KAPITEL 11

Man hatte den Kopf der Frau mit mehreren Hieben eines scharfen Gegenstandes, vermutlich eines Schwertes, so gut wie vom Körper getrennt.

Fidelma stülpte sich fast der Magen um beim Anblick der verstümmelten Gestalt, und sie brauchte einen Moment, um sich zu fassen. Bruder Eolann neben ihr stammelte mit zitternder Stimme ein Gebet.

Als Fidelma sich wieder in der Gewalt hatte, tastete sie mit den Augen aufmerksam die nähere Umgebung ab.

»Was suchst du«, fragte Bruder Eolann. »Glaubst du, die Mörder haben sich hier irgendwo verborgen?«

»Sie ist bereits einen Tag tot«, erwiderte Fidelma. »So lange würden die hier nicht bleiben. Aber sie hat den jungen Prinzen Romuald bei sich gehabt, als sie gestern in aller Frühe die Abtei verließ. Liegt der womöglich hier auch irgendwo?«

Immer noch leichenblass, nahm Bruder Eolann mit ihr die Suche auf. Sie durchkämmten das Unterholz, fanden aber keinerlei Anzeichen, die auf einen zweiten Mord hindeuteten. Folglich galt Fidelmas Aufmerksamkeit erneut der Toten. Zwar rümpfte sie angewidert die Nase, bückte sich aber und tastete sorgfältig die Kleidung nach persönlichen Dingen ab. Zu ihrer Überraschung entdeckte sie nichts. Augenscheinlich hatte Freifrau Gunora nicht einmal den kleinen Beutel mit Toilettenartikeln bei sich gehabt, wie ihn die meisten Frauen ihres Ranges um die Taille gegürtet trugen. Oder hatte man sie schon nach persönlicher Habe durchsucht und alles mitgenommen?

»Ob Perctarit und seine Leute dahinterstecken?«, grübelte Bruder Eolann und betrachtete nachdenklich die Leiche. »Vielleicht haben sie nur Freifrau Gunora umgebracht und den Prinzen mit fortgeschleppt.«

»Für Mutmaßungen ist es zu früh. Und hier länger zu verweilen, bringt uns auch nicht weiter. Ob sich hier in der Hütte eine Decke findet, die wir nehmen könnten?«

»Ich glaube schon«, entgegnete Bruder Eolann und war etwas ratlos, worauf sie hinauswollte.

»Da wir hier sonst nichts ausrichten können, sollten wir wenigstens eine Decke nehmen und darauf die Leiche zur Kapelle schaffen. Dort ist sie vor denen da oben und vor anderen wilden Tieren sicher.« Sie wies auf die Bussarde, die bereits über ihnen kreisten.

Glücklich war der scriptor über ihren Vorschlag nicht, machte aber keine Einwände. Sie brauchten eine Weile, um die Tote zur Kapelle zu schleppen. Behutsam legten sie sie drinnen ab und deckten sie zu.

Was war das für ein warmer, schöner Tag gewesen, als Fidelma erwachte und das herrliche Panorama der Berge vor Augen hatte. Und nun, wenige Stunden später, kam ihr der Tag kalt und unfreundlich vor.

»Es ist wohl an der Zeit, dass wir uns an den Abstieg machen«, meinte sie.

»Uns treibt nichts«, erwiderte Bruder Eolann. »Ich würde gern noch warten, bis das Feuer niedergebrannt ist, damit nichts passiert, wenn wir gehen.«

»Du hast die Zweige zu hoch geschichtet heute früh«, gab sie zur Antwort und ging in die Hütte, um sich etwas herzurichten. Als sie fertig war, packte sie ihren Mantelsack, warf ihn sich über den Rücken und trat wieder hinaus in die Sonne.

Vor ihr standen drei Krieger mit gezogenem Schwert, drohend glitzerten die Klingen im gleißenden Licht. Ein vierter Mann hatte sich vor Bruder Eolann postiert und berührte mit seiner Schwertspitze gebieterisch die Brust des Bibliothekars.

