KAPITEL 6

Noch ehe es hell wurde, war Fidelma aufgestanden, hatte sich gewaschen und angezogen. Leise verließ sie ihre Kammer, blieb stehen und blickte den Gang entlang. Sie hoffte, dass Bruder Wulfila es mit der heraufziehenden Morgendämmerung nicht länger für nötig gehalten hatte, auf dem Korridor vor der Kammer von Freifrau Gunora Wache zu halten. Tatsächlich war niemand zu sehen. Sie streifte die Sandalen ab, damit das Geräusch der Ledersohlen sie nicht verriet. Sie schreckte zurück, als die bloßen Füße die kalten Steinplatten berührten. Schwach drangen die ersten Geräusche der zum neuen Tag erwachenden Abtei an ihr Ohr. Vorsichtig schlich sie den Gang entlang, hielt die Sandalen in der Hand.

Sie gelangte an die Kammer, in der sie am Abend zuvor mit Freifrau Gunora gesprochen hatte, und blieb verwundert stehen. Die Tür war angelehnt, drinnen war es völlig still. Sie stieß die Tür auf und blickte in den Raum. Er war leer, alles deutete darauf hin, dass die Gäste übereilt abgereist waren. Ein Stuhl war umgekippt, Decken und Kissen lagen verstreut auf dem Boden. Nichts an persönlichen Gegenständen, Beuteln oder Taschen stand mehr da, keine der Sachen, die sie gesehen hatte, als Gunora sie hereingebeten hatte.

Sorgsam schaute sich Fidelma um. Freifrau Gunora und der junge Prinz mussten den Raum in großer Hast verlassen haben. Doch jetzt war nicht die Zeit, sich um einen weiteren rätselhaften Vorgang zu kümmern, sie hatte Wichtigeres vor. Fidelma ließ die Tür, wie sie sie vorgefunden hatte, und ging behutsam bis ans Ende des Ganges. Von Bruder Wulfila keine Spur. Auch die dort abzweigenden Korridore waren menschenleer. Niemand begegnete ihr auf dem Weg zu Bruder Ruadáns Zelle.

Von keinem bemerkt, trat Fidelma ein. Der Raum war jetzt ins sanfte Licht des frühen Morgens getaucht. Eingefallen und reglos lag Bruder Ruadán auf dem Bett, sein Atem ging schwach und asthmatisch.

»Bruder Ruadán«, flüsterte sie, so laut sie sich traute.

Der Atem stockte – ein Zeichen, dass Bruder Ruadán wach war und sie wahrgenommen hatte. Das Gesicht auf dem Kissen wandte sich ihr zu. Sie ging näher heran.

»Ich bin es, Fidelma.«

»Du bist zurückgekommen?« Nur mühsam wurden die Worte herausgepresst. »Ich … ich dachte, ich hätte geträumt, dass du gestern hier warst.«

Sie setzte sich auf die Bettkante und nahm seine kalte, wie mit Pergament überzogene Hand in ihre Hände. »Ich bin auch heute hier. Mein Besuch gestern hatte dich erregt.«

»Ist außer dir noch jemand da? Ich sehe alles nur verschwommen.« Wie gehetzt flitzten die fahlen Augen hin und her.

»Wir sind völlig allein«, versicherte sie ihm. »Was macht dir solche Angst?«

»Was treibt dich hierher – hierher nach Bobium?«

»Ich war auf dem Wege nach Massilia, doch mein Schiff geriet in einen Sturm und wurde leck geschlagen. So bin ich in Genua gestrandet. Per Zufall traf ich Magister Ado und erfuhr, dass du in dieser Abtei lebst, da bin ich einfach hergekommen, um dich zu besuchen. Es tut mir sehr leid, dass du so krank daniederliegst.«

Dem alten Mann entrang sich ein keuchendes Stöhnen. »Schlimm genug, dass du mich ausfindig gemacht hast. Meine Zeit hat sich bald erfüllt. Böses geht hier um, und ich fürchte, uns droht große Gefahr. Höre auf mich, kehre nach Genua zurück, so schnell wie möglich, setze deine Heimreise fort und vergiss diese Stätte.«

»Ich soll dich hilflos all dem Übel überlassen? Komm, erzähl mir, was sich hier abspielt, vielleicht finde ich einen Weg, dir zu helfen.«

»Mir ist nicht mehr zu helfen«, flüsterte der Kranke. »Ich gehe bald ein in die ewige Ruhe. Nur um eines möchte ich dich bitten …«

»Was immer ich für meinen alten Lehrer tun kann, das will ich tun«, erwiderte Fidelma mit fester Stimme.

»Wenn du heimkehrst, entzünde eine Kerze in der kleinen Kapelle auf Inis Celtra und bete für meinen Seelenfrieden.«

»Noch bist du nicht tot«, wandte sie entschieden ein und kämpfte gegen die Tränen, die ihr kamen.

»Ich werde es aber sein, noch ehe du in Genua bist.«

Vom Korridor her war das Klatschen von Ledersandalen auf Stein zu vernehmen; einer der Brüder ging vorüber. Fidelma spürte, wie der Druck seiner Finger in ihrer Hand plötzlich kräftiger wurde.

»Du musst mir glauben, Fidelma«, flüsterte er heiser. »Um der Liebe willen, die ich für deinen verstorbenen Vater, König Failbe Flann, stets gehegt habe, glaube mir. Ich fürchte, du gerätst bald in große Gefahr. Sie wollten mich töten, und den Jungen haben sie bereits umgebracht, um ihn mundtot zu machen. Sie werden auch keinen Augenblick zögern, dich zu ermorden. Sie wissen, ich habe das Gold gesehen. Sie wissen, dass ich sie im Verdacht habe … deshalb werde ich bald tot sein.«

»Welchen Jungen?«, fragte Fidelma erschrocken. »Meinst du Prinz Romuald?«

Der Alte schüttelte den Kopf derart heftig, wie es Fidelma ihm nie zugetraut hätte. »Nein, nein, nein. Den Ziegenhirt meine ich.«

»Den Ziegenhirt?«, fragte sie vollends verwirrt »Wer sind ›sie‹, und warum hatten sie es auf einen Ziegenhirten abgesehen? Erzähl mir, was du weißt.«

Der Sieche atmete pfeifend. »Ich bin erschöpft, ich kann nicht mehr. Um mich dreht sich alles. Je weniger du weißt, desto besser für dich. Verlass die Abtei, so schnell du nur kannst.«

»Heißt das, du rechnest damit, dass man dich umbringt?«, drang sie in ihn.

