KAPITEL 4

Die Sonne war bereits aufgegangen, als sich Fidelma mit ihren Reisegefährten in der Halle der Festung zur ersten Mahlzeit des Tages traf. Sie war nach der Aufregung der Nacht in einen unruhigen Schlaf gesunken und fühlte sich beim Erwachen müde und gereizt. Suidur konnte sie nirgends erblicken. Radoald hatte den Ehrenplatz am Tisch eingenommen und unterhielt sich zwanglos mit Magister Ado. Schwester Gisa saß neben Bruder Faro. Er trug den Arm noch in einer Schlinge, doch sein allgemeines Befinden schien nicht gelitten zu haben. Fidelma überlegte, ob sie Magister Ado von ihrem nächtlichen Erlebnis etwas sagen sollte, schließlich war er das Ziel der Anschläge gewesen. Aber vielleicht wartete sie besser auf eine günstigere Gelegenheit. Falls Suidur und Schwester Gisa an einem Komplott gegen ihn beteiligt waren, musste er auf jeden Fall ins Bild gesetzt werden. Doch schon kamen ihr Zweifel. Worin bestand eigentlich das Komplott gegen ihn? Wer nahm daran teil und warum? Sie musste mehr über die sonderbaren Vorgänge wissen, bevor sie sich einmischte … Möglicherweise konnte sie von Bruder Ruadán Erhellendes erfahren.

»Auf dem Rest unserer Reise werden wir Gesellschaft haben«, flüsterte ihr Schwester Gisa gegen Ende der Mahlzeit zu.

»Nanu?«

»Zwei Bauern sind mit ihren Waren auf dem Weg zur Abtei und wollen sie dort verkaufen.«

»Die Bergbauern aus der Umgebung schaffen oft ihre Sachen zur Abtei«, ergänzte Radoald, der ihr Gespräch zufällig mitgehört hatte. »Ihr seid zu einem günstigen Zeitpunkt hier. Die Händler sind aufbruchbereit. Aber nach dem, was euch gestern widerfahren ist, schicke ich zwei meiner eigenen Leute als Begleitschutz mit.«

Fidelma war plötzlich hellwach. Wäre ja für die Mörder mehr als bequem, wenn sie gleich mitreisten. Ständig hatte sie den Personenkreis, den sie in der vergangenen Nacht beobachtet hatte, vor Augen. Wiederum, wenn sie in das junge, freudige Gesicht von Schwester Gisa blickte, mochte sie sich nicht vorstellen, dass dieses Mädchen in ein Mordkomplott verstrickt sein könnte.

»Fühlst du dich kräftig genug, wieder auf Reisen zu gehen, Bruder Faro?«, fragte sie. Ihr war der Gedanke gekommen, seinen Zustand als Entschuldigung für eine Verzögerung zu nutzen, um derweil mehr über die Vorgänge in Erfahrung zu bringen. Doch der junge Mann nickte eifrig.

»Die Wunde heilt gut. Ich spüre sie kaum noch. Je früher wir nach Bobium gelangen, um so besser.«

»Ich habe bereits Anweisung gegeben, eure Pferde zu satteln«, sagte Radoald, »leider warten auf mich andere Aufgaben, sonst würde ich euch gern begleiten.«

Magister Ado war es zufrieden. »Von nun an sind wir auf sicherem Boden, Fidelma. Bobium ist nicht mehr weit. Wir dürften es schon vor der Mittagszeit erreichen.«

Fidelma folgte den anderen auf den Innenhof und musterte die kleine Gruppe, mit der sie für den Rest der Reise reiten würde. Neu hinzugekommen waren zwei Männer mit ihren Packeseln und die beiden Krieger. Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass keiner von ihnen den Angreifern vom Vortag glich. Die Bauern mit den Packeseln waren gedrungene, rundliche Männer, die genau so aussahen, wie sie sich Leute vom Land vorstellte. Die Krieger waren von mittlerer Größe. Radoald hatte auch für Schwester Gisa ein Pferd aufzäumen lassen, die dennoch darauf bestand, ihr Muli am Zügel mitzuführen. Suidur blieb verschwunden, und so verabschiedeten sie sich allein von dem jungen Seigneur von Trebbia.

