KAPITEL 15

Als Fidelma in den Innenhof kam, wartete Wulfoald bereits geduldig neben seinem fahlgrauen Pferd. Er hielt ein weiteres Ross am Zügel, das vermutlich für sie bestimmt war. Zwar zog die Morgendämmerung herauf, doch es war noch zu dunkel, um die Berge klar zu sehen. Auch von der Feuersbrunst, von der Bruder Wulfila gesprochen hatte, sah sie nichts. Sie schaute sich um, aber Bruder Eolann war nirgends zu entdecken.

»Bruder Eolann wird uns begleiten«, sagte sie unumwunden, »wir brauchen also noch ein Pferd.«

Wulfoald war verdutzt. »Warum soll der scriptor mitkommen?«

»Weil er mein Zeuge ist bei dem, was die Alte gesagt hat, und das klang so völlig anders als das, was du mir erzählt hast.«

Der Krieger biss sich auf die Lippen. »Das hält uns jetzt unnütz auf. Bruder Bladulf und seine Mitstreiter sind schon auf dem Aufstieg zum Heiligtum, und zwei meiner Männer geben ihnen Begleitschutz.«

Noch ehe sie antworten konnte, kam Bruder Wulfila in aller Eile und äußerst erregt über den Hof.

»Wo ist Bruder Eolann?«, fragte ihn Fidelma und ließ ihn kaum Luft holen.

»Schwester … äh, edle Dame, am besten du kommst gleich mit. Er ist im scriptorium

»Ja, und? Was ist mit ihm?«, herrschte sie ihn an.

Der Verwalter schüttelte jedoch nur den Kopf und winkte ihr, ihm zu folgen.

Sie murmelte zu Wulfoald eine Entschuldigung und lief dem Verwalter durch den Kreuzgang zur Treppe hinterher, die im Turm zur Bibliothek führte. Bruder Eolann saß auf einem Stuhl, Bruder Hnikar stand mit einem feuchten Tuch in der Hand über ihn gebeugt und betupfte eine Wunde an der Stirn. Der junge Mönch sah sehr blass aus, seine Kutte war blutbeschmiert.

»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte Fidelma erschrocken.

Bruder Hnikar antwortete als Erster: »Wahrscheinlich ein Sturz von der Treppe, und dann ist er ohnmächtig geworden.«

»War dem so?«, vergewisserte sie sich bei dem Bibliothekar, der nickte und zuckte vor Schmerz zusammen.

»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, Lady«, sagte er und verfiel in die ihnen gemeinsame keltische Sprache. »Ich habe bis spät in die Nacht gearbeitet. Als ich fertig war, habe ich die Lampe gelöscht, ich bin es gewohnt, mich im Zwielicht zurechtzufinden. Ich muss dann gestolpert sein und mir die Stirn aufgeschlagen haben.« Er hob den Kopf, und sie sah die Bescherung – Abschürfungen und eine Schwellung.

Zu Bruder Hnikars Missvergnügen betrachtete sich Fidelma die Wunde sehr eingehend. »Und du glaubst, du bist gestolpert?«, fragte sie betont.

»Sicher war es so. Aber ich bin noch etwas wirr im Kopf. Daran erinnern kann ich mich nicht so richtig.«

Jetzt mischte sich Bruder Wulfila ein. »Als du mich geschickt hast, den scriptor zu suchen, habe ich erst in seine Zelle geschaut, bin dann in die Schreibwerkstatt gegangen und fand ihn halb bewusstlos in einer Blutlache auf dem Boden. Ich habe sofort unseren Apotheker holen lassen und bin zu dir geeilt.«

»Ich bin erst zu mir gekommen, als mir Bruder Wulfila mit einem nassen Lappen den Kopf betupfte«, bestätigte der junge Mönch. »Er hat mich auf den Stuhl gesetzt und ging, den Apotheker zu holen.«

Fast vorwurfsvoll wandte sich Bruder Hnikar an Fidelma. »Weitere Fragen kann ich nicht zulassen. Sobald ich die Salbe aufgetragen und die Wunde verbunden habe, muss sich der scriptor unbedingt hinlegen.«

Bruder Eolann schaute sie unglücklich an. »Es tut mir sehr leid, Lady. Bruder Hnikar wird mir nicht erlauben, dich heute früh zu begleiten, um Hawisa aufzusuchen.«

»Ist schon klar«, erwiderte Fidelma vergrätzt. Ohne jemand, dem sie vertrauen konnte, dass er ihr Hawisas Worte genau übersetzte, war es völlig unsinnig, sich zu der Alten zu begeben.

»Pass gut auf dich auf«, sagte sie in ihrer Sprache. »Ich werde schon einen anderen Dolmetscher finden.«

Sofort wurde sie aufgebracht von Bruder Hnikar zurechtgewiesen. »Die Regel in dieser Abtei, Schwester Fidelma, ist, dass alle Gespräche in der allen gemeinsamen Sprache geführt werden – und das ist Latein. Wir, die wir unter Gottes besonderem Schutz stehen, verbergen nichts vor Ihm und sollten daher auch voreinander nichts verbergen.«

Fidelma neigte den Kopf, mehr um nicht ihre Verärgerung zu zeigen, als anzudeuten, dass sie sich ihm unterordnete.

»Schwester Fidelma hat mir nur rasche Genesung gewünscht«, beeilte sich Bruder Eolann auf Latein zu erklären.