»Umbringt«, murmelte Bruder Ruadán wie geistesabwesend. »Der Junge … der kleine Wamba. Er hätte nicht sterben dürfen, bloß weil er die Münzen hatte. Tot. Altes Gold … Ich hab’s gesehen. Man mag nicht glauben, wie viel Böses ein Mausoleum bergen kann.«

»Ich versteh nicht, was du meinst.«

Wieder wurde es lebhaft auf dem Korridor, sie hörte Bruder Hnikar mit jemandem laut reden. Der Apotheker durfte sie nicht in Bruder Ruadáns Zelle überraschen. Sie neigte sich über ihren alten Lehrer.

»Ich komme später wieder, wenn abzusehen ist, dass wir nicht gestört werden. Wir müssen weiter miteinander reden, Bruder Ruadán«, hauchte sie ihm ins Ohr. Sie legte ihm die Hand an die Seite, ging lautlos zur Tür und lauschte, ohne sie zu öffnen.

Bruder Hnikars Stimme war leiser geworden, aber immer noch zu hören, und das gar nicht weit entfernt. Mit aller Vorsicht öffnete sie die Tür einen Spalt und spähte hinaus. Von ihrem Blickwinkel aus sah sie niemand, also öffnete sie die Tür ganz und schaute sich um. Etwas weiter im Gang stand eine Tür offen, und von dort kam die Stimme des Apothekers. Sie glitt in den Korridor, zog sacht die Tür hinter sich zu und huschte dorthin, wo ein anderer Gang im rechten Winkel abzweigte. Erst als sie um die Ecke gebogen und sicher war, von Bruder Hnikar nicht gesehen zu werden, falls er auf den Hauptgang hinaustrat, atmete sie auf und blieb stehen.

Sie überlegte. Was sie hatte ergründen wollen, hatte sie keineswegs erfahren, im Gegenteil, neue Fragen drängten sich auf, denen sie hilflos gegenüberstand. Eine Glocke erklang, und Mitglieder der Bruderschaft wandelten durch die Gänge. Zwei gingen an ihr vorbei, schauten auf ihre Füße und schienen belustigt. Da erst bemerkte sie, dass sie ihre Sandalen immer noch in der Hand hielt und barfuß war. Beschämt schlüpfte sie in das Schuhwerk und begriff, dass die Glocke zur ersten Mahlzeit des Tages rief. Sie folgte den Brüdern, die zweifelsohne zum refectorium strebten.

Bruder Bladulf, der Torhüter, kam auf sie zu und begrüßte sie mit einem achtungsvollen Neigen des Kopfes. »Ich wollte dir gerade den Weg zeigen, Schwester.« Er drehte sich um und ging ihr in den Saal voran. Sie wurde an den Tisch des Abts geführt, an dem jedoch einzig und allein der Ehrwürdige Ionas saß. Rasch wanderte ihr Blick durchs refectorium. Schwester Gisa war mit ihren Mitschwestern in ihrer Ecke, auch Bruder Faro hockte auf seinem Platz. Von Bischof Britmund und seinem Begleiter fehlte jede Spur. Sie begrüßte den Ehrwürdigen Ionas und setzte sich. Der alte Gelehrte erhob sich, und da der Abt nicht anwesend war, stimmte er das gratias, das Tischgebet, an. Dann ließ er sich nieder, und ein Glockenschlag verkündete den Beginn der Mahlzeit.

»Ist es nicht gegen die Gepflogenheiten, dass so viele der höheren Geistlichen beim ersten Mahl des Tages fehlen?«, fragte sie.

Der Ehrwürdige Ionas lächelte. »Es ist in der Tat ungewöhnlich«, bestätigte er. »Ein Reiter überbrachte die Nachricht, dass Seigneur Radoald in Kürze zu erwarten ist, und Abt Servillius trifft die Vorbereitungen für die Begegnung. Ich glaube nicht, dass es bei der Unterredung zu einem befriedigenden Ergebnis kommt.«

Fidelma verspürte wenig Lust, mehr über den Streit zwischen den Glaubensgemeinschaften zu hören, und ließ sich lieber ihr Frühstück schmecken. Sie wollte gerade die Halle verlassen, als Trompetenstöße erklangen. Neugierig blieb sie oben auf den Stufen stehen, die zum Innenhof hinunterführten. Bruder Wulfila eilte ans Portal der Abtei, und wenige Augenblicke später erschienen Abt Servillius und der Ehrwürdige Ionas neben ihr auf der Treppe.

Durch das weit geöffnete Tor trabten vier Reiter und hielten in der Mitte des Hofs. Ihr Anführer war unschwer als Radoald, Seigneur von Trebbia zu erkennen, und hinter ihm auf fahlgrauem Ross der Krieger Wulfoald. Alle saßen ab. Die Pferde wurden von den zwei anderen Reitern weggeführt, und Lord Radoald und Wulfoald schritten auf die Treppe zu. Der Abt eilte ihnen entgegen und hieß sie willkommen. Fidelma verharrte auf ihrer Stelle und beobachtete das Geschehen. Bischof Britmund und sein Begleiter hatten sich ebenfalls zur Begrüßung eingefunden. Der Abt führte seine Gäste ins Hauptgebäude. Als der junge Landesherr Fidelma erblickte, hob er grüßend die Hand, ging aber vorüber, ohne sie anzusprechen; auch Wulfoald nickte ihr nur von weitem zu.

