KAPITEL 17

»Was ist hier vor sich gegangen? Nun sag doch was!«, beschwor Fidelma den Koch.

Der hatte sich noch nicht wieder gefasst, starrte wie gebannt immer auf denselben Fleck und rang nach Worten. Für Fidelma völlig unerwartet machte der Ehrwürdige Ionas einen Schritt auf ihn zu und versetzte ihm einen Backenstreich. Der Koch wusste nicht, wie ihm geschah, stolperte zurück und fuhr sich mit einer Hand über die rot werdende Wange.

»Ignosce mihi – verzeih, Bruder Waldipert«, sagte der alte Mönch. »Ich sah keine andere Möglichkeit, dich ins Hier und Jetzt zu versetzen, und jeder Moment zählt.«

Bruder Waldipert stand und rieb sich die Wange und sah den Ehrwürdigen Ionas mit leerem Blick an.

»Was hat dich hierher getrieben?«, fragte der Ehrwürdige Ionas beharrlich.

»Ich … ich wollte dem Vater Abt ein paar Rechnungen zur Bestätigung vorlegen«, stammelte der Koch.

»Wann war das?«

»Ich bin eben erst gekommen. Ich habe angeklopft, die Tür aufgemacht und sah … sah … Ich weiß nicht, was geschehen ist. Du hast mich geschlagen, mir ins Gesicht geschlagen.«

»Du hast die Tür geöffnet, Bruder Waldipert, und sahst den Abt auf dem Fußboden liegen«, mischte sich Fidelma ein. »Hast du irgendwen im Raum gesehen, jemand, der anders als durch die Tür hinauswollte, durch das Fenster vielleicht?«

Der Koch schüttelte den Kopf. »Man kann hier nur durch die Tür hinaus. Das Fenster ist viel zu klein.«

Im Flur hörte man Schritte, und Bruder Hnikar tauchte auf. Er streifte sie nur mit einem Blick, ging in die Abtstube, kniete sich neben den Toten und untersuchte ihn flüchtig.

»Tot. Man hat ihm den Schädel eingeschlagen.«

Es war für alle offensichtlich und hätte der Feststellung nicht bedurft. Fidelma verbiss sich eine sarkastische Bemerkung und wies auf den Kerzenständer. »Vermutlich war der Kerzenhalter aus Messing da die Waffe.«

Bruder Hnikar folgte ihrer Handbewegung. »Das kann durchaus sein.«

»Wann ist das passiert?«

»Schwer zu sagen«, erwiderte der Apotheker. »Das Blut ist bereits getrocknet, die Leichenstarre ist eingetreten. Es kann schon vor einem halben Tag gewesen sein.«

»Vor einem halben Tag? Bist du dir sicher?«

Der Apotheker überging ihre Frage und wollte stattdessen wissen: »Wer hat ihn gefunden? Du?«

»Bruder Waldipert hat die Leiche entdeckt.«

Mit einem raschen Blick auf den Koch erhob sich der Heilkundige.

»Das ist eine traurige Sache«, meinte er, an den Ehrwürdigen Ionas gewandt.

»Nur allzu wahr«, bestätigte der Gelehrte. »Ich betrachte das Weitere als meine Aufgabe.«

»Wir müssen doch aber die Rückkehr von Magister Ado abwarten, ohne ihn dürfen wir keinen neuen Abt ernennen«, erklärte Bruder Hnikar widerstrebend.

»Ich habe nicht gesagt, dass ich das Amt des Abts übernehme«, machte der Ehrwürdige Ionas nachdrücklich klar. »Ich übernehme lediglich die Verantwortung, bis Magister Ado wieder da ist, und dann befinden wir über die Abtei betreffende Dinge.«

»Als Erstes müssen wir in Erfahrung bringen, wann man den Abt das letzte Mal lebend gesehen hat«, mahnte Fidelma an.

Bruder Hnikar verwahrte sich gegen ihr Eingreifen. »Ich darf dich daran erinnern, dass du in der Abtei nur Gast bist. Ein angesehener Gast zwar, wie es heißt, aber dennoch nur ein Gast.«

Sich räuspernd griff der Ehrwürdige Ionas ein. »Lieber Bruder Hnikar, unser angesehener Gast hat mit Recht auf das Nächstliegende verwiesen. Wir können nicht sitzen und abwarten. Schon allein die Sitte verlangt, dass wir unseren großen Freund und früheren Abt noch heute Nacht zur letzten Ruhe betten. Auch schulden wir es ihm, seinen Mörder ausfindig zu machen.«

»Ich nehme zurück, was ich gesagt habe, Ehrwürdiger Ionas«, erklärte der Apotheker verschnupft. »Was den Mord betrifft, so war es gewiss der Versuch eines barbarischen Raubüberfalls. Die Person, die das Verbrechen verübt hat, dürfte längst in den Wäldern das Weite gesucht haben. Wir sollten Kontakt zu Wulfoald aufnehmen und ihn bitten, dass er seine Krieger auf den Täter ansetzt.«

»Ich glaube nicht, dass der Täter ein Räuber war«, äußerte Fidelma, vielleicht etwas voreilig, hielt aber sofort den Mund, weil Bruder Hnikar ungehalten das Gesicht verzog. Der Ehrwürdige Ionas ließ ihm jedoch keine Chance zu einer unfreundlichen Entgegnung.