Alle schwiegen und verharrten reglos. Schließlich war es Fidelma, die die Stille unterbrach. »Wer sind die Männer?«

Bruder Eolann räusperte sich und sprach die Krieger in der für die Region geläufigen Sprache an. Einer von ihnen brach in schallendes Gelächter aus, ehe er ihm antwortete.

»Er sagt, wir würden schon bald merken, wer sie sind. Jedenfalls wären wir ihre Gefangenen und müssten mit ihnen gehen.«

»Mach ihnen doch klar, dass wir einfache Mitglieder der Gemeinschaft in der Abtei Bobium sind.«

Bruder Eolann verzog das Gesicht. »Ich fürchte, das weiß er längst, Lady.«

»Glaubst du etwa, das sind …«

Der Krieger, der eben noch die Antwort gegeben hatte, brüllte sie an. Sie verstand auch ohne Übersetzung, was er meinte, hatte das Bild der erschlagenen Gunora vor Augen und schwieg.

Der Anführer sagte nichts weiter, drehte sich um und zog los. Sofort umringten die anderen Fidelma und Bruder Eolann, drückten ihnen die Schwertspitzen zwischen die Schulterblätter und trieben sie auf diese Weise voran. Der Weg, den sie nahmen, führte genau die entgegengesetzte Seite des Berges hinab, weg von Bobium. Sie warf einen Blick zu Bruder Eolann, aber der schüttelte nur vorsichtig den Kopf, als wollte er sie warnen, noch einmal den Mund aufzumachen. Mit den Kriegern, egal wer sie waren, war nicht zu spaßen.

Die Landschaft auf der nordöstlichen Seite des Berges machte einen ebenso spektakulären Eindruck wie die im Trebbia-Tal. Eher einen noch spektakuläreren. Unten schlängelten sich Flüsse wie blaue Bänder, allenthalben umringt von Bergeshöhen. In der Ferne erhoben sich kahle graue Felsmassive, ausgewaschen durch Wasser und Erosion. Trotz der inneren Unruhe, dass sie Gefangene von Kriegern waren, die sich herzlich wenig um ihr Leben scherten, nahm Fidelma die Umgebung wachen Sinnes wahr, immer in der Hoffnung, es könnte sich eine Fluchtmöglichkeit ergeben. Diesseits der Berge war die Wetterseite, schutzlos war das Gestein der Erosion ausgesetzt. Häufig wechselten harter Fels und bröcklige Oberfläche mit weichem Lehm und Kalkstein.

Schweigend marschierten sie voran, stiegen schließlich bis unter die Baumgrenze ab und wanderten weiter durch dichten Wald, in dem viele Tiere heimisch waren. Unzählige Vogelstimmen wetteiferten miteinander, Füchse bellten, und auch gelegentliches Wolfsgeheul drang an Fidelmas Ohren. Es schien ihr eine Ewigkeit, wie sie so dahintrotteten. Langsam wurde das Gefälle sanfter, und ab und an begegneten sie Buben oder auch alten Männern mit Ziegen-und Schafherden. Immer noch verlor keiner ein Wort. Das konnte Fidelma auf die Dauer nicht ertragen. »Frag ihn, wie lange er uns so in Trab zu halten gedenkt«, wandte sie sich an Bruder Eolann.

Sofort spürte sie den drohenden Druck einer Schwertspitze zwischen den Schulterblättern. Bruder Eolann wagte nicht, ihrer Forderung nachzukommen.

Fidelma ignorierte ihren Wachmann, rief den Anführer in ihrem Schullatein an und wiederholte ihre Frage.

Der Krieger blieb stehen und drehte sich unwirsch um. In barschem Ton fragte er Bruder Eolann etwas, der ihm zögernd antwortete. Der Mann gluckste vor sich hin, freundlich klang es nicht. Wieder sagte er etwas zu Bruder Eolann, und der übersetzte: »Er sagt, du wärest ein impertinentes Weibsbild, Lady. Über kurz oder lang würdest du schon merken, was Sache ist.« Und dann fügte er besorgt hinzu: »Verschweige am besten Herkunft und Rang, Lady. Die Leute hier halten solche mit Rang und Namen gern gegen Lösegeld fest.«

Der Anführer donnerte einen Befehl. Sie deutete ihn als erneute Warnung, den Mund zu halten.