Die kleine Karawane machte sich ohne viel Aufhebens auf den Weg. Ein Krieger ritt vornweg, ihm folgten Magister Ado und Fidelma, dann kamen Bruder Faro und Schwester Gisa mit ihrem Muli und hinter ihnen die beiden Händler mit ihren Lasttieren. Der zweite Krieger bildete den Schluss.

Schweigend ritt Fidelma dahin, spähte jedoch wachsam in die Landschaft.

»Dir liegt etwas auf der Seele, Schwester«, sprach Magister Ado sie schließlich an, nachdem sie längere Zeit stumm nebeneinander geritten waren.

»Da wir einmal überfallen wurden, sollten wir auf der Hut sein«, sagte sie fast entschuldigend.

Magister Ado verzog das Gesicht. »Glaubst du im Ernst, diese Banditen wagen es noch einmal, uns aufzulauern?«

»Für so unmöglich halte ich das nicht.« Über das, was sie in der Nacht beobachtet hatte, verlor sie allerdings kein Wort.

Der Gelehrte schüttelte den Kopf. »Wir befinden uns im Herrschaftsbereich von Seigneur Radoald und damit außerhalb jeder Gefahr, auch ist Bobium nicht mehr weit.«

»Deine Zuversicht in Ehren, Magister Ado«, erwiderte sie. »Aber du kennst ja auch die gute alte Redensart semper paratus!«

Magister Ado musste lachen. »Immer bereit sein? Ein vernünftiger Grundsatz, gewiss. Doch um Mittag oder bald danach wirst du die hohen Mauern der Abtei Bobium erblicken, und deine Befürchtungen werden sich als unbegründet erwiesen haben.«

Mit einem leichten Kopfneigen bekundete sie ihr Einverständnis. »Es fällt mir schwer hinzunehmen, dass es Leute gibt, die bereit sind, andere zu verstümmeln oder zu töten, bloß weil sie einer Form des christlichen Glaubens anhängen, die von der ihrigen abweicht.«

So herausfordernd, wie es klang, hatte es Fidelma nicht sagen wollen, aber Magister Ado lachte nur gutmütig. »Du glaubst bestimmt, da steckt mehr dahinter. Ein dunkles Geheimnis, das ich dir verschweige? Warte nur, bis du dich mit Bruder Ruadán unterhalten hast, dann wirst du begreifen, dass die Zwistigkeit über den Glauben außerordentlich tief in unserem Volk sitzt. Viel Blut ist darüber vergossen worden. Soviel ich von unserem jungen Freund hinter uns erfahren habe« – er blickte sich kurz nach Schwester Gisa und Bruder Faro um –, »hat Bruder Ruadán weit mehr als ich erleiden müssen … erleiden müssen, weil er dem Nicänischen Glaubensbekenntnis anhängt.«

Sie wollte den alten Geistlichen nicht mit weiteren Fragen bedrängen. Immer wieder glitten ihre wachsamen Blicke über die dicht stehenden Bäume, die sich den Berg hinauf zogen. Links bildete die starke Strömung der Trebbia eine Barriere, über die man sie nur schwerlich angreifen konnte. Ab und an schaute sie auch auf die Bauern, die hinter ihnen hertrotteten.

Plötzlich nahm sie eine Bewegung auf dem Berg zu ihrer Rechten wahr. Auf einem vorspringenden Felsen stand ein Mann, war aber von den Bäumen der Umgebung fast verdeckt.