»Die Zeit vergeht, jede Minute zählt, Bruder. Wir müssen handeln. Schwester Fidelma ist ein angesehener Gast, wie du selbst gesagt hast. Bei sich daheim ist sie Rechtsanwältin und Richterin, und als solche wurde sie vom Heiligen Vater, seinem Ratgeber und dem Hauptmann seiner Schutztruppe damit betraut, die mysteriösen Umstände des Mordes an einem Erzbischof im Lateranpalast aufzudecken.«

»Das ist mir nicht neu, ich habe davon gehört.« Bruder Hnikar winkte ab.

»Als zeitweiliger Vorsteher unserer Gemeinde erkläre ich Folgendes: Ich beauftrage sie hiermit, Erkundungen über den Vorfall einzuziehen. Ich gebe ihr die Vollmacht, zu kommen und zu gehen, wohin und wie es ihr beliebt, und jeden nach eigenem Gutdünken zu befragen.«

Bruder Hnikar sah ihn erschrocken an. »Aber die Regel …«

»Die Regel als solche bleibt unangetastet, darf aber in keiner Weise ihre Eigenmächtigkeit oder die Vollmachten, die sie von mir hat, beeinträchtigen.«

Der Apotheker war versucht, erneut aufzubegehren, besann sich aber eines Besseren und verbeugte sich vor Fidelma.

»Gibt es etwas dagegen einzuwenden, Schwester Fidelma, wenn ich den Leichnam fortschaffe, um ihn – da wir nun die Todesursache festgestellt haben – zur Bestattung vorzubereiten?« Leichter Sarkasmus schwang in seiner Stimme mit.

»Ich möchte zuvor noch den Raum untersuchen, dann magst du den Toten fortbringen. Wir wissen zwar, wie der Abt zu Tode gekommen ist, aber wir müssen herausfinden, warum und durch wen.« Sie wandte sich dem Ehrwürdigen Ionas zu und dankte ihm mit einem Kopfnicken. »Ich glaube, im Moment kann uns Bruder Hnikar nicht weiterhelfen, und mit Bruder Waldipert werden wir uns später noch einmal unterhalten.«

Ihre Worte waren eindeutig genug, und beide Männer verließen die Stätte des Grauens, der eine missmutig, der andere erleichtert. Der Ehrwürdige Ionas und Fidelma blieben allein zurück.

»Viel Zeit haben wir nicht«, meinte der Geistliche mit einem leichten Seufzer. »Bruder Hnikar ist von meiner Entscheidung nicht erbaut und gewiss schon auf dem Weg zu Bruder Wulfila, um sich von ihm Unterstützung zu holen. Und wenn Magister Ado zurückkehrt …« Er zuckte mit den Achseln. »Vielleicht ist es wirklich das Vernünftigste, einige von Wulfoalds Kriegern loszuschicken, wie Bruder Hnikar vorgeschlagen hat, um die Umgebung abzusuchen. Zu Fuß kann der Mörder nicht weit gekommen sein, und zu Pferde wäre er schon am Tor aufgehalten worden.«

»Falls der Mörder überhaupt die Abtei verlassen hat, ist das ein richtiger Gedanke. Nur ist Wulfoald nicht mehr hier. Auch halte ich es für Zeitverschwendung, den Mörder jenseits der Abteimauern suchen zu wollen.«

Der Ehrwürdige Ionas sah sie mit vor Schreck geweiteten Augen an. »Soll ich das so verstehen, dass du glaubst, der Mörder hält sich in der Abtei verborgen?«

»Sich verborgen halten scheint mir nicht der rechte Ausdruck«, erwiderte sie bitter. »Ich glaube, er ist der Gemeinschaft wohlbekannt. Ich fürchte, man hat mich auf eine falsche Spur gesetzt, und zwar wissentlich, um mich abzulenken.«

»Wie das?«

»Mit dem Tod von Abt Servillius.«

»Tut mir leid. Ich kann dir nicht folgen.«

»Ich bin zu eifrig den Hinweisen nachgegangen, die mich zum Abt führten. Wer auch immer mich auf die Fährte lockte, wusste, dass ich früher oder später den Namen Quintus Servilius Caepio mit Abt Servillius in Verbindung bringen würde. Eins plus eins macht zwar zwei, aber manchmal sollte man sicherstellen, dass die beiden Zahlen, die einem als erste mitgeteilt werden, auch wirklich stimmen.«

Dem Ehrwürdigen Ionas stand die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben. »Ich kann deiner Logik immer noch nicht folgen, Schwester Fidelma, aber will sie erst einmal als gegeben hinnehmen. War all das, was du mir gerade erst in meiner Studierstube eröffnet hast, falsch?«

»Nicht unbedingt falsch. Es waren die Erkenntnisse, mit denen man mich sorgfältig gespeist hat. Hinweise, die jemand umsichtig gestreut und so gewitzt als Fährte ausgelegt hatte, dass ich glauben sollte, ich selbst wäre dem Ganzen auf die Spur gekommen. Man hatte mit meiner Neugierde gerechnet. Es ging nicht darum, dass ich die Seiten, die irgendjemand aus den Büchern in der Bibliothek entfernt hatte, nicht lesen sollte, nein, im Gegenteil, man wusste, dass ich, von Neugier getrieben, darauf aus sein würde, zu erfahren, was auf ihnen geschrieben stand.«

»Aber abgesehen von der Geschichte mit Caepio und seinem verschwundenen Gold gab es doch nicht viel anderes auf den Seiten zu lesen.«

»Dem Gold von Quintus Servilius Caepio«, verbesserte ihn Fidelma. »Aurum Tolosanum

»Ja, und?«

»Das letzte Stichwort hast du mir gegeben – du hast mir erzählt, dass Servilius ein Geschlechtername wäre, und hast weiterhin gesagt, dass der Abt stolz auf seine alten patrizischen Wurzeln in dem Gebiet hier sei.«