Und weiter ging’s. Es dauerte nicht lange, und sie kamen an eine Lichtung, wo ein halbes Dutzend Pferde angebunden stand, bei ihnen zwei Krieger. Erregt rief man sich etwas zu, Wortfetzen flogen hin und her, und neugierig nahmen die beiden Krieger die Gefangenen unter die Lupe.

Fidelma und Bruder Eolann wurden zu den Pferden geschubst. Zwei Krieger steckten die Schwerter in die Scheide und schwangen sich flugs in den Sattel. Ehe sie es sich versah, wurde Fidelma von starken Händen gepackt und ohne Umschweife auf das Pferd hinter einen der Krieger gehievt. Es war nicht nötig, die grob hingeworfenen Wörter im Einzelnen zu verstehen, sie wusste auch so, dass es darum ging, sich festzuhalten. Gleich darauf ritt er los; sie konnte sich nur noch mit einem raschen Seitenblick vergewissern, dass man mit Bruder Eolann in der gleichen Weise verfuhr.

Es wurde ein endloser Ritt. Fidelma verlor jede Vorstellung von Zeit und Ort. So viel bekam sie immerhin mit, dass es später Nachmittag war, auch dass der Trupp auf einem verhältnismäßig ausgetretenen Weg an einem Hang entlangtrabte. Unter ihnen lag ein Tal, das von einem breiten Fluss durchquert wurde. Es ging weiter bergab, bis sie unterhalb eines steilen Felsmassivs eine kleine Siedlung erreichten. Auf dessen oberster Spitze mit guter Sicht auf die Siedlung erhob sich eine aus Bruchsteinen gemauerte Festung mit einem mächtigen viereckigen Turm. Dort hinaufzugelangen, hielt Fidelma zunächst für unmöglich, aber schon bald arbeiteten sie sich auf einem Zickzackpfad nach oben. Was immer für ein Gebäude es auch sein mochte, es war eindeutig, dass die Krieger mit ihren Gefangenen just dorthin wollten.

Oben angelangt, standen sie vor hohen Mauern, in die zwei große dunkle Torflügel aus Eichenholz eingelassen waren, die genug Raum boten, um Männern zu Pferde Zugang zu gewähren. Von den Mauern spähten Krieger herab. Einer aus Fidelmas Trupp zog ein Jagdhorn hervor und ließ zwei kurze Töne, gefolgt von einem langen, erschallen. Sofort öffneten sich die Tore, man ritt hinein und blieb auf einem kleinen Hof stehen.

Hände griffen zu und zerrten Fidelma vom Pferd. Um sich herum nur raue Männergesichter, einige grinsend, andere, die sie anschrien, ohne dass sie ein Wort verstand. Dann befahl jemand etwas, und gleich darauf zerrte man ihr brutal den Mantelsack vom Rücken, das marsupium am Gürtel aber ließ man ihr. Einer der Krieger, die sie gefangen genommen hatten, kam heran, griff sie am Arm und schob sie durch die gaffende Menge zu den Gebäuden, die sich an die Mauern lehnten. Fidelma gelang es, einen Blick nach oben zu einem Balkon zu werfen, der in den Innenhof ragte. Zwei Männer standen dort und verfolgten das Geschehen. Zwei große Männer in langen schwarzen Umhängen. Allem Anschein nach Krieger. Einer der beiden hatte die linke Seite des Umhangs hochgeschlagen, so dass ein Abzeichen auf seiner Schulter sichtbar wurde. Trotz der Entfernung war sich Fidelma sicher, das flammende Schwert mit dem Lorbeerkranz zu erkennen. Sie stolperte und kam fast zu Fall, als ihr mit Schrecken aufging, dass sie den Männern, die Magister Ado in Genua überfallen hatten, verdammt ähnlich sahen, denselben, die ihnen auch aufgelauert hatten, als sie ins Tal der Trebbia einritten. Und eben die hatte sie auch geglaubt, auf Radoalds Festung im Mondlicht gesehen zu haben.