»Ja, die wünsche ich dir von Herzen«, fügte sie auf Latein hinzu.

»Es tut mir sehr leid, Schwester Fidelma«, brachte Bruder Eolann zögernd heraus. »Es tut mir wirklich alles sehr leid.«

Im Hinausgehen runzelte sie nachdenklich die Stirn. Merkwürdig, wieso hatte er das mit solchem Nachdruck gesagt? Bruder Wulfila kam ihr eilends hinterher.

»Ist Abt Servillius schon zurückgekehrt?«, fragte sie, während sie die Stufen im Turm hinabstiegen.

»Weder er noch Schwester Gisa sind zurück.«

»Und Bruder Faro?«

»Bruder Faro ist gestern losgeritten, um Almosen zu den Armen in der Siedlung weiter unten im Tal zu bringen. Er ist noch nicht wieder hier.«

Fidelmas Gedanken wirbelten durcheinander, als sie auf den Hof gelangte. Es war nun taghell. Wulfoald wartete immer noch bei den Pferden, wenn auch sichtlich ungeduldig. Auf dem Hof drängten sich die Mönche, Alle starrten nach oben auf den Berg, so dass auch Fidelma in die Höhe blickte. Von einer Stelle auf den Berghängen stieg eine Säule grauschwarzen Rauchs langsam in den Himmel. Eine düstere Vorahnung beschlich sie.

»Was bedeutet der Rauch da?«, erkundigte sie sich bei Bruder Wulfila, der ebenfalls nach oben schaute.

»In der Nacht ist dort auf den Hängen ein Waldbrand ausgebrochen. Dass es lichterloh gebrannt hat, hatte ich dir ja schon gesagt.«

»Wo genau kann das gewesen sein?«

»Das lässt sich schwer sagen. Irgendwo an dem Wanderweg zur Bergkapelle, aber wohl nicht, Deo favente, in der Nähe der Gedenkstätte für den heiligen Columbanus.«

Wulfoald hatte ihr Gespräch mit angehört. »Wenn du dir Sorgen machst wegen unseres Ritts in die Berge, brauchst du nur etwas genauer dorthin zu sehen. Da schweben noch die Reste von Regenwolken über den Gipfeln. Weiter oben muss es heftig gegossen haben, und das dürfte das Feuer gelöscht haben, so dass wir nichts befürchten müssen. Aber wo bleibt Bruder Eolann?«

»Er wird nicht mitkommen«, erwiderte sie knapp, »er hat einen Unfall gehabt.«

Wulfoald riss die Augen auf. »Das trifft sich sehr schlecht. Ist er arg mitgenommen?«

»Besonders schlimm ist es nicht, doch es reicht, dass er nicht mit uns den Ritt hinauf unternehmen kann.«

»Aber wie willst du …«, fing Wulfoald an.

»… will ich dann verstehen, was Hawisa sagt? Es wird mir nichts weiter übrigbleiben, als mich auf dich als meinen Dolmetscher zu verlassen.« Sie lächelte gequält.

»Das ist wirklich bös.« Sie drehten sich um und sahen den Ehrwürdigen Ionas hinter sich. Einen Augenblick war Fidelma unsicher, worauf sich sein Einwurf bezog. Doch gleich bemerkte sie, auch er starrte auf die schwarze Rauchwolke über dem Berg. Dann fiel ihm auf, dass Wulfoald mit gesattelten Pferden dort stand. »Wohin willst du denn so früh?«

Wulfoald zeigte auf den Berg. »Ich wollte mit Schwester Fidelma da hinauf. Vielleicht hat sie es sich inzwischen anders überlegt.«

Der Ehrwürdige Ionas konnte sich keinen Reim darauf machen. »Wolltest du nicht deine Krieger mit Bruder Bladulf zur Bergkapelle schicken? Oder soll euch Schwester Fidelma etwa den Weg zeigen?«

»Bladulf und meine Männer sind längst unterwegs, Schwester Fidelma und ich haben etwas anderes vor. Wir wollten Hawisa in ihrer Hütte aufsuchen zusammen mit Bruder Eolann, denn sie braucht ja jemand, der für sie dolmetscht. Bloß Bruder Eolann hatte gerade einen Unfall und kann nicht mitkommen.«

»Ich brauche jemand, der sowohl Langobardisch spricht als auch Latein«, fing sie an zu erklären, schalt sich aber sogleich eine Närrin, weil die Bemerkung völlig überflüssig war.

»Aber Wulfoald spricht doch …«

»Leider bin ich für Schwester Fidelma nicht der rechte Partner«, meinte Wulfoald leicht ironisch. »Sie benötigt Stimme und Ohr eines anderen.«

Der Ehrwürdige Ionas schaute ihn verständnislos an, winkte jedoch einen rundlichen kleinen Mann heran, der in einer Hofecke gerade dabei war, einem Maultier einen Sack aufzubinden. Der Mann hatte eine schwarze, mit Silberfäden durchzogene Mähne, einen zottigen Bart und schlechte Zähne.

»Ratchis heißt er«, erklärte der Gelehrte Fidelma, als der Mann etwas außer Atem angewatschelt kam. »Wenn du auf einem anderen Dolmetscher bestehst, Schwester, dann kommt der Mann hier gerade zur rechten Zeit. Es ist ein glücklicher Zufall, dass er sich heute morgen eben auf den Weg über die Berge machen will.«

Der Mann blieb vor ihnen stehen, verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln und begrüßte sie alle in Latein.