Unschlüssig blieb sie stehen. Doch schon kam Bruder Faro, der sich mit einem anderen Bruder unterhalten hatte, auf sie zu. Er trug den Arm immer noch in der Schlinge.

»Was macht deine Wunde?«, fragte Fidelma lächelnd.

»Gott sei gelobt, Schwester, sie ist schon sehr viel besser. Schmerzt manchmal noch ein bisschen, heilt aber gut, wie Bruder Hnikar vorausgesagt hat.«

»Das freut mich zu hören.«

Magister Ado näherte sich ihnen, woraufhin Bruder Faro sich nervös entschuldigte: »Ich bitte um Verständnis, aber ich habe noch was zu tun … bin mit jemandem verabredet.«

Verwundert schaute ihm Fidelma nach, doch Magister Ado gesellte sich zu ihr und gluckste vergnügt.

»Der Bursche ist verliebt bis über beide Ohren«, tuschelte er.

»Schwester Gisa?«

»Ganz offensichtlich. Es ist zwar nicht verboten, miteinander zu verkehren, doch Abt Servillius gehört, wie du weißt, zu denen, die für die ›Trennung der Geschlechter‹ im Leben der Mönche eintreten. Die beiden, Gisa und Faro, geben sich alle Mühe, ihr Geheimnis zu wahren. Zum Glück ist Abt Servillius auf dem Auge ziemlich blind.«

»Ich verstehe.«

Magister Ado schaute hoch zum strahlend blauen Himmel und wechselte das Thema. »Der Tag heute ist wirklich schön. Ich könnte mir vorstellen, dass du die Gelegenheit nutzen möchtest, um einen Blick in unser herbarium zu werfen. Auf unseren Kräutergarten sind wir richtig stolz. Übrigens wird er von einem der Brüder aus Hibernia, Bruder Lonán, betreut. An einem Tag wie diesem sich draußen aufzuhalten, ist doch besser, als drinnen im Düstern zu hocken.«

»Sich gerade jetzt in den Garten zu begeben, ist vielleicht nicht angebracht«, gab Fidelma zur Antwort. »Aber du hast eine Möglichkeitsform benutzt. Du könntest dir vorstellen, hast du gesagt. Hat das einen Grund?«

»Du hörst wirklich sehr genau hin«, meinte Magister Ado belustigt. »Ich fürchte, man wird mich auffordern, an dieser Beratung teilzunehmen, dabei ist sie die reinste Zeitverschwendung.«

»Du scheinst dir dessen ziemlich sicher zu sein. Ich meine, was die Zeitverschwendung angeht.«

»Da bin ich mir völlig sicher. Mit Britmund Frieden schließen zu wollen, kommt dem Versuch gleich, einen Aal mit bloßen Händen zu fangen.«

Just in dem Augenblick erschien Bruder Wulfila im Hauptportal, schaute sich suchend um und hastete zu den beiden hinüber. »Magister Ado, die Beratung soll gleich beginnen, und der Abt bittet dich, dich sofort in die Amtsstube zu begeben«, sagte er ganz außer Atem. Und zu Fidelma gewandt: »Der Abt bittet auch ausdrücklich dich um deine Anwesenheit, Schwester Fidelma.«

»Du wirst sehen, nichts als Zeitverschwendung, aber Seigneur Radoald zuliebe müssen wir uns dreinfügen«, murmelte Magister Ado, als sie dem vor ihnen hereilenden Bruder Wulfila folgten.

Der führte sie in die Abtstube, in der sie auch den Bischof vorfanden. Verwundert stellte Fidelma fest, dass Abt Servillius seinen Lehnsessel Radoald überlassen und somit dem Gebietsherren den Mittelpunkt im Raum eingeräumt hatte. Hinter ihm stand der junge Krieger Wulfoald. Zur Linken hatte Bischof Britmund Platz genommen und hinter ihm sein Begleiter, Bruder Godomar. Ihnen gegenüber saßen zur rechten Seite des Seigneurs der Abt und der Ehrwürdige Ionas. Magister Ado wurde vom Abt bedeutet, sich neben ihn zu setzen. Bruder Wulfila führte Fidelma zu einem Platz am anderen Ende des Raumes und ließ sich neben ihr nieder. Bischof Britmund sah flüchtig zu ihr hinüber und runzelte missbilligend die Brauen.

Nach einem kurzen Blick in die Runde eröffnete Seigneur Radoald die Zusammenkunft. »Wie euch bekannt, hat sich Bischof Britmund auf meine Aufforderung hierherbegeben. Wir wollen ausloten, ob wir über die unterschiedlichen Auslegungen unsers Glaubens, wenn schon nicht Einigkeit erzielen, so doch wenigstens zu einem Konsens kommen können, mit dem sich die in unserem Tal häufenden Zwistigkeiten beilegen lassen. Ein modus vivendi also, bei dem man in Frieden leben kann. Ich sitze hier als euer weltlicher Gebietsherr, der darauf eingeschworen ist, den Frieden in diesem Tal zu bewahren. Es ist nun an dir, Abt Servillius, und an dir, Bischof Britmund, sich einverstanden zu erklären, dass wir so verfahren.«

Mit versteinerter Miene fragte der Bischof gereizt: »Was sucht das Weib aus Hibernia hier?«

Tatsächlich stellte sich Fidelma diese Frage auch.

»Um die Anwesenheit von Prinzessin Fidelma aus Hibernia habe ich persönlich ersucht«, sagte Seigneur Radoald leichthin. »Abt Servillius hat mir darin zugestimmt.«

Über diese Antwort war selbst Fidelma erstaunt.