Nachdenklich krauste der Ehrwürdige Ionas die Stirn. »Ich hätte dir das entscheidende Stichwort gegeben? Ja, ich erinnere mich, ich habe über den Namen gesprochen …« Er blickte sie argwöhnisch an. »Willst du mir zu verstehen geben, dass ich dich auf eine falsche Fährte gelockt hätte?«

»Die Sache ist viel komplizierter«, erwiderte Fidelma. »Die Person, die hinter dem Ganzen steckt, gäbe einen fabelhaften fidchell Spieler ab.«

»Einen was?«

»Es ist ein Brettspiel, das man in unserem Land spielt, sein Name bedeutet soviel wie ›Ausgeklügelte Spuren auf dem Brett‹. Die Spielweise hat manches gemeinsam mit dem ludus latrunculorum, einem Brettspiel zur Übung in militärischen Taktiken, wie ihr es hier kennt.«

»Du machst es mir trotzdem schwer.«

»Wir haben es mit einem Meisterspieler zu tun, einem Strategen, der die Fäden zieht. Er hat fein säuberlich die einzelnen Schritte vorgegeben und mich in eine Sackgasse geführt. Allerdings hat er damit gerechnet, dass ich länger brauchen würde, mich in dem Irrgarten zurechtzufinden. Als er bemerkte, dass ich über kurz oder lang den Abt zur Rede stellen würde, befürchtete er, dass das für seine Pläne zu früh geschehen könnte, und so musste, wie ich schlussfolgere, Abt Servillius sterben. Ich vermute, man hat ihn gestern kurz nach seiner Rückkehr in die Abtei umgebracht.«

»Das klingt, als wüsstest du, wer dieser Stratege, wie du ihn nennst, ist.«

»Bei uns gibt es die Redensart ›Wehe dem, dessen Verräter mit ihm an einem Tisch sitzt‹.«

Von draußen hörte man erregte Stimmen, und gleich darauf kam Magister Ado hereingestürzt, gefolgt von Bruder Faro.

»Ist es wahr?«, fragte er und blickte besorgt den Ehrwürdigen Ionas an. »Ich bin gerade von Travo zurück und erfahre, Abt Servillius sei tot – wäre ermordet worden.«

»Nachrichten verbreiten sich überraschend schnell«, konnte Fidelma nicht umhin zu bemerken.

Magister Ado reagierte mit ungewohnter Schärfe. »Nicht über die Tore der Abtei hinaus. Ich habe es von Bruder Wulfila. Auf dem ganzen Weg hierher, auf dem ich auch Bruder Faro getroffen habe, ist uns nichts zu Ohren gekommen. Erst hier erschreckte man uns mit der Nachricht. Es ist also wahr?«

»Leider ja, Bruder«, bestätigte der Ehrwürdige Ionas. »Der Abt wurde erschlagen, man hat ihm den Schädel zertrümmert.«

Magister Ado bekreuzigte sich. »Deus adiuvet nos«, murmelte er fromm. »Hat man den Täter gefasst?«

»Bislang nicht.«

»Weiß man, wer die Tat begangen hat?«

»Ich denke, schon«, erwiderte Fidelma. »Und ich fürchte, wir müssen ihm mehrere Tote zuschreiben.«

»Mehrere Tote?«

»Ich glaube, unsere Schwester aus Hibernia spielt unter anderem auf den Tod von Freifrau Gunora an«, klärte ihn der Ehrwürdige Ionas auf.

»Wir durchleben eine böse Zeit, Fidelma«, stellte Magister Ado fest. »Zwischen Grimoald und Perctarit und ihren ehrgeizigen Plänen geben wir den bloßen Spielball ab. Abt Servillius hat Prinz Romuald Zuflucht gewährt, und in dem Moment, da Bischof Britmund dahintergekommen war, dürften es auch die erfahren haben, die den Prinzen nutzen wollten, um seinen Vater zu bekriegen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass man Abt Servillius umgebracht hat, weil er den Knaben unter seinen Schutz gestellt hat.«

»Das glaube ich nicht«, widersprach ihm Fidelma mit ruhiger Stimme.

Die beiden Geistlichen sahen sie erwartungsvoll an.

»Du hast gesagt, du wüsstest, wer der Täter ist und dass er sich in der Abtei aufhielte«, sagte der Ehrwürdige Ionas. »Also sprich.«

Draußen auf dem Hof ertönte ein Wehklagen, zunächst schwach, dann immer lauter, und bald mischten sich andere Schreie darunter, so dass das Ganze einen Chor menschlicher Bedrängnis und Angst ergab. Sie gingen zur Tür, als einer der Brüder, völlig zerzaust und verschmutzt, zu ihnen hineindrängte.

»Der Satan treibt sein Unwesen in der Abtei«, schrie er. »Zu Hilfe! Herr, erlöse uns von dem Übel!«

Die verzweifelten Rufe wurden in Fidelmas Sprache ausgestoßen, und sie erkannte in dem Getriebenen Bruder Lonán, den Gärtner und Kräutersammler. Sie packte ihn am Kragen und rüttelte ihn.

»Komm zu dir, Bruder! Hier gibt es nichts Böses, das dich umtreibt, und wenn, dann ist es von Menschenhand. Was macht dir solche Angst? Sprich. Und sprich in der Sprache des Glaubens, so dass dich alle hier verstehen.«

Der Mann zuckte zusammen, da er so grob und in der ihm vertrauten Sprache angefahren wurde. Er starrte Fidelma an. »Der Tod schleicht durch die Abtei, Schwester. Böses geht um. Der Ort ist verflucht, wir müssen fliehen.« Zittern und Weinen überwältigten ihn.