Sie schaute sich kurz um und konnte sich vergewissern, dass Bruder Eolann unmittelbar hinter ihr war. Also schien man sie wenigstens nicht zu trennen. Und so war es auch, eine Tür ging auf, und sie wurde ohne Umschweife in einen Raum gestoßen. Bruder Eolann prallte gegen ihren Rücken, so dass er fast auf sie fiel. Die Tür wurde zugeschlagen, und sie hörten nur noch, wie man von außen knirschend einen Holzriegel vorschob, um sie in sicherem Gewahrsam zu wissen.

Ein einziges Fenster ziemlich weit oben, ein beträchtliches Stück über Kopfhöhe, gab dem Raum etwas Licht. Vergittert war es nicht. Das Mobiliar bestand aus zwei einfachen Bettgestellen, einem Stuhl und einem Tisch. Bruder Eolann sank erschöpft auf eins der Betten, Fidelma aber griff sich den Stuhl, ging zum Fenster, stellte ihn darunter ab und kletterte hinauf, um hinaussehen zu können. Zuweilen erwies es sich als hilfreich, dass sie verhältnismäßig groß war. Dass das Fenster nicht vergittert war, hatte einen einfachen Grund. Es hätte wenig gebracht, es als Fluchtweg nutzen zu wollen – unten gähnte ein tiefer Abgrund. Sie kletterte wieder hinunter und setzte sich verzagt hin. Nicht einmal eine Öllampe hatte das Verließ.

»Hast du irgendeine Idee, bei wem wir hier gelandet sind?«, fragte sie schließlich.

Bruder Eolann zuckte mit den Schultern. »Dass sie vor frommen Brüdern und Schwestern nicht Halt machen, ist klar. Über die Täler diesseits der Berge weiß ich wenig, ich vermute aber, wir befinden uns auf dem Territorium des Seigneur von Vars.«

»Hält er diesem König Grimoald die Treue?« Sie musste an die beiden Männer mit dem Symbol des Erzengels Michael auf den Umhängen denken. Die Geschichte Bruder Eolann erklären zu wollen, hatte keinen Zweck.

»Ganz bestimmt nicht. Soviel ich weiß, stehen sich Trebbia und Vars feindselig gegenüber.«

»Hast du nicht gesagt, du würdest auf den Bergen hier ziemlich regelmäßig herumklettern und würdest dich deshalb so gut auf den Pfaden des – wie hieß er doch gleich – des Monte Pénas auskennen? Wieso bist du da völlig hilflos bei der Frage, wo wir uns jetzt befinden?«

»Ich habe die Berge sehr wohl erklommen, aber ich habe mich immer auf der Seite gehalten, die auf das Tal der Trebbia blickt. Man hat mich stets ermahnt, vorsichtig zu sein, immer hieß es, dass im Norden und Osten die Länder liegen, die ursprünglich Perctarit den Treueeid geleistet hatten. Selbst wenn sie Grimoald nicht hassen sollten, sind schließlich auch sie Anhänger des Arius und haben folglich nichts mit den Brüdern von Bobium im Sinn.«

»Und zu welcher Seite neigen sie?«

»Zu der einen oder anderen oder auch beiden, einen Unterschied macht das nicht.«

»Und du hast keinerlei Ahnung, wo wir hier sind?«

»Ich würde denken, der Fluss ist die Staffel, jedenfalls heißt er so im Langobardischen, auf Latein ist es die Iria. Wir müssten oberhalb der alten Salzstraße nach Genua sein.«

»Solange wir nicht wissen, mit wem wir es hier zu tun haben und was man von uns will, können wir nichts weiter unternehmen. Raus kommt man hier wohl nur durch die Tür.«

Bruder Eolann stöhnte. »Hoffentlich bringen sie uns bald was zu essen und trinken. Wir sind fast den ganzen Tag unterwegs gewesen und seit heute früh ohne jeden Bissen geblieben.«

Fidelma fiel ein, dass die Verpflegung, die sie mitgenommen hatten, in ihren Umhängetaschen steckte. »Haben sie dir auch den Mantelsack weggerissen?«, fragte sie.