»Ersucht?« Britmund steigerte sich in seiner Verärgerung. »Wie erklärt sich das? Ich habe bislang gedacht, Abt Servillius ist strikt dagegen, dass Frauen in der Kirche ein Amt bekleiden, und dass er zudem für die Trennung der Geschlechter eintritt. Welche Hinterlist hat ihn dazu verleitet? Hat dieses Weib dich behext?«

Fidelma hatte den Bischof von Anfang an nicht gemocht, jetzt aber stieg in ihr ein Groll gegen ihn auf. Sie wollte schon etwas erwidern, doch Radoald griff ein.

»Fidelma von Hibernia ist die Tochter eines Königs in ihrem Land. Von einem der Brüder dieser Abtei, der eben erst aus Rom zurückgekehrt ist, haben wir erfahren, dass sie selbst beim Heiligen Vater in hohem Ansehen steht. Er wusste auch zu berichten, dass sie im Rechtswesen ihres Landes ausgebildet ist und auf dem Konzil von Streonshalh im Lande der Angeln eine wesentliche Rolle gespielt hat, als dort über die Auslegung unseres Glaubens gestritten wurde. Allein wegen ihrer dort gewonnenen Erfahrung kann es uns nur zustattenkommen, dass sie unserer Debatte beiwohnt und uns möglicherweise mit ihrem Ratschlag dient. Bist du nicht auch dieser Meinung, Vater Abt?«

»Ja, durchaus«, bestätigte der Abt.

»Darüber hinaus ist Fidelma von Hibernia eine Anwältin bei den hohen Gerichten ihres Königreichs und wird dafür gerühmt, dass ihre Darlegungen sich aus logischem Denken herleiten.«

»Ein Anwalt gemäß unseren Gesetzen ist sie nicht«, fauchte Bischof Britmund. »Ich lege Widerspruch ein!«

»Ist das der einzige Grund für deinen Widerspruch?«, fragte Radoald. »Ich habe mich des Längeren mit Lady Fidelma unterhalten und gefunden, dass sie in höchst bemerkenswerter Weise an strittige Fragen herangeht. Ich lege Wert darauf, dass sie bei uns bleibt, und wenn sie uns helfen kann, unsere Probleme zu lösen, dann hat keine der beiden Seiten etwas zu verlieren.«

Bischof Britmund musste einsehen, dass es ihm nicht gelang, Fidelma zu vertreiben, und murmelte nur: »Meinen Widerspruch habe ich mit aller Deutlichkeit vorgebracht und begründet.«

»Und ich habe ihn zur Kenntnis genommen und für unwesentlich befunden«, erwiderte Radoald lächelnd. »Prinzessin Fidelma, hast du etwas dagegen einzuwenden, an unserer Beratung teilzunehmen und auf Grund deiner Erfahrungen aus vorangegangenen Debatten deine Meinung darzulegen?«

Fidelma überlegte kurz, ob sie sich der Aufforderung entziehen konnte oder nicht, und sagte: »Wenn ich in irgendeiner Weise behilflich sein kann, will ich das gern tun.«

Sie rückte sich in ihrem Armsessel neben Bruder Wulfila zurecht, bereit, den Gang der Verhandlung zu verfolgen, und war es zufrieden, dass alle Latein sprachen.

»Als Seigneur von Trebbia bekümmert es mich, dass Glaubensbrüder meines Landes miteinander im Streit liegen«, begann Radoald. »Die Geistlichen können sich mit Worten bekämpfen, doch oft greifen die einfachen Leute, die durch eben diese Worte angestachelt werden, zu Waffen, die ihre vermeintlichen Gegner verwunden und ihnen Schmerz bereiten. Wir sind hier zusammengekommen, um nach einer Lösung der verworrenen Situation zu suchen, auf dass mein Volk in Eintracht leben kann. Das ist der Zweck dieser Zusammenkunft. Stimmst du dem zu, Abt Servillius?«

Der Abt neigte das Haupt vor Radoald. »Ich stimme dem zu.«

»Und du, Bischof Britmund, stimmst du dem zu?«

Der halsstarrige Bischof verneigte sich zwar ebenfalls andeutungsweise, äußerte aber streitsüchtig: »Aus dem Grunde habe ich zugestimmt, in dieses Haus der Ketzerei zu kommen.«

Empört zischte der Abt, doch der Ehrwürdige Ionas packte ihn am Arm und hinderte ihn daran, sich zu einer Erwiderung zu erheben.

»Wir sollten unsere Debatte in versöhnlichem Ton führen«, tadelte Radoald den Bischof.

»Bevor wir mit der Debatte beginnen, müssen die Meinungsverschiedenheiten zwischen uns klar herausgestellt werden«, verlangte der Bischof barsch. Es zeigte sich bald, dass er die entnervende Gewohnheit hatte, niemandem zu gestatten, seinen Redefluss zu unterbrechen. Mit tiefer, dröhnender Stimme übertönte er jeden, bis er zu Ende gebracht hatte, was er gerade sagen wollte.

»Unsere Meinungsverschiedenheiten sind doch hinlänglich bekannt«, wandte Abt Servillius ein. »Wir verstehen die Heilige Dreieinigkeit als Gott den Vater, Gott den Sohn und Gott den Heiligen Geist. Die Lehren des Arius von Alexandria sind als Ketzereien verworfen worden.«

»Er wurde auf dem Konzil von Tyrus freigesprochen«, erwiderte der Bischof.

»Und auf dem Konzil von Konstantinopel abermals als Ketzer verdammt«, hielt ihm der Abt entgegen.