»Worum geht es?«, drang der Ehrwürdige Ionas in ihn und befahl Bruder Wulfila, der dem Gärtner gefolgt war: »Geh hinaus auf den Hof und sorge dafür, dass die Brüder ihr Wehklagen einstellen.«

Fidelma betrachtete den schluchzenden Mann mit Widerwillen und versuchte dann, ihn aufzurütteln. Das tat sie immer noch in der Sprache ihrer gemeinsamen Heimat. »Nimm dich zusammen, ich sage es ein letztes Mal. Die Regel des Benedikt, die hier gilt, sieht für diejenigen, die sie nicht befolgen, Strafen vor, wenn du nicht auf der Stelle sprichst.«

Bruder Lonán schreckte zurück und sah sie entsetzt an.

»Besinn dich also«, fuhr sie fort. »Denke daran, wo du bist. Sprich in der Sprache deiner Klostergemeinschaft und berichte, was geschehen ist.«

Er schluckte nervös. »Ich … ich war im herbarium«, begann er.

»Es ist bereits dunkel«, unterbrach ihn Magister Ado. »Was hattest du um diese Stunde dort zu suchen?«

»An warmen Sommerabenden gehe ich immer ein wenig im Garten umher. Der Duft der Kräuter und Blumen, die abendliche Stimmung … die haben es mir angetan.«

Magister Ado wehrte verächtlich ab. »Es geht uns hier nicht um persönliche Vorlieben, Bruder Lonán, sondern …«

»Es scheint mir sinnvoller zu erfahren, was ihn in einen solchen Zustand versetzt hat, als ihn zu belehren, was richtig oder unrichtig ist«, mischte sich der Ehrwürdige Ionas tadelnd ein.

Der Gärtner fühlte sich ermutigt und redete weiter. »Der Mond steht rund am Himmel und scheint schon hell. Ich ging den Weg bei den Olivenbäumen entlang, als ich etwas knurren hörte – das Knurren eines Wolfes.«

»Wölfe kommen öfter hier ins Tal, wenn sie auf Futtersuche sind«, stellte Magister Ado fest. »Das ist nichts Ungewöhnliches und noch lange kein Grund, sich zu fürchten und wie ein verängstigtes Kind herumzujammern.«

»In der Nacht herumstreifende Wölfe ängstigen mich nicht, Ehrenwerter Ado«, verteidigte sich Bruder Lonán. »Ich weiß, wie ich mich zu verhalten habe, wenn ich ihnen begegne. Ich habe mit Steinen geworfen und wunderte mich, dass sich das Tier nicht wie sonst verzog. Es schien mich herausfordern zu wollen. Ich zielte mit ein paar größeren Steinen nach ihm und schrie es an, erst dann trollte es sich.«

»Und weiter?«, half Fidelma ein, da Bruder Lonán schwieg.

»Der Wolf hatte sich zwischen den Bäumen zu schaffen gemacht. Ich ging näher. Es war dunkel, und alles lag im Schatten. Doch plötzlich kam der Mond hervor, und sein Licht fiel zwischen die Zweige und beleuchtete die Stelle, wo der Wolf gegraben hatte. Aus der Erde lugte etwas Blasses und Weißes hervor und starrte mich an … Gott stehe mir bei!«

Zutiefst erschrocken rang Magister Ado nach Atem.

»Sag schon, was war es?«, drängte ihn Fidelma.

»Es war das Gesicht von Bruder Eolann.«

Ein wenig später begaben sie sich gemeinsam in den Kräutergarten – es war eine größere Gruppe: der Ehrwürdige Ionas, Magister Ado, Fidelma, Bruder Hnikar, Bruder Wulfila und Bruder Faro, letztere trugen Lampen und Spaten. Allen voran ging Bruder Lonán. Er führte sie an das hintere Ende des Gartens zu einer Gruppe von Olivenbäumen. Dort blieb der Gärtner stehen und hielt sich zurück, während die anderen der Stelle zustrebten, auf die er wies. Durch die Wühlerei des Wolfes war die Leiche zum Teil freigelegt. Der Lampenschein der Männer tanzte auf dem bleichen Gesicht des Bibliothekars.

Der Apotheker beugte sich nieder und untersuchte den Kopf.

»Lange ist er hier noch nicht vergraben. Auch ist die Erde nicht tief ausgehoben, man hat sich des Toten offensichtlich in aller Eile entledigen wollen. Kein Wunder, dass der Wolf ihn ausbuddeln konnte. Aus dem Zustand der Leiche würde ich schließen, dass Bruder Eolann wie der Abt bereits eine Weile tot ist.«

»Hast du schon eine Vorstellung, wie er zu Tode gekommen ist?«, fragte Fidelma.

Bruder Hnikar stand auf, und im flackernden Lampenschein gewann sie den flüchtigen Eindruck, dass er höhnisch grinste.

»Jedenfalls nicht als Folge der Verletzung von heute früh«, sagte er. »Ich muss den Leichnam erst gründlicher untersuchen. Bruder Wulfila und Bruder Lonán, grabt ihn aus und schafft ihn zu mir in die Apotheke.« Er wandte sich an den Ehrwürdigen Ionas und Magister Ado. »Wir müssen hier nicht länger herumstehen. Wir sollten in die Apotheke gehen und dort warten, bis sie den Toten bringen. Dort werde ich dann feststellen, ob der Satan durch die Abtei schleicht und für welche Todesart er eine Vorliebe hat.« Die letzten bissigen Worte galten dem immer noch zitternden Bruder Lonán.