»Ratchis, bist du auch als Dolmetscher gut«?, fragte ihn der Ehrwürdige Ionas. »Kannst du unsere Langobardensprache ins Lateinische übersetzen?«

Der beleibte Händler schaute bei der Frage verwundert auf. »Mein ganzes Leben lang treibe ich Handel in diesen Bergen, du weißt doch, dass ich das kann, Ehrwürdiger Ionas.«

»Würdest du Schwester Fidelma den Berg hinaufbegleiten und für sie übersetzen, wenn sie dich braucht?«

Sehr erbaut war der Händler davon nicht. »Lange aufhalten kann ich mich damit aber nicht. Ich bin auf dem Weg nach Ticinum Papia.«

»Du kommst dort ohnehin vorbei, wo wir hinwollen«, vermittelte Wulfoald. »Es wird nicht lange dauern. Wir machen nur kurz Halt, und dann kannst du weiterziehen, sogar mit dem Segen der Abtei.«

Der Kaufmann warf dem Krieger einen erstaunten Blick zu. »Du kommst auch mit? Du sprichst doch beide …«

»Halten wir uns nicht lange auf mit der Fragerei«, fertigte ihn der Waffenträger gereizt ab. »Je eher wir aufbrechen, umso schneller bist du auf deinem Weg nach Ticinum Papia.«

Fidelma dankte dem Händler für seine Bereitwilligkeit und stieg aufs Pferd, das Wulfoald für sie festhielt. Er schwang sich geübt in den Sattel, während der Händler sich auf sein Maultier hievte.

»Bis zur Bergkapelle können wir mit den Pferden nicht hochreiten«, erläuterte ihr Wulfoald, »doch bis kurz unterhalb von Hawisas Hütte ist der Weg einigermaßen geebnet. Dort zweigt auch der Hauptweg ab, der zwischen den Bergen bis nach Ticinum Papia geht und der unseren tüchtigen Handelsmann an sein Ziel bringen wird. Das ist die Strecke, an der ich Wamba gefunden habe. Reiten wir also los, wir haben schon viel Zeit verloren.«

Fidelma erwiderte nichts. Sie grübelte immer noch, warum Wulfoald sich seiner Sache so sicher schien.

Da Bruder Bladulf nicht da war, öffnete ihnen Bruder Wulfila das große Tor, und die drei Reiter trotteten hinaus und an der Umfriedung der Abtei entlang zu dem Pfad, der sich an den Bergflanken bis zum Gipfel hinaufwand. Eine ganze Weile ritten sie schweigend dahin, dann ließ sich Ratchis vernehmen, der auf seinem Muli dicht hinter ihnen blieb. Er war es offenbar gewohnt, Bergpfade zu erklimmen.

»Habe ich recht gehört, ihr wollt hoch zu Hawisas Hütte?«

Wulfoald rief ihm über die Schulter zu: »Du kennst sie wohl?«

»In den Bergen hier kenne ich fast jeden«, bestätigte ihm der kleine Mann. »Ich weiß sogar, dass du einer von Seigneur Radoalds Kriegern bist. Warum wollt ihr gerade die gute Alte besuchen?«

»Wir wollen ihr ein paar Fragen stellen, die mit dem Tod ihres Sohnes zu tun haben«, erwiderte Fidelma.

»Wamba ist doch von der Felswand gestürzt und so zu Tode gekommen. Darüber reden hier alle. Das ist schon ein paar Wochen her. Ist er nicht sogar neben der Abtei begraben worden?«

»Warst du vielleicht in der Abtei, als das passierte?«, fragte Fidelma.

»Tagsüber war ich in Travo gewesen. Zum Begräbnis in der Nacht kam ich gerade rechtzeitig. Du warst doch auch dabei, Wulfoald.«

»Von wo kommst du eigentlich, Ratchis?«, erkundigte sich Fidelma.

»Aus Genua.«

»Erstaunlich, dass du da nicht mit einer größeren Ladung deiner Waren durchs Land ziehst.«

Ratchis lachte auf. »Das liegt daran, dass ich mich zuerst nach Kundschaft umtue. Wenn ich genügend Aufträge beisammen habe, suche ich mir Fuhrleute und Mulis, die die Waren befördern. Leider kann man heutzutage in eurem Trebbia-Tal kaum ein gutes Geschäft machen. Da liegt viel zu viel Spannung in der Luft. Deshalb bin ich unterwegs nach Ticinum Papia und werde auf der Alten Salzstraße durch das Gebiet von Vars zurückkehren.«

»Ich bezweifele, dass du da weniger Spannung spürst«, grummelte Wulfoald.

»Wieso?«, fragte der Händler und gab sich ganz unbekümmert.

»Na komm, Ratchis, du weißt genausogut wie ich, was im Busch ist«, erwiderte Wulfoald unnachgiebig. »Gegenwärtig beherrscht Grasulf, der Seigneur von Vars, die Alte Salzstraße von Genua bis hinauf nach Ticinum Papia und sogar weiter bis Mailand. Und Mailand hat immer Perctarit die Treue gehalten. Gelingt es Grasulf, über das Trebbia-Tal die Oberhand zu gewinnen, dann könnte er beide Routen von Genua beherrschen, sowohl die entlang der Trebbia nach Placentia als auch die Alte Salzstraße nach Mailand. Auf beiden Wegen könnten Truppen und Ausrüstungen, die übers Meer kommen, in Genua ausgeladen und dann über Land zur Verstärkung von Perctarit geschafft werden, wenn der sein Lager bei Mailand aufschlägt.«

»Du redest richtig wie ein Krieger«, sagte der Kaufmann lachend. »Strategie nennt man so was wohl. Schade, dass du alles immer nur aus dem Blickwinkel des Strategen siehst.«

»In Zeiten wie diesen kann man die Dinge gar nicht anders sehen«, erwiderte Wulfoald unbeeindruckt.