»Ja. Da war noch Zwieback, Käse und Obst drin. Nun sitzen wir ohne alles da.«

Sie lächelte matt. Wenigstens das marsupium hatte sie noch, wenn da auch nichts zu essen drin war. Dafür aber der ciorr bholg, die Kammtasche, ein kleines Täschchen, das alle Frauen von Rang in Hibernia stets bei sich trugen. Im Allgemeinen befanden sich darin ein scathán, ein kleiner Spiegel, eine deimess, eine Schere, ein Stück Seife, und Fidelma hatte auch ein Fläschchen mit Geißblattduft darin verstaut. Die meisten Frauen in Hibernia hatten sogar ein Fläschchen mit Beerensaft bei sich, um die Lippen rot anzumalen oder die Augenbrauen nachzudunkeln, wie es dort der Brauch war. Fidelma verzichtete auf dergleichen.

Jetzt ging es ihr aber nicht um ihre Toilettenartikel, sondern um die Goldmünze, die sie klugerweise eben da verborgen hatte. Im gleichen Moment kam ihr ein schrecklicher Gedanke. »Könnten es die Krieger, die uns hierher verschleppt haben, gewesen sein, die Freifrau Gunora ermordet haben?« Bruder Eolann horchte alarmiert auf. »Was für einen Grund sollten sie sonst gehabt haben, ausgerechnet dort herumzulungern?«

Ihr Gefährte war deutlich beunruhigt. »So etwas wie heute habe ich noch nie erlebt. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wer diese Männer sind und was sie im Schilde führen. Die Festung, auf der wir uns befinden, muss einem Kriegsherrn gehören. Aber wie gesagt, die Gegend hier ist mir fremd. Wie sollen wir uns jetzt verhalten?«

»Wir können nur warten, bis unsere Widersacher den nächsten Zug machen.«

»Wir können doch nicht einfach herumsitzen und hoffen, dass sie uns etwas zu essen bringen«, sagte Bruder Eolann verzweifelt.

Fidelma sah ihn mitleidig an. »Hat man dich nie dercad gelehrt?«

Dercad war eine alte Form der Meditation, die etliche Kirchenführer ablehnten, weil sie zu Zeiten praktiziert wurde, ehe der christliche Glaube die Ufer der fünf Königreiche in Éireann erreichte. Es war eine Methode, den Geist zur Ruhe zu bringen, ruhig wie das Wasser in einem dunklen Gebirgssee, sich von dem Durcheinander von Gefühlen und Furcht, der schlimmsten aller Gefühle, zu befreien.

»Natürlich hat man es mich gelehrt. Aber was soll uns das jetzt bringen?«

»Das einzig Sinnvolle, das wir jetzt tun können, ist, unseren Geist von nutzlosen Spekulationen und Angst zu befreien.«

Fidelma setzte sich im Schneidersitz auf das andere Bett, die Hände faltete sie im Schoß. Dann schloss sie die Augen und begann langsam und tief ein-und auszuatmen.

Bruder Eolann schmollte eine Weile, zuckte dann die Achseln und tat es ihr gleich.

Wie viel Zeit darüber hinging, ist schwer zu sagen. Aber es war dunkel geworden. Von ferne vernahmen sie Geräusche, Gelächter, Rufe und Stimmen. Dann hörten sie plötzlich, wie draußen der Riegel zurückgeschoben wurde. Jemand stieß die Tür auf. Im Nu öffnete Fidelma die Augen und veränderte ihre Position. Auch Bruder Eolann regte sich und blickte schläfrig umher – über dem Meditieren war er tatsächlich eingeschlafen.

Ein Mann kam herein, setzte stumm eine brennende Öllampe auf dem Tisch ab und verschwand wieder. Gleich darauf erschien ein zweiter Mann mit einem Krug und irdenen Bechern, auch die wurden schweigend auf den Tisch gestellt. Dann tauchte der Erste wieder auf, diesmal mit Holztellern, auf denen Brot, kaltes Fleisch, Käse und Obst lagen. Er wollte sogleich wieder verschwinden, aber Fidelma hielt ihn zurück.