»Jemand beobachtet uns«, flüsterte sie eindringlich, aber darauf bedacht, es Magister Ado möglichst unauffällig mitzuteilen »Rechts neben den hohen Bäumen auf dem Felsvorsprung. Eine Waffe scheint er nicht zu haben.«

Aufgeschreckt schaute Magister Ado nach oben, gab sich jedoch sogleich wieder ganz gelassen, hob sogar die Hand und winkte der Gestalt hoch über ihm zu.

»Das ist der alte Aistulf«, erklärte er ihr. »Aistulf, der Einsiedler.«

Die Gestalt über ihnen kehrte ihnen plötzlich den Rücken und verschwand eilig zwischen den Bäumen. Sie sah eben noch, dass sie gekrümmt ging und langes weißes Haar hatte.

»Sehr freundlich ist er nicht gerade », meinte sie trocken.

Magister Ado lachte vor sich hin. »Das ist nun mal das Naturell eines Einsiedlers. Der alte Aistulf lebt allein in einer Höhle irgendwo am Berg dort oben. Es ist erst ein paar Jahre her, dass er bei uns im Tal aufgetaucht ist. Das war am Ende der Kämpfe, die Grimoald zum König machten. Ich habe ihn noch nie aus der Nähe gesehen, wahrscheinlich auch sonst niemand, außer Abt Servillius, mit dem er gut Freund ist, und ich glaube, Schwester Gisa, die steigt mitunter da hinauf und besucht ihn. Aistulf wandert in den Bergen umher. Eigentlich weiß ich nur, dass er niemandem etwas Böses will.«

»Er ist bestimmt schon betagt, da reicht es nicht, dass jemand nur ab und an nach dem Rechten sieht. In Hibernia haben wir strenge Gesetze über die Fürsorge für die Alten.«

»Schwester Gisa besucht ihn ziemlich oft. Es heißt auch, Aistulf gehöre zu ihrer Familie. Sie selbst ist ja hier im Tal zur Welt gekommen«.

Fidelma drehte sich nach Schwester Gisa um, doch die unterhielt sich angeregt mit Bruder Faro und hatte den Alten oben auf dem Berg wohl gar nicht gesehen.

»Erzähl mir von Tolosa. Was ist das für ein Ort, wie sieht es dort aus?«, fragte sie. Vielleicht war das ein Thema, über das man sich unterhalten konnte, jedenfalls besser, als gar nicht miteinander zu reden.

Es war nicht das erste Mal, dass sie ihr Begleiter misstrauisch ansah.

»Wie kommst du ausgerechnet darauf?«

»Bei uns sagt man, nur wer Fragen stellt, erwirbt Wissen. Ich bin noch nie in Tolosa gewesen und hätte gern etwas darüber erfahren.«

Magister Ado überlegte einen Moment und berichtete dann: »Die Stadt liegt in Ruinen, wie Radoald angemerkt hat, ist aber nicht so verödet, wie er glaubt. Die große Basilika und die Abtei mit der Bibliothek stehen noch. Hätte es nicht den Wunsch gegeben, unsere Bibliothek um ein Kleinod zu bereichern, hätte mich niemand überreden können, die Reise dorthin zu unternehmen.«

»Das verstehe ich nicht ganz.«

»Unser scriptor Bruder Eolann hatte erfahren, dass die Abtei Tolosa eine Abschrift vom Leben des heiligen Märtyrers Saturnin besitzt, der die Abtei gegründet hat. Er überredete mich, mit einer Abschrift vom Leben des Columbanus dort hinzuziehen und sie gegen die Handschrift zu tauschen. Bobium hat eine der größten Bibliotheken in der Christenheit und ist natürlich stolz darauf; unser Reichtum besteht in unseren Büchern.«

»Wussten deine Gegner unter Umständen, dass du nach Tolosa unterwegs warst, um diesen Tausch der Handschriften zu vollziehen? Wäre eine solche Handschrift für sie ebenso wertvoll, wie sie es für deine Abtei ist?«

»Ich muss schon sagen, du bist eine rastlose junge Dame. Du lässt nicht locker mit deinen Fragen.«

»Fragen sind ein Weg zum Wissen.«

»Mitunter kann Wissen auch gefährlich sein. Besonders wenn man von Leuten umgeben ist, die Böses im Schilde führen.«

»Vom Bösen zu wissen, ist besser, als dem Bösen ausgesetzt zu sein, ohne etwas zu wissen.«

Magister Ado wollte schon ärgerlich werden, lachte dann aber unversehens schallend los.