»Ich bin Kaufmann und betrachte alles unter dem Aspekt von Handel und Gewinn. Wenn ich an Kriegsherren wie Grasulf oder Radoald zahlen muss, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als die Unkosten auf den Preis aufzuschlagen.«

»Hast du gar keine Angst, dass diese Kriegsherren eines Tages auch dich umbringen könnten?«, fragte Wulfoald.

Ratchis lachte stillvergnügt. »Und wer würde sie dann mit dem Nötigen beliefern?«

Fidelma hatte der Unterhaltung schweigend zugehört. Derweil waren sie bereits ein beträchtliches Stück bergauf geritten. Wulfoald schlug schließlich vor, dort abzusteigen, wo der Hauptweg abzweigte. Fidelma erinnerte sich, dass sie also nicht weit von Hawisas Hütte waren. Leises Wiehern drang an ihr Ohr. Schon hatte Wulfoald sein Schwert gezogen und war vom Pferd geglitten. Warnend hielt er den Finger an die Lippen. Umsichtig stieg er den Pfad hoch, an dem sie stehen geblieben waren. Sie saßen und warteten. Es dauerte nicht lange, da kam er zurück, sein Schwert steckte bereits wieder in der Scheide.

»Das sind die Pferde und das Maultier von Bruder Bladulf und seinen Leuten. Sie haben sie da oben in einer kleinen Lichtung angebunden und sind zu Fuß zum Heiligtum hochgegangen, um den Leichnam heimzuholen. Wir lassen unsere Tiere auch dort, der Pfad wird zu steil für sie.«

So wurden Pferde und Muli zwischen den Bäumen angebunden. Der Fleck konnte den Tieren behagen, ein Bach plätscherte vorbei, und ringsum wuchs saftiges Grass. Erst ein ziemliches Stück oberhalb begann das Gebiet, in dem das Feuer gewütet hatte.

»Wenn ich mich nicht irre, steht Hawisas Hütte gleich über der Steigung da.« Fidelma wies nach oben.

»Das stimmt«, erwiderte Wulfoald. Sein Gesicht wirkte auffallend angespannt.

Schon von weitem nahm Fidelma den beißenden Geruch von eben verbranntem Holz wahr. Der auf-und abschwellende Wind hatte begonnen, puderfeine Asche aufzuwirbeln. Auch Wulfoald hatte das bemerkt und eilte mit großen Schritten die Steigung hinauf.

»Ich will erst mal sehen, wie weit sich das Feuer in den Wald gefressen hat«, rief er ihr über die Schulter zu. Wieder beschlich Fidelma die Vorahnung, die ihr schon gekommen war, als sie noch auf dem Hof der Abtei gestanden und die Rauchsäule am Berg gesehen hatte. War der Waldbrand von selbst entstanden oder hatten ihn Grasulf und seine Leute gelegt? Vielleicht lauerten sie noch irgendwo im Hinterhalt.

»Wir sollten uns jetzt mit aller Vorsicht bewegen«, riet sie.

»Warum denn?« Die Stimme des Händlers klang schrill vor Erregung. Eine Antwort erhielt er nicht.

Als sie an die Stelle kamen, wo das Feuer gewütet hatte, fühlte sich Fidelma ausgesprochen unwohl. Wenn ihre Vermutung stimmte, dass Hawisa die Wahrheit gesagt hatte, als sie behauptete, Wamba sei sofort zur Abtei geschafft worden, Wulfoald aber gelogen hatte, dann hätte er Grund, ihr etwas anzutun. Sie war froh, dass der Ehrwürdige Ionas den Händler überredet hatte, sie zu begleiten. Dessen Hilfe war immerhin besser als gar keine. Wenn nur nicht alles so verwirrend gewesen wäre. Wulfoald war sich seiner Sache offenbar völlig sicher. Oder irrte sie sich da? Und wenn dem so war, warum hatte Hawisa gelogen? Hatte das etwas mit der Entschädigung für die Münze zu tun, hing es mit dem Gold zusammen?

Die Gegend kam Fidelma vertraut vor, als sie den Hauptweg verließen und in das Waldstück hineingingen. Die Vorahnung, die sie schon geplagt hatte, überfiel sie mit voller Wucht. Die heftigen Regenschauer hatten die Flammen gelöscht, doch der alles durchdringende Geruch von Rauch und angebranntem Holz war geblieben … und lag da noch etwas in der Luft? Es roch merkwürdig, als hätte man ein Schwein am Spieß gebraten. Dann sah sie die Trümmer der Hütte. Die Lage an dem herabschießenden Gebirgsbach war das einzige Erkennungszeichen in der schwarz verkohlten Umgebung. Dort, wo einmal die Tür zu der Hütte gewesen war, vor der sie noch vor wenigen Tagen gesessen hatte, lagen die Überreste einer Leiche, zu verkohlt und verkrümmt, als dass man den Toten sofort erkannt hätte.