Lange mussten sie in der nach Heilkräutern und Mixturen duftenden Apotheke nicht warten. Bruder Hnikar mochte kein liebenswerter Mensch sein, aber er war ein sachkundiger Apotheker und Arzt. Schon bald stellte er fest: »Er ist an der Wunde da unter dem Herzen gestorben. Man hat sie ihm mit einer Waffe mit breiter Klinge beigebracht, könnte ein Schwert, so etwas wie ein gladius gewesen sein.«

»Ein gladius?«, wiederholte Fidelma.

»Das ist eine kurze Hieb-und Stichwaffe, wie sie die römischen Legionen benutzt haben«, erklärte er. »Einige unserer Krieger schwören auch noch heute auf sie. Wulfoald zum Beispiel hat so eine.«

»Heißt das, dass es eine allgemein übliche Waffe ist?«

»So üblich heute wiederum nicht.« Es war Magister Ado, der ihr antwortete. »Ich glaube, Krieger zu Pferde bevorzugen lange, den Gegner aufschlitzende Schwerter. Die kurzen Schwerter bewähren sich im Nahkampf, aber wenn der Angreifer eine Lanze oder ein langes Schwert hat, ist man mit einem gladius im Nachteil.«

»Du kannst nicht sagen, ob man ihn heute Morgen oder heute Abend umgebracht hat?«, fragte Fidelma den Apotheker.

Er lachte herausfordernd. »Wenn ein Arzt eines Tages in der Lage sein sollte, über den genauen Zeitpunkt Auskunft zu geben, wann jemand starb, dann wird es auch ein Leichtes sein, alle Morde aufzuklären. Dann brauchen wir als Anhaltspunkt nur noch, wann der Betreffende starb, und schnappen uns einfach den, der da gerade bei ihm oder in seiner Nähe war. Doch das ist eine Wunschvorstellung. Als du in die Abtei zurückkehrtest, hatte ich ihn noch kurz zuvor gesehen«, lenkte er ein. »Ich hatte dir das auch gesagt.«

»Demnach muss er bald danach ermordet worden sein«, sagte Fidelma.

Bruder Hnikar zuckte mit den Achseln. »Eingebuddelt hat man ihn erst nach Einbruch der Dunkelheit, so viel kann ich sagen, denn die Erde haftet noch nicht an seiner Kleidung oder Haut.«

»Dann muss er noch in der Abtei gewesen sein, als ich nach ihm suchte«, meinte der Ehrwürdige Ionas. »Aber wo mag er gesteckt haben?«

»Oder versteckt worden sein«, ergänzte Fidelma. Sie hatte eine Weile geschwiegen, weil ihr ein Gedanke keine Ruhe gelassen hatte. Und plötzlich stellte sie Magister Ado die Frage: »War es Bruder Eolanns Vorschlag, dass du dich auf die Reise nach Tolosa begabst, um wegen dieses Buches zu verhandeln … wie hieß es doch? … Das Leben des heiligen Märtyrers Saturnin

Magister Ado staunte über ihr gutes Gedächtnis. »Ja. Wieso?«

»Hättest du dich auch von allein auf den Weg gemacht?«

»Sicher nicht. Der scriptor bestand darauf, dass wir den Band in unserer Bibliothek haben müssten, es würde dem Ruf unserer Abtei als großem Zentrum der Gelehrsamkeit äußerst dienlich sein. Und da ich schon zuvor in Tolosa gewesen war, hatte ich das Gefühl, dass ich die am ehesten geeignete Person wäre, die Sache in die Hand zu nehmen. Aber inwiefern tangiert das den Mord am Abt? Was sollten die beiden Todesfälle miteinander zu tun haben?«

»Es handelt sich um sechs Tote«, korrigierte Fidelma ihn behutsam.

»Wie bitte?« Magister Ado war schockiert.

»Sechs Tote«, wiederholte sie, »plus ein Anschlag auf dein Leben und die Verwundung von Bruder Faro. Alle Vorfälle haben miteinander zu tun. Wir können nur hoffen, dass es nicht noch mehr Tote gibt.«

Bruder Wulfila drängte sie zu den vordringlichen Aufgaben. »Ich muss euch daran erinnern, dass es in unserer Abtei Brauch ist, einen Toten zur Mitternacht zu bestatten. Wir müssen Abt Servillius, Hawisa und Bruder Eolann zur letzten Ruhe betten.«

»Richtig«, stimmte ihm der Ehrwürdige Ionas zu. »Falls es keine wesentlichen Einwände gibt, sollten wir unsere Betrachtungen auf später verschieben und Vorbereitungen für die Bestattung unserer Toten treffen.« Er blickte, Einverständnis heischend, zu Magister Ado, und der neigte den Kopf.

»Ich pflichte dir bei, Ehrwürdiger Ionas. Du bist der Älteste hier. Die Bruderschaft wird uns auffordern, einen neuen Abt und Bischof zu wählen, wie es der Brauch verlangt. Lass mich bei dieser Gelegenheit klarstellen, dass ich dich nominieren werde.«

Wohl fühlte sich der Ehrwürdige Ionas bei dieser Eröffnung nicht. »Ich danke dir für das Vertrauen, das du in mich setzt, Magister, doch die Wahl muss den Brüdern überlassen bleiben. Wie auch immer, zunächst gilt es, die Toten zu bestatten. Es ist fürwahr ein schrecklicher Tag für die Abtei.«

Sie gingen zurück über den Hof, auf dem die Fackeln brannten. Fidelma sah deutlich, dass es in dem Ehrwürdigen Ionas arbeitete. Ganz offensichtlich wollte er ihr eine Frage stellen. Als sich die Gruppe auflöste, blieb sie abwartend stehen. Auch er hielt inne und drehte sich zu ihr um.