Radoald hob die Hand. »Meine Freunde, eine Aufzählung der Beschlüsse von Konzilen in den verschiedenen Teilen der Welt dürfte kaum zu unserem Verständnis der gegenwärtigen Lage beitragen.«

»Dennoch müssen wir uns darüber im Klaren sein«, fuhr Bischof Britmund fort, »es gibt nur einen Gott, der alles erschaffen hat. Er war ewig, hat von aller Ewigkeit an bestanden. Doch Jesus war der eingeborene Sohn Gottes und kann nicht vor aller Ewigkeit dagewesen sein, wurde nicht geboren vor dem Beginn aller Zeit und bevor Gott alle Dinge erschuf. Da er der Sohn Gottes ist, muss auch er von Gott erschaffen worden sein. Sagt nicht der heilige Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther: ›Wir haben nur einen Gott, den Vater, von welchem alle Dinge sind‹? Hat nicht der heilige Johannes darauf hingewiesen, dass Jesus selbst gesagt hat, ›denn der Vater ist größer als ich‹?«

»Wir sind nicht hier, um über Fragen der Auslegung der Bibel zu streiten«, entgegnete der Abt ungehalten. »Unser Glaube wurde auf dem Konzil von Nicäa verkündet, auf dem das Werk des Arius als ketzerisch verurteilt wurde. Wir glauben an die Gottgegebenheit der Heiligen Dreieinigkeit. Gott als Drei in Einem. Von Nicäa stammt unser Glaubensbekenntnis, dass Vater, Sohn und Heiliger Geist wesensgleich sind – homoousios – das heißt eines Wesens sind.«

»Es gibt genügend Beweise für unsere Ansicht in den Evangelien und der Apostelgeschichte des Lukas«, erwiderte der Bischof nicht weniger beharrlich. »Wir glauben an einen Gott. Wir glauben, dass Christus, da er der Sohn Gottes ist, Gott, seinem Vater, in allen Dingen untergeordnet und ihm gehorsam ist. Wir glauben, der Heilige Geist ist Jesu und Seinem Vater in allen Dingen untergeordnet und gehorsam. Der Sohn und der Heilige Geist wurden von Gott erschaffen. Gott ist ewig und nicht erschaffen worden, hat immer existiert.«

Fidelma war verblüfft. Auf ihr logisches Denken hielt sie sich einiges zugute, und sie empfand die Beweisführung von Bischof Britmund verständlich und nachvollziehbar.

Radoald hob abermals die Hand, um Ruhe zu gebieten. »Ihr habt die Auffassungen in der Auslegung der Heiligen Schrift benannt, die unversöhnlich zwischen euch bestehen. Und wir sind uns dessen sehr wohl bewusst. Doch der Zweck dieser Zusammenkunft besteht darin, in unserem Tal zu einer praktischen Toleranz dieser beiden Ansichten zu gelangen, auf dass sich niemand fürchten muss vor dem, der anderer Meinung ist.«

»Wir wollen unserem Glauben und unserem Bekenntnis nicht abschwören, denn beides hat der Heilige Vater in Rom gebilligt«, erklärte Abt Servillius standhaft.

»Noch wollen wir der Wahrheit abschwören«, wehrte sich Bischof Britmund ebenso entschlossen.

Der Landesherr stöhnte ungehalten auf. »Niemand verlangt von euch, einer Auffassung abzuschwören oder sie gutzuheißen. Es geht lediglich darum, einen Weg zu finden, auf dem ihr euch in gegenseitiger Duldung und nicht voller Hass begegnet.«

»Dann sollen, bitte schön, die Mitglieder dieser Abtei damit beginnen«, forderte der Bischof. »Sollen sie doch aufhören, in Placentia gegen uns zu predigen, aufhören, zu den umliegenden Ortschaften und Kirchen zu pilgern und unser Glaubensbekenntnis als Ketzerei anzuprangern.«

»Ebenso gut müssen die Prälaten und Verkünder eurer Ketzerei damit aufhören, den Leuten vorzugaukeln, sie würden Gottes Segen empfangen, wenn sie sich gegen uns erheben und uns und die Abtei vernichten«, rief Abt Servillius.

Bischof Britmund schwieg einen Moment, ehe er warnend die Stimme erhob. »Was soll diese Beschuldigung, Servillius?«

»Willst du etwa leugnen, dass ein solches Kriegsgeschrei von euren Kanzeln ertönt?«, höhnte der Abt. »Es dringt sogar bis hinter die ehrwürdigen Mauern hier.«

Hochrot im Gesicht wandte sich Bischof Britmund an Seigneur Radoald. »Ich bin nicht hierhergekommen, um mich fälschlich beschuldigen zu lassen.«

Alle warteten schweigend, dann schaute Radoald hinüber zu Fidelma. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen. »Was hältst du von dem Ganzen, edle Dame? Ist es auf dem Konzil, dem du in Streonshalh beigewohnt hast, auch zu derart entgegengesetzten Ansichten gekommen?«

Fidelma überlegte kurz und erwiderte: »Dort prallten gewiss auch Meinungen aufeinander, doch trug man sie mit etwas geringerer Heftigkeit vor. Ich dachte, hier wollte man eine via media aurea, einen Mittelweg, finden, gewissermaßen den goldenen Pfad, auf dem sich beide Seiten begegnen könnten.«

»Eben das war meine Absicht«, stimmte ihr Radoald ernst zu. »Doch bislang scheint ein solcher Pfad in weiter Ferne.«

»Ich habe den Eindruck, wir sind auf der via militaris stecken geblieben. Heißt es nicht immer, die Wahrheit findet man auf dem Mittelweg?«

»Es gibt keinen Mittelweg«, fuhr der Bischof sie an. »Es gibt nur die Wahrheit oder die Unwahrheit. Die Wahrheit kennt keinen Kompromiss.« Er stand unvermittelt auf, und sein Gefährte erhob sich gleichfalls. »Ich bin der Aufforderung von Seigneur Radoald gefolgt. Ich hatte gehofft, in ihm einem ebenso großen Landesherrn, wie sein Vater einer war, zu begegnen, stattdessen muss ich feststellen, er hat sich von dieser Abtei und der hier waltenden häretischen Sicht der Dinge betören lassen.«

Wulfoald packte mit drohender Gebärde den Griff seines Schwertes, doch Radoald fasste seinen Krieger am Arm und hielt ihn zurück. Am Sprechen aber konnte er ihn nicht hindern.