»Kaum bin ich eine Weile weg aus Bobium, habe ich vergessen, wie meine Glaubensbrüder aus Hibernia ein Streitgespräch führen. Lernt ihr das wirklich so in deinem Heimatland?«

»Du meinst das mit den Fragen und Antworten?«

»Ja, man erhält eine Antwort und formuliert daraus sofort eine weitere Frage.«

»Eine Antwort führt immer zu einer weiteren Frage. Es gibt keine endgültige Antwort; wäre dem so, könnte es keinen Fortschritt geben.«

Magister Ado gab sich mit einem hörbaren Seufzer geschlagen, stellte aber leicht gereizt fest: »Alle in Hibernia Geborenen müssen die reinsten Philosophen sein.«

»Nicht jeder von uns ist das«, erwiderte Fidelma ungerührt, »obwohl sich alle dafür halten.«

Schweigend zogen sie eine Weile dahin. Hinter ihnen sprachen Bruder Faro und Schwester Gisa leise miteinander, während die beiden Bauern wortlos ihre bepackten Maulesel am Zügel führten. Die ganze Zeit ritten sie im Schatten der hohen Bäume, die in Ufernähe standen, am rauschenden Fluss entlang. Ein paarmal sahen sie Männer, die ihre Angeln auswarfen und sie mit erhobener Hand grüßten.

»Die Leute aus der Umgebung haben das Recht, in der Trebbia zu fischen«, erläuterte Magister Ado. »Es gibt hier erstaunlich viele Fische, besonders die Schmerlen sind prächtig.«

Abgesehen von den Fischern begegneten sie niemandem auf dem Weg, der allen Windungen des Stroms folgte.

»Dort hinter den Bäumen siehst du schon den Gipfel des Monte Pénas.« Magister Ado wies mit ausgestreckter Hand in die Richtung. »In unserer Gegend ist das der höchste Berg, und Bobium liegt an seinem Fuß.«

Die Berge, die Fidelma jetzt vor sich hatte, erschienen ihr nun viel höher als die zuvor. Bei der nächsten Biegung des Flusses kam eine weite felsige, offene Fläche in Sicht. Stattliche Bäche, die in den Bergen entsprangen und in die Trebbia flossen, bildeten eine breite Landzunge. Viele kleinere Häuser deuteten auf eine Siedlung hin. Etwas höher hinauf befand sich ein ausgedehnter Gebäudekomplex, den ein Turm krönte und den hohe Mauern umgaben.

»Bobium!«, rief Magister Ado erleichtert aus. Strahlend erklärte er Fidelma: »Das ist Bobium. Es steht an der Stelle, an der sich dein Landmann Columbanus mit seinen Anhängern niedergelassen und ein klösterliches Refugium geschaffen hat.«

Bewundernd schaute Fidelma auf die vor ihr liegende Landschaft. Wo die Ströme zusammenflossen, hatte sich fast ein See gebildet, dahinter ragten die Berge mit dem herrlich grünen Wald empor. Es leuchtete ihr sofort ein, warum sich Columbanus gerade für diesen Fleck entschieden hatte. Irgendwie erinnerte manches an Éireann, an das vertraute Inselreich, und doch war es anders und fremd.