»Du sagst, es hätte sechs Morde gegeben. Ich zähle nur drei, und die sind schon schlimm genug. Wer sind die anderen?«

»Ich zähle Wamba dazu.«

»Wegen der Münze? Wer noch?«

»Hawisa, seine Mutter. Das Feuer wurde mit Vorsatz gelegt.«

»Und der dritte? Ah, Bruder Ruadán. Bruder Ruadán ist aber an den Verletzungen gestorben, die ihm empörte Anhänger des Arius beigebracht hatten. Er starb über eine Woche später in seinem Bett – du hast ihn ja gesehen.«

Fidelma schüttelte langsam den Kopf. »Man hat ihn in seinem Bett erstickt, und zwar hat es derselbe getan, der die anderen Morde verübt hat.«

»Aber warum?«

Sie lächelte gequält. »Cui bono?«

»Ich verstehe nicht.«

»War das nicht die Frage, die Cicero einem römischen Richter stellte? Wem nützt es? Wenn wir herausfinden, wer von all den Morden profitiert, dann wissen wir auch, wer der Mörder ist.«

Gedankenversunken saß Fidelma in ihrer Kammer. Was für eine Närrin war sie doch gewesen! Oder war es vielleicht noch immer. Warum reiste sie nicht einfach zurück nach Genua und fand ein Schiff nach Massilia, bevor in dem Tal ein Krieg tobte, der unweigerlich bevorstand? Mit den Ambitionen des ins Exil getriebenen Königs Perctarit oder denen von Grimoald hatte sie nicht das Geringste zu tun. Was aus denen wurde, interessierte sie überhaupt nicht. Sie sehnte sich danach, wieder daheim zu sein, unter Menschen ihres Landes. Sie war nur hierhergekommen, um ihren alten Lehrer, Bruder Ruadán, zu sehen, und als sie jetzt an ihn dachte, wusste sie, warum sie blieb. Sie schuldete es ihm, seinen Mörder ausfindig zu machen.

Und Bruder Eolann? Wie hieß doch das Sprichwort? Superbum sequitur humilitas – Hochmut kommt vor dem Fall. Nur durch ihren Hochmut und Stolz war sie auf die falsche Fährte nach dem Aurum Tolosanumnum geraten – Narretei das Ganze! Sie gab einen Stoßseufzer von sich und fragte sich ein weiteres Mal, ob es nicht dumm war, länger hierzubleiben, ob es nicht Hochmut und Eitelkeit waren, die sie glauben machten, sie könne das Rätsel lösen. Hatte Paulus nicht die Philipper ermahnt, nie etwas aus Eigenliebe oder Eitelkeit zu tun, sondern stets Bescheidenheit an den Tag zu legen?

Bescheidenheit. Was hatte sie tatsächlich an Fakten an der Hand? Bruder Ruadán hatte dem kleinen Wamba zwei alte Münzen gegeben. Aus welchem Beweggrund? Der Junge hatte eine davon zur Abtei gebracht und war am nächsten Tag tot, angeblich von einer Felswand gestürzt. Kurz darauf wurde Bruder Ruadán zusammengeschlagen vor den Toren der Abtei gefunden. Bruder Ruadán, bereits auf dem Totenlager, war überzeugt, man habe Wamba wegen der Münzen umgebracht. Ihr alter Mentor drohte ohnehin seinen Verwundungen zu erliegen, doch es gab jemanden, der sichergehen wollte, dass er nicht noch vor seinem Tode mit ihr sprach. Hätte sie sich nicht zu einer Zeit, da alles noch schlief, heimlich in seine Kammer zu ihm gestohlen, hätte sie nie etwas von den Münzen oder Wamba, dem Jungen, erfahren. Ihr Wissen hatte sie dann Bruder Eolann anvertraut.

Von dem Moment an, da sie die Sache mit den Münzen und Wamba Bruder Eolann erzählt hatte, wurde sie in die Wahnvorstellung von einem alten Schatz hineingezogen. Aurum Tolosanum. War es wirklich eine Wahnvorstellung? Der Name Servilius hatte sie in eine falsche Richtung gelenkt. Und jetzt war Bruder Eolann tot. Sie hatte ihn für den Täter gehalten. Aber irgendetwas übersah sie, wenn sie nur wüsste, was. Sie kam nicht weiter, war jetzt einfach zu müde. Sie hatte einen langen Tag hinter sich, auch wollte das Leichenbegängnis noch durchgestanden werden.

Sie gab es auf, die Gedanken sortieren zu wollen, und machte sich für die mitternächtliche Zeremonie fertig. In der Kapelle fand sie die Brüder bereits versammelt vor, die dem Abt und dem scriptor ihre letzte Ehre erweisen wollten.