»Nimm dich in Acht, Bischof, beleidige nicht den Seigneur von Trebbia«, stieß Wulfoald warnend hervor. »Noch haben die Krieger Perctarits nicht den mächtigen Padus überquert, um dich zu schützen.«

Auch Bruder Godomar hatte sich vorgebeugt und zog den Bischof eindringlich am Ärmel seiner Soutane. Britmunds Augen blitzten wütend, doch besann er sich und erklärte nachgiebig: »Ich habe niemand beleidigen wollen, Seigneur Radoald. Verzeih meine ungeschickte Art, mein Missvergnügen zum Ausdruck zu bringen. Ich sehe keine Möglichkeit, unsere Meinungsverschiedenheiten hier friedfertig beizulegen. Wir stehen ebenso fest zu unserem Glauben, wie die Gemeinschaft dieser Abtei zu ihrer Ketzerei. Beide müssen wir hinnehmen, dass unser Mittelweg nur der sein kann: Werden wir angegriffen, schlagen wir zurück. Oculum pro oculo, dentem pro dente, manum pro manu, pedem pro pede.«

»Ich dachte, unser Glaube, wie immer du ihn auslegst, gründet sich auf die Worte und die Lehren von Christus«, bemerkte Fidelma leise, doch unüberhörbar.

Wütend drehte sich Bischof Britmund zu ihr um. »Willst du mich etwa über unseren Glauben belehren, Weib aus Hibernia?«

»Ich wollte dich nur daran erinnern, dass Christus in der Bergpredigt tatsächlich gesagt hat, es heißt Auge um Auge, Zahn um Zahn, aber Er hat die Gläubigen ermahnt, diese Lehre zu missachten. Weiterhin hat Er gelehrt, ›so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den anderen auch dar‹.«

Dem fügte Abt Servillius freudig hinzu: »So steht es im Evangelium des Matthäus. Bischof Britmund wird doch nicht so weit gehen und die Lehren Christi leugnen, selbst wenn er das Glaubensbekenntnis von Nicäa ablehnt.«

Der Bischof war sichtlich verärgert. »Ich benötige deine Zusicherung, dass ich unbehelligt nach Placentia zurückkehren kann«, verlangte er von Seigneur Radoald.

Radoald zog die Augenbrauen hoch. »Wieso das? Hat man dich auf dem Wege hierher bedroht?«

»Wie für jedermann ersichtlich, stehe ich unversehrt vor euch; auf meinem Weg hierher war ich keiner Gefahr ausgesetzt.«

»Dann wirst du auch unbehelligt heimkehren. Niemand unter uns oder sonst jemand, der unserem Glauben anhängt, hat die Absicht, dir körperliche Gewalt anzutun, Britmund.«

Der Bischof zögerte, schien noch etwas sagen zu wollen, fegte dann aber raschen Schrittes aus dem Raum, gefolgt von seinem stummen Begleiter. Bruder Wulfila, dem es als Verwalter zukam, sie aus dem Bereich der Abtei zu geleiten, eilte ihnen hinterher.

Sobald sie gegangen waren, ließ sich Abt Servillius mit einem lauten Stoßseufzer in seinen Armsessel zurücksinken. »Als der Schöpfer Barmherzigkeit austeilte, muss Er versäumt haben, Britmund damit zu bedenken.«

Radoald war völlig niedergeschlagen. »Es ist mir nicht gelungen. Ich habe versucht, den Friedensstifter zu spielen, stets hatte ich vor Augen, was dem armen Bruder Ruadán zugestoßen ist. Ich will, dass solche Überfälle aufhören.«

Fidelma war äußerst unwohl zumute, sie sah Bruder Ruadán auf seiner Bettstatt liegen, einen armen Alten, den man angefallen und schwer verletzt hatte, weil ein angeblicher Gottesfürchtiger wie Bischof Britmund es in seiner Herrschsucht so wollte.

»Weit mehr bereitet uns Sorge, Radoald, dass solche Prälaten wie Britmund eine Machtstellung erlangen, wenn die Gerüchte um Perctarits Rückkehr sich bewahrheiten«, ergriff Abt Servillius das Wort.

»Bisher sind nur Gerüchte zu uns gedrungen, dass er zurückkommt. Wir wissen nichts Genaues, haben keine verlässliche Nachricht«, warf Wulfoald ein. Freimütig legte der Krieger seine Ansicht vor seinem Landesherren und den oberen Geistlichen der Abtei dar. »Es gibt keinen Grund, in Angst und Schrecken zu verfallen, ehe wir Gewissheit haben.«

»Wir hier in Bobium verfallen nicht in Angst und Schrecken, müssen uns aber wohl auf das Schlimmste gefasst machen«, entgegnete ihm der Abt gereizt.

»Wir beschuldigen dich nicht, dass du Angst verbreitest, Abt Servillius«, beschwichtigte ihn Radoald. »Doch können wir erst etwas unternehmen, wenn wir glaubwürdige Kunde haben.«

»Und wie sollen wir die erlangen?«, fragte der Abt verdrießlich. »Erst wenn wir sehen, wie Perctarits Heerscharen das Trebbia-Tal heraufmarschieren?«

Radoalds Antwort kam im Brustton der Überzeugung: »Ich werde meine Leute an die entscheidenden Stellen schicken; sie sollen sich dort umhorchen, wahrheitsgemäße Nachrichten sammeln und mich rechtzeitig vor drohenden Gefahren warnen. Wenn Perctarit wirklich hier einfällt, wird er Rache nehmen wollen. Wir dürfen nicht vergessen, dass mein Vater, als er Seigneur von Trebbia war, Grimoald geholfen hat, Godepert zu töten und seinen Bruder Perctarit außer Landes zu treiben. Und was mich betrifft, habe ich nicht auf meines Vaters Seite gestanden?«

Der Abt senkte den Blick. »Du tust recht daran, mich zurechtzuweisen. Ich habe nur ans Wohlergehen unserer Abtei und das der Brüder gedacht.«

»Und das steht dir durchaus zu, Vater Abt. Ein Vater muss ans Wohlergehen seiner Kinder denken«, besänftigte ihn Radoald.

