Seufzer. Nun mußte er also, bevor er sich ruhigen Gewissens zu Bett begeben konnte, herumgehen und alle anderen Uhren ebenfalls inspizieren.

Die Uhr schlug zum zwölften Mal.

Im gleichen Augenblick klingelte das Telefon. Als Budge ging, um den Hörer abzunehmen, sah er Dorothy Starberths bleiches Gesicht in der Bibliothekstür...

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