Bruder Faro schien sie erwartet zu haben und überfiel sie mit den Worten: »Ich habe Schwester Gisa nicht finden können. Hast du vielleicht eine Ahnung, wo sie sein könnte?«

»Nicht im Geringsten.« Seine Frage und auch die Dringlichkeit in seiner Stimme überraschten sie. »Mir hatte man gesagt, du wärest losgegangen, um sie zu suchen.«

»Ich glaubte eine ungefähre Vorstellung zu haben, wo die Höhlen liegen, in denen sich Aistulf, der Eremit, aufhält.«

»Und hast sie nicht entdeckt?«

»Weder sie noch den Eremiten. Auf dem Rückweg traf ich unterwegs Magister Ado. Und hier ein Toter nach dem anderen. Der Ehrwürdige Ionas meint, du würdest die Morde aufklären können. Dabei sprichst du doch nicht einmal die Sprache der Langobarden. Bei aller Hochachtung – und ich weiß, dass der Ehrwürdige Ionas und mein eigener Meister Magister Ado große Stücke auf dich halten –, ich würde dir raten, noch morgen deine Rückreise anzutreten und nach Genua aufzubrechen. Hier droht überall Gefahr.«

Fidelma sah den sich ereifernden jungen Mann nachdenklich an.

»Was hat es mit dieser Gefahr auf sich, Bruder Faro? Weshalb bist du so besorgt, ich könnte länger bleiben?«

»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.«

»Ich bin fremd hier, richtig. Aber im Grunde genommen bist du es nicht weniger. Du hast mir selbst erzählt, du wärest erst vor zwei Jahren auf der Suche nach einem friedlichen Zufluchtsort hier gelandet. Weshalb drängst du mich zur Abreise, bleibst aber selbst hier?«

Er schien peinlich berührt. »Ich glaube, du weißt, was mich hier hält.«

»Dann wirst du morgen deine Suche nach Schwester Gisa fortsetzen?«

Er nickte rasch. »Sowie es hell wird. Solltest du sie aber schon vorher zu Gesicht bekommen, bitte ich euch beide inständig, das Tal zu verlassen, denn ich fürchte, ein Sturm zieht herauf.«

»Sag mir ein paar Worte über Gisa. Kennt sie sich in dem Gebiet hier gut aus? Oder könnte sie in dem Tal leicht die Orientierung verlieren?«

»Sie ist hier groß geworden und für viele ein vertrautes Gesicht.«

»Hat sie dich mit ihren Familienangehörigen bekannt gemacht?«

»Über ihre Familie hat sie nie gesprochen. Manche sagen, sie sei mit Aistulf, dem Eremiten, verwandt. Ihr Vater, hat sie mal gesagt, wäre Arzt gewesen, und sie selbst kennt sich bestens mit Kräutern und Heilpflanzen aus. Das ist aber auch alles, was ich weiß.«

»Dein Rat war nicht umsonst, Bruder Faro, ich werde ihn überdenken. Wenn du dich morgen früh erneut auf die Suche begibst, schließt sich dir gewiss noch der eine oder andere an.«

Er sah sie grübelnd an. »Du bleibst?«

»Ich bleibe. Ich täte meinem alten Mentor Bruder Ruadán und auch den anderen Unrecht, wenn ich dem Tal einfach den Rücken kehren würde, ohne die Vorkommnisse aufzuklären.«

»Hoffentlich wirst du deine Entscheidung nicht bereuen. Wenn du mich fragst, ist der Sturm nicht mehr aufzuhalten.«

Gegen Mitternacht zog eine Fackeln tragende Prozession von den Toren der Abtei hinauf zur Totenstätte. Sie war nicht mit der von vor einigen Tagen zu vergleichen, die Bruder Ruadán zu Grabe getragen hatte. Den Brüdern waren die Furcht und die Anspannung, die sich ihrer bemächtigt hatten, anzusehen. Nur wenige waren dem Ruf des Ehrwürdigen Ionas gefolgt, und das waren vor allem die Sargträger. Der Einzige, der nicht zur Gemeinschaft der Brüder gehörte, war der junge Bursche Odo. Hawisa hatte man bereits, in Laken gehüllt, neben das geöffnete Grab von Wamba gelegt, das andere zuvor ausgehoben hatten. Angst und Schrecken schwebte über dem Trauerzug, gepaart mit Nervosität; bei dem geringsten harmlosen Geräusch fuhr ein jeder zusammen.

Unmittelbar hinter den Bahren mit dem Abt und dem scriptor schritten der Ehrwürdige Ionas und Magister Ado, gefolgt von dem Verwalter und dem Apotheker, hinter ihnen Fidelma und Bruder Faro. Zuerst senkte man Hawisas Leichnam mit einem kurzen Segensspruch in das Grab ihres Sohnes. Dann begrub man Bruder Eolann, und Fidelma wurde gebeten, vorzutreten und ein paar Worte über ihren Landsmann zu sagen. Sie hatte ihre Schwierigkeiten damit, wusste sie doch, dass er dabei mitgewirkt hatte, sie auf eine falsche Fährte zu locken. Sie brachte nur wenige Worte zustande.

»Bruder Eolann kam aus meines Vaters Königreich Muman«, begann sie. Sie benutzte die Formulierung, obwohl ihr Vater schon gestorben war, als sie noch Kind war. Es wäre zu umständlich gewesen, jetzt zu erklären, dass es in ihrem Land keine erbliche Folge auf dem Königsthron gab, die Könige aber dennoch aus dem Verwandtenkreis gewählt wurden. So war ihr Vetter Cathal der gegenwärtige König von Muman und ihr Bruder Colgú der Thronanwärter. »Man hatte ihn in die Abtei auf Inis Faithleann, der Insel des heiligen Faithleann, aufgenommen, der einer der großen Verkünder des Neuen Glaubens in unserem Land war.