Fidelma erstarrte. Ohne jede Warnung drang ein Schrei zu ihr, ein Schrei, schrill wie von einem Tier. Eine Gestalt kam auf sie zugerannt, in der hocherhobenen Hand die blitzende Klinge eines Messers. Fidelma war unfähig, sich zu rühren beim Anblick des Wesens, das da zwischen den geschwärzten Baumstämmen hervorbrach, bekam aber mit, wie Wulfoald sich blitzschnell vor sie stellte und den Angreifer beiseite schleuderte. Der ließ das Messer fallen und wälzte sich auf dem mit Asche bedeckten Boden. Wulfoald stand mit gezogenem Schwert über dem Gestürzten, der einfach dalag und dessen Schultern sich seltsam hoben und senkten. Nur einen Augenblick dauerte es, dann begriff sie, er schluchzte hemmungslos.

Im gleichen Moment hörte sie den Händler Ratchis einen Schreckensschrei ausstoßen und sah, wie er den Berg hinab zu der Lichtung rannte, auf der sie ihre Reittiere gelassen hatten. Sie rief ihm hinterher, wusste aber sogleich, wie sinnlos das war, und wagte sich ein paar Schritte zu Wulfoald vor.

Der Krieger bückte sich, packte den Angreifer am Kragen und zog ihn hoch. Es war ein junger Mann, wohl keine zwanzig Jahre alt. Sein Haar war zerzaust, das Gesicht mit Ruß beschmiert und tränenüberströmt. Gekleidet war er wie alle Ziegenhirten in der Gegend.

Wulfoald schüttelte die Unglücksgestalt, wie ein Wolf seine Beute schüttelt, und zwang ihn derb, seine Fragen zu beantworten. Dann drehte er sich zu Fidelma und übersetzte.

»Der Bursche hat geglaubt, wir seien diejenigen, die das Unheil hier angerichtet haben.« Er wies mit dem Kopf zu den niedergebrannten Trümmern. »Hawisa ist tot, und auch ein paar ihrer Tiere sind umgekommen. Deshalb hat er sich auf uns gestürzt.« Forschend betrachtete Wulfoald den Jungen von oben bis unten. »Das ist der Neffe von Hawisa. Odo heißt er. Ich erkenne ihn trotz Ruß und Ascheschlamm.«

Zu Fidelmas Überraschung machte der junge Mann plötzlich den Mund auf und erklärte in dürftigem, aber verständlichem Latein: »Ja, Hawisa war meine Tante. Euch kenne ich nicht.«

»Ich stehe bei Seigneur Radoald in Diensten«, erklärte ihm der Krieger. »Das ist Fidelma aus Hibernia.«

»Du heißt also Odo?«, fragte ihn Fidelma. »Und du bist der Ziegenhirt, der die Herde übernahm, als Wamba starb?«

»Du bist doch eine Fremde hier, woher weißt du das alles?«

»Deine Tante hat es mir erzählt. Vor ein paar Tagen habe ich mich mit ihr unterhalten.«

»Sie konnte doch aber kein Latein.«

»Das wusste ich. Ich hatte einen Dolmetscher bei mir. Wie kommt es, dass du Latein sprichst?«

Der junge Bursche streckte sich. »Die frommen Brüder haben mich unterrichtet, und wann immer ich kann, rede ich mit Aistulf.«

»Mit Aistulf, dem Einsiedler? Der scheint mir ein ganz außergewöhnlicher Eremit zu sein. Er soll ja auch deinen Vetter Wamba das Spielen auf der Muse gelehrt haben.«

»Das hat dir wohl Hawisa erzählt. Wamba war sehr gescheit. Er wäre ein guter Spieler auf der Muse geworden …«

»… wenn er länger gelebt hätte«, beendete Wulfoald den Satz.

Fidelma überging den Einwurf. »Wegen Wamba war ich vor ein paar Tagen hier und habe mit deiner Tante gesprochen, heute wollte ich noch ein paar Dinge mit ihr klären. Doch nun ist alles, ihre Hütte und …« Sie sprach nicht weiter, sondern nickte nur stumm zu den verkohlten Resten hinüber. »Suchen wir uns eine bessere Stelle, wo wir miteinander reden können.«

Sie gingen ein Stück bergab. Odo hob noch eine Decke auf, die er auf einem Felsbrocken abgelegt hatte. Auf ihren erstaunten Blick hin erklärte er ihnen: »Die hatte ich hergebracht, um meine Tante zu bedecken und ihre Leiche vielleicht dahin zu schaffen, wo sie ordentlich begraben werden kann.« Sie warteten, bis er die Decke über den verkohlten Leichnam gebreitet hatte, und gingen dann zu dritt zu der vom Feuer verschonten Lichtung, auf der ihre Pferde standen. Die Rosse grasten friedlich neben dem rauschenden Bach, doch Ratchis’ Muli war verschwunden.