»Warte! Wer bist du? Was habt ihr mit uns vor?«

Sie hatte ihre Fragen auf Latein gestellt und wollte Bruder Eolann gerade bitten, ihre Worte zu übersetzen, als ihr eine tiefe Stimme antwortete.

»Schön ruhig, kleine Schwester. Zu gegebener Zeit wirst du alles erfahren.«

In der Tür stand ein Riese von Mann, seine stämmige Figur füllte fast den ganzen Türrahmen aus. Man hätte ihn als fettleibig bezeichnen können, aber beim näheren Hinsehen wurde man eines Besseren belehrt – er war ein einziges Muskelpaket. Er hatte dichtes schwarzes, krauses Haar und dunkle Augen, die im Widerschein des Lampenlichts unstet zuckten.

»Wer bist du?«, wiederholte Fidelma ihre Frage.

»Ich bin Kakko, kleine Schwester.«

»Und ist das hier deine Festung?«

Der Riese warf den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus, als hätte sie etwas ausgesprochen Komisches gesagt. Bruder Eolann starrte derweil verlangend auf den Tisch mit Essen und Trinken und vermochte sich nur mit Mühe zurückhalten. Fidelma konnte auf ihn keine Rücksicht nehmen, sie musste die Gelegenheit nutzen, etwas über ihre prekäre Lage in Erfahrung zu bringen.

»Was habe ich Lächerliches gesagt?«, fragte sie kühl.

»Ich bin nur der Verwalter hier, kleine Schwester.«

»Wem also gehört die Festung?«

»Festung und Territorium entlang des Tals gehören meinem Herrn.«

Fidelma unterdrückte ein ungeduldiges Stöhnen. »Und wer ist dein Herr?«

»Seigneur Grasulf, Sohn von Seigneur Gisulf.«

Sie schaute fragend zu Bruder Eolann, der aber schüttelte nur den Kopf und gab ihr so zu verstehen, dass ihm der Name nichts sagte.

»Und wer genau ist Grasulf?«

Kakkos dunkle Augen weiteten sich erschrocken. »Du weißt nicht, wer der Seigneur von Vars ist?«

»Wir sind fremd hier.«

»Fremd?«

»Wir sind aus Hibernia. Ich bin erst seit ein paar Tagen in diesem Land, und deine Krieger haben mich und meinen Gefährten entführt.«

Der Dicke blickte nachdenklich von Fidelma zu Bruder Eolann und wieder zu ihr. »Wer seid ihr?«

»Ich bin Fidelma und er ist Bruder Eolann, der scriptor in Bobium.«

Jetzt blieb sein Blick an Bruder Eolann haften. »Schau mal einer an, aus Hibernia? Von der Sorte gibt es viele hier. Vielleicht zu viele. Genau die haben ja ursprünglich Bobium begründet.«

»Ich betone noch einmal: Ich bin erst seit wenigen Tagen in eurem Land und gedenke nicht lange zu bleiben. Ich weiß nicht, weshalb man mich gefangen genommen hat, verlange aber meine Freilassung.«

Wieder machte der Verwalter große Augen und betrachtete sie mit breitem Grinsen. Er schien leicht zu Späßen aufgelegt.

»Du verlangst? Lustig, ich werde es Seigneur Grasulf bei seiner Rückkehr ausrichten.«

»Bei seiner Rückkehr? Rückkehr von wo?«

»Mein Herr ist auf Wildschweinjagd. Wir erwarten ihn nicht vor morgen zurück.«

»Auf wessen Geheiß habt ihr uns dann entführt?«

»Jeder Fremde, der unser Territorium betritt, wird festgehalten und verhört«, erklärte ihr Kakko.

Endlich fühlte sich Bruder Eolann bemüßigt, einzuhaken. »Seit wann gehört das Tal von Trebbia zum Territorium deines Herrn? Seigneur Radoald von Trebbia ist der Herrscher hier.«

»Ihr habt euch auf dem Monte Pénas bewegt«, betonte der Verwalter.

»Aber auf der anderen Seite des Bergs, zur Trebbia hin. Wir haben das Heiligtum des Colm Bán besucht, als eure Krieger uns gefangen nahmen«, versuchte er richtigzustellen.