Der Ort ähnelt durchaus dem hiesigen, wenngleich er auf einer Insel mitten in einem See liegt, umgeben von Bergen, die in üppiges Grün getaucht sind – Bäume und immergrüne Pflanzen wie Stechpalmen, Ebereschen und Arbutus. Es mag merkwürdig erscheinen, dass er, auf eine Mission nach St. Gallen geschickt, letztlich …« Sie stockte, denn ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf, der sie ablenkte und den sie nicht vergessen durfte, »… letztlich aber in Mailand landete, von wo es ihn hierher ins Trebbia-Tal und zu eurer Abtei zog, die Colm Bán vor vielen Jahren gegründet hatte. Es heißt, er war ein guter scriptor, aber er machte einen Fehler. Er hatte einen Eid geleistet, bei uns zu Hause spricht man von einem géis, und er hätte wissen müssen, dass man den nicht ungestraft brechen kann. Hält man sich nicht daran, schlägt das Schicksal unerbittlich zurück. Er hat es mit dem Leben büßen müssen …«

Stammelnd kam sie zum Ende, denn ihr fiel nichts Positives mehr ein, was sie hätte sagen können. Der Ehrwürdige Ionas trat vor und ergänzte ihre Rede. »Und dennoch gibt es einen, der alles weiß, der den Sünder sieht, und selbst, wenn wir armen Sterblichen ihn hier auf Erden nicht stellen können, so wird man ihn in seinem anderen Leben finden und zur Rechenschaft ziehen.«

Dann wurden die sterblichen Reste von Abt Servillius in die Erde gelassen, und der Ehrwürdige Ionas übernahm die Würdigung. In Fidelmas Heimat wäre das die écnaire gewesen, die Fürsprache für die Seele, die Bitte um Ruhe für sie. Die endete mit einem Segensspruch.

»Abt Servillius entstammte einer römischen Patrizierfamilie in Placentia. Seine Vorfahren dienten unserem Land in langer und ehrenvoller Tradition. Er stand dieser Abtei nicht nur als Abt vor, sondern auch als Bischof. Ich selbst war hier, als Servillius das erste Mal durch die Tore unserer Abtei schritt. Das war vor vierzig Jahren, als es noch Brüder gab, die unseren gesegneten Gründer Columbanus gekannt hatten. Ich habe ihnen viel zu verdanken, waren sie es doch, die mich inspirierten, eine Biografie über den großen Mann zu schreiben.

Auch Servillius war in vielerlei Hinsicht ein gesegneter Mann. Als er Abt wurde, machte er sich den Wunsch unseres Gründers zu eigen, unsere Abtei nicht nur als Stätte des Glaubens zu pflegen, sondern auch zu einem Zentrum des Lernens, der Forschung und des Fortschritts zu entwickeln. Er war bemüht, die Abtei nicht in die Hände der Anhänger des Arius fallen zu lassen. Dank meines Amtes konnte ich in Rom vorstellig werden und bewirken, dass man unsere treue Ergebenheit gegenüber dem Heiligen Vater anerkannte und uns die Mitra für unseren Abt als Bischof zugestand. Zuvor hatte ich die gleiche Ehrung für Abt Bobolen erwirken können. Gemeinsam wehrten wir die bösen Absichten der Anhänger des Arianischen Glaubens ab …«

Unversehens hielt er inne und schaute zu Magister Ado. Fidelma entging sein Blick nicht, sie fand ohnehin, dass der gute Mann in seinen Betrachtungen, die doch eigentlich eine Würdigung von Abt Servillius hätten sein sollen, ein wenig zu selbstgefällig geworden war.

»In dem Ringen um den wahren Glauben fanden wir Unterstützung durch Magister Ado, der später zu uns stieß und einer der angesehensten Gelehrten unserer Abtei wurde. Ich – wir werden nicht zulassen, dass unser Abt umsonst sein Leben hingab; wir werden weiterhin alles daransetzen, dass unsere Abtei zu einem Zentrum wird, das man in der gesamten Christenheit wegen seiner Frömmigkeit und Gelehrsamkeit rühmt.«

Als der Leichnam des Abts ins Grab gesenkt wurde, hörten es alle – das Echo widerhallte im ganzen Tal – durchdringende, helle Töne einer Muse, den wehklagenden Aufschrei einer gequälten Seele.

Bestürzung griff um sich. Etliche Brüder hasteten zurück zur Abtei. Trotz der unruhigen Schatten des Laternenlichts konnte Fidelma die blassen, gespenstischen Gesichter von Bruder Hnikar und Bruder Wulfila erkennen. Selbst Bruder Faro starrte erschrocken auf die dunklen Umrisse der Bergeshöhen. Der Einzige, der mit einem vagen Lächeln auf den Lippen dastand, war Odo.

Magister Ado machte den Brüdern, die nur zögernd am Grab ausharrten, sanfte Vorhaltungen. »Habt ihr noch nie zuvor die Muse gehört? Habt ihr noch nie, wenn wir eine Beerdigung hatten, die Sackpfeife spielen gehört?«

Fidelma wandte sich Bruder Faro zu, der mit leicht geneigtem Kopf neben ihr stand und dem traurigen Klang lauschte. Auf seinem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck.

»Allem Anschein nach hat sich Bruder Wulfila geirrt, wenn er glaubte, Abt Servillius und Schwester Gisa hätten sich auf den Weg zum alten Einsiedler gemacht, weil er krank war«, stellte sie in aller Ruhe fest. Dann aber galt ihre Aufmerksamkeit Odo, der sich in ihrer Nähe hielt. »Ich verstehe herzlich wenig von eurem Sackpfeifenspiel. Wer, glaubst du, spielt das Klagelied?«

Ohne auch nur überlegen zu müssen, erwiderte der junge Mann: »Es ist die Trauerweise des Einsiedlers. Niemand anders als Aistulf kann die Muse so spielen.«

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