Suchend schaute sich Wulfoald um. »Ich nehme an, unser tapferer Handelsmann ist uns untreu geworden. Hättest du ihn überhaupt noch gebraucht?«

Fidelma schüttelte den Kopf und hockte sich auf den Stamm eines umgestürzten Baums. Mit einer Handbewegung lud sie Odo ein, sich neben sie zu setzen. »Du meinst also, das war kein von selbst entstandener Waldbrand?«

»Ja … erzähl uns, wie du das Feuer erlebt hast«, forderte ihn Wulfoald auf und lehnte sich an einen Baum. »Du hast gewusst, dass jemand absichtlich Feuer gelegt hat, sonst hättest du dich nicht auf uns stürzen wollen.«

Niedergeschlagen schaute Odo zu ihm hoch, während er versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

»Irgendetwas hat mich in der Nacht wach gemacht. Die Tiere waren unruhig, und Vögel kreischten, das Feuer muss sie alle aufgeschreckt haben. Ich wohne nicht weit weg von hier, hinter der Kuppe von dem Hügel da. Aber ich konnte von dort nicht gleich sehen, weshalb die Tiere aus dem Waldstück flohen. Dann hörte ich das Knacken und Zischen des Feuers, noch ehe ich die Flammen sah, und wusste, aus welcher Richtung sie hochschlugen. Was sollte ich tun? Das Feuer loderte so heftig, dass ich da hindurch unmöglich zur Hütte meiner Tante gelangen konnte. Ich musste die Tiere und mich selbst in Sicherheit bringen. Auf dem Hügel ist überall felsiger Boden, und dann ist da noch ein Teich, fast so groß wie ein See. Deshalb habe ich die Herde dorthin getrieben, habe gehofft, der steinige Untergrund und das Wasser würden dem Feuer eine Schranke setzen.«

Er schwieg, musste heftig schlucken und redete weiter. »Das Feuer hat lange richtig gewütet. Ich bin bis zum Morgen dort geblieben, bis ich glaubte, die kräftigen Regenschauer müssten alle Flammen gelöscht haben, so dass sie nicht wieder aufleben konnten. Erst dann dachte ich, jetzt bin ich sicher und kann die Herde zurücktreiben. Als ich endlich dorthin gelangte, wo der Wald gebrannt hatte, war es zu spät. Meine Tante …« Der junge Bursche fing wieder an zu schluchzen. Beruhigend legte ihm Fidelma eine Hand auf die Schulter.

»Wie es aussieht, hat es nur unmittelbar um die Hütte hier gebrannt«, überlegte Wulfoald laut. »Könnte es sein, dass deiner Tante ein Missgeschick passiert ist, dass das Feuer auf der Herdstelle plötzlich hochgeschlagen ist?«

»Du bist aber der Auffassung, es ist mit Vorsatz geschehen«, ging Fidelma dazwischen. »Wer kann das Feuer gelegt haben? Oder besser gefragt, warum glaubst du, es war Brandstiftung?«

»Als ich loszog, um meine Herde in Sicherheit zu bringen, habe ich noch mal hochgeschaut zur Hütte meiner Tante«, erzählte ihr Odo. »Viel konnte ich nicht erkennen bei dem Qualm und Hochzüngeln der Flammen, aber ich habe gerade noch gesehen, wie ein Reiter von dort wegritt.«

»Ich denke, man kann die Hütte nur zu Fuß erreichen?«

»Ein geübter Reiter und ein gutes Pferd schaffen das schon«, bestätigte Wulfoald.

»Ich habe ihn wirklich gesehen«, beharrte Odo, »er ist den Berg hinuntergeritten und in dem Rauch verschwunden. Das war der Mann, der das gemacht hat, da bin ich sicher.«

»Kannst du ihn beschreiben?«, fragte Fidelma und lehnte sich vor, damit ihr kein Wort entging.

Odo verneinte. »Er war ja nichts weiter als eine Gestalt im Dunkeln. Ich kann mich nur erinnern, dass sein Pferd fahl war, irgendwas zwischen weiß und grau.« Er warf einen Seitenblick auf Wulfoalds Pferd und runzelte die Stirn. »Es sah ziemlich genauso aus wie das da.«

»Mit Absicht also wurde das Feuer gelegt …«, sagte der Krieger nachdenklich. »Ein Glück, dass es nicht weiter um sich gegriffen hat.«

»Es hat kräftig geregnet um den Gipfel herum. Auch andere Leute, die am Berg wohnen, sind gekommen und haben nach den Brandschneisen gesehen, waren sich nicht sicher, ob der Wind das Feuer wieder entfacht. Jetzt sind alle nach Hause gezogen und sind froh, dass ihren Herden nichts passiert ist. Als ich losgehen wollte, fielen mir Leute auf, die zur Bergkapelle hochwanderten.«

»Das muss Bruder Bladulf mit seinen Mitbrüdern gewesen sein«, meinte Wulfoald.

»Sie waren zu Fuß auf der Bergstraße unterwegs. Ich wollte erst warten und sehen, ob sie zurückkommen, doch dann tauchtet ihr plötzlich auf, und als ich merkte, ihr geht auf Hawisas Hütte zu, da habe ich gedacht, ihr habt das alles angerichtet.«

»Wenn wirklich einer das Feuer gelegt und den Tod der alten Frau verursacht hat, dann wirft das eine Menge Fragen auf«, grübelte Fidelma. »Hat deine Tante eigentlich an dem Tag, als Wamba tot aufgefunden wurde, mit dir über ihn gesprochen,?«

»Seit der Beerdigung hat sie von nichts anderem geredet«, beteuerte der Ziegenhirt. »Mein Vetter war ihr einziges Kind. Warum fragst du danach?«