Beide schwiegen, bis Magister Ado das Gespräch wieder aufnahm. »Seigneur Radoalds Befürchtung ist nicht unbegründet. Doch hier im Tal sind wir verhältnismäßig geschützt, weil wir nicht an einem Hauptweg liegen, den Perctarit einschlagen müsste, kehrte er wirklich zurück, um den König zu stürzen. Das Tal hat für ihn keine strategische Bedeutung.«

»Da muss ich Magister Ado widersprechen, wenn er glaubt, das Trebbia-Tal sei ein Nebenweg, den Perctarit ignorieren würde«, wandte Wulfoald ein. »Historiker, der er ist, scheint er vergessen zu haben, wie wichtig dieses Tal in früheren Zeiten war.«

»Ich habe mir nie angemaßt, ein Historiker zu sein«, wehrte der Geistliche sofort ab. »Ich habe nur die Lebenswege der großen Begründer unseres Glaubens beschrieben, mehr nicht.«

»Dann bitte ich um Verzeihung«, erwiderte Wulfoald versöhnlich. »Aber ich habe den Griechen Polybius gelesen und die lateinischen Werke des Livius, der in dem Gebiet hier aufgewachsen ist. Beide haben die Schlacht an der Trebbia ausführlich geschildert.«

Jetzt griff der Ehrwürdige Ionas in die Unterhaltung ein. »Die meisten von uns wissen, worauf du anspielst, mein junger kriegerischer Freund.« An Fidelma gewandt fuhr er fort: »In diesem schmalen, friedlichen Tal lebte einst ein Stamm der Gallier. Das war in den weit zurückliegenden Tagen der römischen Republik. Die Römer mussten dieses Gebiet erobern, wollten sie ihren Herrschaftsbereich ausdehnen. Die Kämpfe zogen sich lange hin und waren verlustreich. Viele Konsuln und ihre Legionen kamen ums Leben bei ihren Versuchen, die Boii zu unterwerfen, die hier siedelten. Einem der Konsuln, einem Flaminius, gelang es, an der Küste nordwärts zu ziehen, Genua zu erreichen und einen Stützpunkt zu errichten. Von dort aus zogen die Legionäre bei ihren Eroberungsvorstößen durch dieses Tal. Später erfochten die Karthager unter Hannibal ihren ersten bedeutenden Sieg über die Römer an der Mündung ebendieses Flusses; daher spricht man noch immer von der Schlacht an der Trebbia.«

Der Ehrwürdige Ionas hatte sich in Rage geredet, doch als er spürte, dass aller Augen auf ihn gerichtet waren, stockte er und sagte achselzuckend: »Verzeiht. Manchmal geht meine Begeisterung für Geschichte mit mir durch, besonders wenn es sich um die Gegend hier handelt.«

»Darf ich eine Frage stellen?«

Alle Anwesenden wandten ihre Blicke Fidelma zu.

»Bitte sehr, frage nur!«, forderte Abt Servillius sie auf.

»Nachdem, was ich bisher gehört habe, ist eurer König Grimoald ein Anhänger des Arianischen Glaubensbekenntnisses. Der frühere König, dieser Perctarit, hängt dem Nicänischen Bekenntnis an. Stimmt das so, sehe ich das richtig?«

»Ja, so verhält es sich«, bestätigte der Abt.

»Das verwirrt mich. Warum würden die Arianer, wie Bischof Britmund zum Beispiel, Perctarit, der doch ein Nicäaner ist, unterstützen, sollte er den Thron wiedererringen, von dem er vertrieben wurde? Das ist doch nicht logisch.«

Abt Servillius überließ es Radoald, zu antworten. »Religion spielt bei diesen Kämpfen um die Königswürde keine Rolle. Du hast schon recht mit deiner Ansicht, nur ist zu bedenken, dass Grimoald ein sehr freisinniger König ist, der den Leuten gestattet, ihren eigenen Glaubensrichtungen zu folgen, ganz gleich, zu welcher christlichen Gemeinschaft sie sich hingezogen fühlen; selbst wenn sie bei ihren alten Göttern und Göttinnen bleiben wollten, würde er es dulden. Perctarit hingegen wird alles versprechen und tun, was dazu dient, seine Macht wiederzuerlangen … Er würde sogar Britmund erlauben, in seinem Herrschaftsbereich alle diejenigen zu vernichten, die sich zum Nicänischen Glauben bekennen. Gerüchte sind bereits im Umlauf, dass Perctarit Verhandlungen in diesem Sinne führt, um sich Unterstützung für seine Pläne zu sichern.«

Wulfoald vergewisserte sich mit einem Blick zu Radoald und führte den Gedanken weiter. »Wie dem auch sei, falls Perctarit den Padus überschreiten wollte, müsste er ostwärts ziehen und würde Grimoalds Regent, Lupus von Friuli, gegenüberstehen, der dort ein beträchtliches Heer unterhält. Perctarit könnte dieses Heer nicht unbehelligt umgehen, wollte er Grimoald von Süden angreifen. Er müsste Lupus bestechen oder vernichtend schlagen, bevor er seine Anhängerschaft auf Grimoald und die Abteien und Kirchen loslassen könnte, die dem Bekenntnis von Nicäa folgen.«

Fidelma schwieg. Die politischen Konstellationen schienen ihr reichlich verwickelt; sich in diese fremdländischen Angelegenheiten einzumischen, war nicht ihre Sache.

Unvermittelt erhob sich Radoald, und die anderen folgten ihm.