Den Verwalter rührte sein Protest wenig. »Du kannst deine Beschwerde Seigneur Grasulf persönlich vortragen, wenn er wieder da ist.«

»Was befürchtet eigentlich dieser Seigneur Grasulf?«, fragte Fidelma.

Kakko runzelte die Stirn. »Wer sagt, mein Herr würde etwas befürchten?«, zischte er.

»Irgendetwas muss er doch befürchten, sonst würde er ja nicht anordnen, Fremde gefangen zu nehmen und zum Verhör herzubringen, selbst wenn sie sich nicht auf seinem Herrschaftsgebiet aufhalten.«

»Du bist eine hartnäckige Person, kleine Schwester«, stellte Kakko fest und blieb gutgelaunt. Er zeigte auf das Essen auf dem Tisch. »Ihr habt noch nichts gegessen. Ihr seid Gäste meines Herrn, und er wäre sehr ungehalten, wenn wir euch nicht anständig behandeln.«

»Dann wird dein Herr enttäuscht sein, denn anständig behandelt worden sind wir mitnichten. Angefangen hat es mit der Gefangennahme und dem Verschlepptwerden, dann hat man uns die Mantelsäcke weggenommen. Ich bestehe darauf, dass man sie uns wieder aushändigt, wenn wir hier die Nacht verbringen müssen.«

Kakko machte eine Handbewegung, die man fast als Resignation hätte deuten können.

»Ich werde dafür sorgen, dass ihr sie wiederbekommt. Wir mussten uns vergewissern, dass ihr weder Waffen noch Geheimbotschaften bei euch trugt.« Fidelmas empörtes Gesicht brachte ihn zum Schweigen.

»Sowie dein Herr zurückkehrt, wünsche ich ihn zu sprechen – ist das klar?«

Kopfschüttelnd machte Kakko Anstalten zu gehen. »Du bist mehr als nur eine Nonne, Schwester«, sagte er ruhig. »Dein Auftreten verrät dich.« Dann war er fort und schloss von außen die Tür. Wieder wurde der Holzriegel an seinen Platz gerückt.

»Ich glaube nicht, dass du dich sehr klug verhalten hast, Lady«, murmelte Bruder Eolann mit vollem Mund. »Ich hatte dich gewarnt, du solltest Rang und Würden verschweigen.«

»Hab ich auch getan«, verteidigte sie sich.

»Es ist, wie es der Mann gesagt hat. Dein Auftreten hat dich verraten. Eine einfache Glaubensschwester würde sich nie so durchzusetzen versuchen.«

»Hattest du nicht behauptet, du hättest nie etwas von diesem Grasulf gehört?«

»Das stimmt auch, aber von dem Seigneur von Vars wusste ich. Ich habe ja gesagt, dass ich den Verdacht hegte, wir befänden uns auf seinem Territorium.«

»Hast du irgendeine Ahnung, was für ein Mensch er ist?«

»Ich weiß nur so viel, dass er und der Seigneur von Trebbia verfeindet sind.«

»Glaubst du, dass die Geschichte mit dem Ausspähen und Verhören von Verdachtspersonen wahr ist?«

»Ich kann nur wiederholen, dass es in dem Land große Spannungen gibt. Nicht umsonst hat Freifrau Gunora mit dem jungen Prinzen Zuflucht in der Abtei gesucht, sie glaubte nicht, dass man Grimoalds Regenten, Lupus von Friuli, trauen konnte. All das passt ins Bild. Angst geht um im Land.«

»Den Eindruck habe ich auch. Was aber, wenn es diese Leute hier sind, die Freifrau Gunora umgebracht haben? Und wenn ja, was haben sie mit dem Jungen gemacht?«

»Wir können nur beten, dass wir morgen mehr erfahren«, erwiderte Bruder Eolann.

»Morgen?«

»Wenn du auf Grasulf triffst. Das heißt, falls der Seigneur von Vars deinem Wunsch entspricht, ihm unverzüglich nach seiner Rückkehr von der Wildschweinjagd vorgeführt zu werden.« Er lächelte müde.

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