»Was hat sie gesagt? Wie hat sie dir die Umstände geschildert?«

»An dem Tag ist sie zu meiner Hütte gekommen, die weiter unten am Berg steht, wie ich ja schon sagte. Sie hat mir erzählt, ein Krieger hat Wamba da gefunden, wo er vermutlich von der Felswand gestürzt ist. Er war schon tot. Sie bat mich, ihre Ziegen zu versorgen, weil sie zur Abtei hinunter musste, wohin die Leiche zur Bestattung gebracht werden sollte.«

»Woher wusste sie, dass ein Krieger ihren Jungen gefunden hatte?«

Odo schaute sie verwundert an. »Weil der Krieger ihr das so erzählt hat.«

»Dann war sie also noch nicht zur Abtei gegangen, als sie mit dir gesprochen hat. Wann hat der Krieger ihr gesagt, wie und wo er den Jungen gefunden hat?«

Der junge Mann war nun vollends verwirrt. »Ich verstehe nicht, was du willst. Er hat ihr das natürlich erzählt, als er den Toten zu ihrer Hütte brachte.«

Fidelma überhörte Wulfoalds befriedigtes Grunzen.

»Hat sie dir gesagt, wer der Krieger war? Wie er hieß?«

»Nur, dass er zur Truppe von Seigneur Radoald gehörte, mehr weiß ich nicht. Seltsam war das schon. Abt Servillius war auch gerade bei ihr gewesen. Er war gekommen, um Wamba einen Gegenwert für eine alte Münze zu bringen, die Wamba von irgendwem erhalten hatte. Soviel ich weiß, hatte er das Geldstück zur Abtei gebracht.«

»Zu Wambas Bestattung bist du wohl nicht gegangen?«

»Ich konnte nicht. Hawisa hatte mich gebeten, mich um die Ziegen zu kümmern. Sie war ohne mich dort.«

Fidelma lehnte sich zurück, ihre Gedanken überschlugen sich. Das war das Gegenteil von dem, was Hawisa ihr bei ihrem Besuch erzählt hatte. Odos Aussagen bestätigten Wulfoalds Darstellung der Vorgänge voll und ganz. Wie war das möglich?

Wulfoald lächelte beinahe triumphierend. »Da hast du es; was ich dir erzählt habe, stimmt also.«

»Noch etwas, Odo. Hast du gewusst, dass deine Tante ein Kästchen, das Wamba gehörte, in den Steinhaufen gestellt hat, den sie ihm zum Gedenken aufgeschichtet hatte?«

Der Bursche nickte traurig. »Es wurde beinahe gleich danach gestohlen. Einer der Hirten hat sogar gesehen, wie es entwendet wurde. Er hat gesehen, wie ein Mann in einer Mönchskutte von der Gedenkstelle heruntergeklettert ist und das Kästchen in der Hand hatte. Er wollte ihm den Weg abschneiden, ist heruntergekraxelt, doch als er unten ankam, war der Dieb auf seinem Pferd schon weg. Noch merkwürdiger ist, dass meine Tante gestern früh das Kistchen wiederfand, zwar ein bisschen beschädigt, aber ordentlich in den Steinhaufen zurückgestellt.«

Fidelma hielt es nicht für nötig, ihm den Sachverhalt zu erklären, wollte aber wissen: »Hat der Hirt vielleicht die Farbe von dem Pferd erwähnt?«

Odo überlegte einen Moment und begriff dann, weshalb sie fragte. »Es war ebenfalls fahlgrau.«

»Wo könnte dieser Zeuge jetzt sein?«

»Er ist nicht hier, Schwester. Er ist nach Travo gegangen, bald nachdem der Gedenksteinhaufen zerstört war, und ist noch nicht zurück.«

Fidelma blieb unschlüssig sitzen. Nachdenklich schaute sie auf das strudelnde Wasser des Gebirgsbachs. Oft schon hatte sie erlebt, dass Fragen wie eine Kaskade auf sie einstürzten. Warum hatte Hawisa ihr und Bruder Eolann eine Geschichte aufgetischt, die so völlig anders klang? Warum hatte sie so unverschämt gelogen? Plötzlich ging ihr auf, dass sie die Frage falsch stellte. Das hatte sie sich vorher nie richtig klargemacht. Woher wusste sie eigentlich, was Hawisa erzählt hatte? Nur über die Übersetzung hatte sie erfahren, was die Alte sagte. Fidelma hatte sich voll und ganz auf ihren Dolmetscher verlassen, und das war Bruder Eolann. Aber warum sollte der junge Mönch falsch wiedergegeben haben, was er gehört hatte? Falls Hawisa nicht gelogen hatte, warum sollte der scriptor ihre Worte vorsätzlich verdreht haben? Auch andere Fragen standen im Raum. Warum war Abt Servillius den ganzen beschwerlichen Weg bis zu Hawisas Hütte hinaufgestiegen, um sie für eine Münze zu entschädigen, die nicht einmal viel wert war? Und warum hatte Bruder Ruadán behauptet, Wamba sei getötet worden, nur weil er die Münzen hatte?

Fidelma stand auf, wendete die Antworten hin und her, die ebenso viele neue Fragen aufwarfen. Dabei kam ihr ein nächster Gedanke.