»Uns bleibt nichts anderes übrig, als wachsam zu sein und zu hoffen, dass unsere Befürchtungen unbegründet sind.« Er sah Fidelma wie um Verständnis bittend an. »Ich bedauere, dass du Zeuge dieser heftigen Gegnerschaft wurdest. Ich hatte auf deiner Anwesenheit bestanden, weil du bei dem Glaubensstreit in der Abtei Streonhalh zugegen warst, und ich erhoffte mir von dir nützlichen Rat. »

Fidelma konnte nur mit den Schultern zucken. »Mir tut es leid, dass die Gegner derart unversöhnlich waren, dass sich jeder Rat erübrigte.«

»Warst du bei Bruder Ruadán?«, schwenkte der junge Landesherr um. »Wie geht es ihm? Ich wollte auch zu ihm, hoffte, mit ihm reden zu können, doch Bruder Hnikar sagt, er sei zu schwach.«

»Ich war gestern Abend bei ihm«, antwortete Fidelma wahrheitsgemäß, ohne ihren Besuch am Morgen zu erwähnen. »Er ist in der Tat sehr geschwächt.«

»Aber noch klar im Kopf?«

»Für meine Begriffe, ja. Freilich haben wir in unserer Sprache geredet, das strengt ihn vielleicht weniger an, als sich in einer anderen Sprache auszudrücken. Jedenfalls will ich nachher wieder zu ihm.«

»Bruder Hnikar, unser Apotheker, rechnet mit dem Schlimmsten«, äußerte der Verwalter, der eben zurückgekommen war, um sich um die Belange der verbliebenen Gäste zu kümmern.

Sorgenvoll wiegte Radoald das Haupt. »Lass mich wissen, wie es um ihn steht, ich würde gern mit ihm sprechen. Ein Verbrechen wurde begangen, und der Schuldige muss gefunden und bestraft werden. Sollte ich vielleicht meinen Leibarzt Suidur herkommen lassen, damit er eurem Bruder Hnikar zur Seite stehen kann …?«

»Das ist nicht nötig«, erwiderte Abt Servillius abweisend. »Bruder Hnikar hat unser volles Vertrauen. Wir müssen einfach abwarten, ob sich eine Besserung einstellt. Bruder Hnikar konnte auch Schwester Fidelma nur einen kurzen Besuch gestatten, weil Bruder Ruadán völlig entkräftet ist.«

»Nichts liegt mir ferner, als die Kenntnisse eures Apothekers anzuzweifeln«, beteuerte Radoald. »Ich dachte nur, dass mitunter zwei Köpfe klüger sind als einer. Selbstverständlich halte ich mich an Bruder Hnikars Weisung.«

»Nicht, dass ich Suidur seine Befähigung absprechen wollte«, meinte der Abt. »Aber nach allem, was ich höre, kann selbst der beste Apotheker Bruder Ruadán nicht mehr helfen. Wir können nur warten und beten.«

Am liebsten hätte Fidelma etwas dazu gesagt, unterließ es jedoch. Sie fühlte sich seltsam fremd in dieser Umgebung, wie jemand, der durch ein Moor wankt und fürchten muss, bei jedem Schritt, den er macht, im Morast zu versinken.

»Wir bleiben heute im Umfeld von Bobium«, sagte Radoald. »Sollte ich etwas Genaueres über das Vorrücken von Perctarit hören, schicke ich einen meiner Männer, um euch zu warnen.«

Man verabschiedete sich im Innenhof, und Fidelma schaute zu, wie Radoald und Wulfoald sich mit ihren beiden Begleitern verständigten, aufsaßen und durch das große Portal davonritten. Abt Servillius war mit Magister Ado und dem Ehrwürdigen Ionas bereits in seine Amtsstube zurückgekehrt. Zu ihrem Erstaunen bemerkte Fidelma, dass auch jetzt wieder Bruder Faro neben ihr stand.

»Wie ich höre, hat man sich da drin fast geprügelt«, spöttelte er und grinste. »Dir muss das alles höchst sonderbar vorkommen.«

»Ich habe mich daran gewöhnt, dass Kirchenobere sich oft wegen der Bedeutung einzelner Worte in den Haaren liegen«, erwiderte Fidelma. »Allerdings gebe ich zu, dass mir Hass mit solcher Heftigkeit, wie heute früh, bislang nicht begegnet ist. Allmählich verstehe ich, warum Magister Ado die Angriffe auf seine Person auf die unterschiedlichen Auffassungen in theologischen Dingen zurückführt.«

Bruder Faro äußerte sich dazu nicht und erklärte nur: »Hier befindest du dich jedenfalls unter Freunden. Aber du musst mich schon entschuldigen, ich habe dringend mit dem Verwalter zu reden.«

Fidelma hielt ihn noch einen Moment fest. Nach der stickigen Atmosphäre in der Abtstube war es ihr ein Bedürfnis, frische Luft zu schnappen. »Magister Ado wollte mir gerade den Kräutergarten zeigen, als man uns aufforderte, Zeuge zu sein, wie schlecht sich Bischof Britmund benahm. Er scheint es jetzt vergessen zu haben. Vielleicht kannst du mir sagen, wie ich dorthin komme.«

»Wenn du durch den Torbogen dahinten gehst« – und dabei wies er quer über den Hof der Abtei –, »und dem Pfad weiter folgst, kommst du in den Kräutergarten. Einer deiner Landsleute, Bruder Lonán, pflegt die Beete. Er kann dir die Kräuter bestimmt besser erklären als ich.«

Mit seinem harmlosen Hinweis hatte Bruder Faro sie daran erinnert, dass die Abtei eine irische Gründung war. Natürlich lebten außer Bruder Ruadán auch andere Mönche aus den Fünf Königreichen hier. Bruder Faro eilte davon, um sich mit Bruder Wulfila zu treffen, und Fidelma bot die Aussicht, einem weiteren Landsmann zu begegnen, willkommene Entspannung. Der Gedanke nahm sie so gefangen, dass sie darüber völlig vergaß, dass Freifrau Gunora und ihr Pflegebefohlener, Prinz Romuald, verschwunden waren.

Загрузка...