»Odo, du hast vorhin gesagt, Abt Servillius hätte an jenem Tag Hawisa in ihrer Hütte aufgesucht, um Wamba für irgendwelche Münzen zu entschädigen, die er zur Abtei gebracht hatte.«

»Ja, das stimmt.«

»Überleg noch mal genau, hatte Wamba die Münzen gefunden, oder hatte er sie von jemandem bekommen?«

»Wamba hat mir erzählt, dass man ihm zwei Münzen gegeben hat, einfach gefunden hat er sie nicht. Er war der Meinung, sie waren aus Gold und richtig alt. Gezeigt hat er mir sie nicht. Seiner Mutter hat er aber nur von einer Münze erzählt.«

»Ich wiederhole, um sicherzugehen, dass ich keinen Fehler mache: Wamba hat die Münzen von jemandem erhalten.«

»Jedenfalls hat er es mir so erzählt, und seiner Mutter ebenso.«

»Wer kann ihm die Münzen gegeben haben?«

»Ein alter Mönch, einer von den Männern aus Hibernia unten in der Abtei.«

»An den Namen kannst du dich wohl nicht erinnern?«

»Genau nicht. Der Name klang so wie das Wort für ein dickes Tau.«

Das lateinische Wort, das er benutzte, war rudens. Über Fidelma Gesicht glitt ein befriedigtes Lächeln.

»Bruder Ruadán?«, fragte sie.

Odo zögerte nicht einen Moment. »Ja, das war der Name.«

Bruder Ruadán also war es gewesen, der Wamba die Münzen gegeben hatte, Münzen, deretwegen, wie der Alte vermutete, Wamba hatte sterben müssen.

»Pass gut auf dich auf, Odo«, riet sie ihm. »Auf diesem Berg geschehen merkwürdige Dinge. Wenn wir losgeritten sind, solltest du besser deine Ziegen auf einen anderen Weidegrund treiben, wo du dich wenigstens für die nächste Zeit sicher fühlen kannst.«

Wulfoald richtete bereits Zügel und Geschirr der Pferde und murmelte missmutig: »Ich hatte gehofft, wir könnten das Maultier von unserem Händler nutzen, um die Leiche der alten Frau zur Abtei zu schaffen. Wäre doch nur recht und billig, wenn sie neben ihrem Sohn bestattet wird.«

Fidelma war beeindruckt. »Nimm einfach mein Pferd. Ich sitze hinter dir auf.«

»Vielen Dank, Schwester, sagte Odo. »Ich helfe euch mit der Leiche.«

Sie machten sich an ihre grausige Aufgabe. Es dauerte nicht lange, bis sie den Leichnam in Odos Decke eingeschlagen hatten. Der junge Mann versicherte, er wolle seiner Tante die letzte Ehre erweisen und werde noch vor Mitternacht zur Abtei kommen, wo um die Zeit die Beisetzung stattfinden würde.

»Hier können wir nichts weiter ausrichten«, stellte Wulfoald abschließend fest. »Ich verstehe das alles nicht. Wenn das Feuer vorsätzlich gelegt wurde, wovon wir ja ausgehen, müssen wir dann in Grasulf und seinen Leuten die Schuldigen sehen?«

»Wulfoald, nach allem was wir gesehen und gehört haben, bin ich genauso ratlos wie du.«

Beinahe belustigt verzog der Krieger das Gesicht. »Die Sache ist wohl nicht so ausgegangen, wie du es dir vorgestellt hast? Jedenfalls müssen wir so schnell wie möglich zur Abtei zurück und mit dem Bibliothekar, mit Bruder Eolann, ein Wörtchen reden. Der müsste uns reinen Wein einschenken können, was Hawisa dir wirklich gesagt hat und warum das alles so und nicht anders geschehen ist.«

»Du hast völlig recht, Wulfoald, tut mir leid. Ich hätte längst begreifen müssen, dass du die Wahrheit gesagt hast.«

»Wie kommst du erst jetzt darauf?«, fragte Wulfoald sichtlich amüsiert.

»Als Bruder Waldipert, der Koch, mir erzählte, dass du Wambas Leichnam zur Abtei gebracht hast, hat er ganz deutlich gesagt, dass du den Leichnam mit dem Abt gebracht hast und nicht zum Abt. Das hieß doch, ihr beide, du und der Abt, habt den Leichnam zur Abtei begleitet. Ich war dumm, nicht darauf geachtet zu haben.«

Wulfoald wurde nachdenklich. »Ein Wörtchen nur, ein kleines Verhältniswort. Leicht zu überhören. Grammatici certant, et adhuc sub iudice lis est.«

Fidelma konnte nur müde lächeln. »Die Grammatiker streiten sich, und der Fall liegt immer noch vor Gericht«, wiederholte sie. »Doch eins dürfen wir nicht vergessen, aus einem bloßen sprachlichen Missverständnis entstehen selbst Kriege.«

»Wollen hoffen, dass aus dem rätselhaften Geschehen hier kein Krieg erwächst«, erwiderte er, band die Rosse los und schwang sich in den Sattel. Er streckte einen Arm aus und war Fidelma behilflich, hinter ihm aufzusteigen. Dann ergriff er die Zügel des Pferds, das mit dem Leichnam von Hawisa beladen war, und ritt mit aller Vorsicht auf dem Bergpfad hinunter zur Abtei.

Fidelma war reichlich durcheinander, als sie so hinter dem Krieger saß und sich an ihn klammerte. Etwas stimmte nicht, und sie beschlich die bange Ahnung, dass die Antworten auf all die mysteriösen Vorgänge in der Abtei selbst lagen.

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