»Wie gelangen wir auf die gegenüberliegende Seite?«, fragte sie. Die Trebbia, die sie von der Abtei trennte, hatte eine beachtliche Breite, und das Wasser schoss schäumend über das steinige Flussbett. Ihr Begleiter lächelte nur und deutete auf eine lange Steinbrücke weiter vorn, die ein Ufer mit dem anderen verband. Es war eine höchst sonderbare Konstruktion. Sie bestand aus mehreren gemauerten Bögen, doch über jedem Bogen erhob sich ein Buckel.

»Und die soll sicher sein?«, fragte sie mehr sich selbst.

Magister Ado lachte stillvergnügt. »Teufelsbrücke wird sie genannt. Der Name geht auf eine Legende zurück. Als Columbanus sich mühte, eine Brücke aus Stein zu errichten, erschien ihm der Teufel. Er erbot sich, die Brücke in einer einzigen Nacht zu bauen unter der Bedingung, dass ihm die lebende Seele, die als Erste die Brücke überquert, gehören sollte. Damit war Columbanus einverstanden. Am nächsten Morgen war die Brücke fertig; da aber der Teufel viele übermütige Geister und Kobolde herangezogen hatte, baute jeder, wie er Lust hatte, und so entstanden all die Buckel.«

»Und hat der Teufel seine Seele bekommen?«

»Es heißt, Columbanus habe einen kleinen Hund über die Brücke laufen lassen. Der Teufel musste sich damit zufriedengeben, obwohl er eigentlich eine christliche Seele erwartet hatte.«

Fidelma überlegte. »Die Geschichte ist schwerlich zu glauben. Zum einen, wie konnte ein so heiliger Mann wie Colm Bán einen Pakt mit dem Teufel schließen, nur um so etwas Weltliches wie eine Brücke zu errichten? Zum anderen, hätte er wirklich ein armes unschuldiges Tier hinterhältig ins Verderben rennen lassen? Und schließlich, warum sollte sich der Teufel damit abfinden, nur die Seele eines Hundes zu erhalten, wo doch der Neue Glaube uns lehrt, dass nur der Mensch eine Seele besitzt, aber kein Tier?«

Magister Ado schien amüsiert. »Du bist wirklich scharfsinnig, Fidelma, und denkst sehr praktisch. Das hat nicht nur etwas mit deinem Heimatland zu tun, sondern auch mit deiner Ausbildung als Rechtsgelehrte. Sicher wird dir besser gefallen, was unsere Chronisten berichten. Bei denen heißt es nämlich, die Brücke wurde von den römischen Legionen gebaut, als sie dieses Land eroberten. Lassen wir also die Legende beiseite, die sich die Leute erzählen, und nehmen an, die Brücke bestand schon lange vor Columbanus. Auf alle Fälle ist sie sicher genug, um darüberzugehen, ob wir nun an den Teufel glauben oder nicht.«

Die steinerne Brücke war schmal, zwei Reiter nebeneinander konnten sie nur mit Mühe überqueren. Die Gruppe erreichte wohlbehalten das andere Ufer und befand sich nun auf den Ausläufern des Bergs, die in sanften Wellen anstiegen. Der Gipfel war nicht mehr auszumachen, schien mit den umliegenden Bergen verschmolzen. Auf halber Höhe prangte die aus Ziegelsteinen erbaute Abtei, die Mauern waren mit ockerfarbenem Stuck überzogen. Etwas weiter unterhalb standen zahlreiche kleinere Gebäude. Um diese Ansiedlung lagen Felder, auf denen Ackerbau betrieben wurde. Als sie näher kamen, bemerkte Fidelma, dass von den hohen Mauern, die die Hauptgebäude umschlossen, an einigen Stellen der Putz abgefallen war, so dass der grob bearbeitete Stein sichtbar wurde. Über den Mauern, dicht am Haupttor, erhob sich ein Glockenturm. Jemand musste sie bereits gesichtet haben, denn die Glocke schlug langsam viermal an. Die Torflügel des hohen Portals aus dunklem Holz, das Fidelma für Eiche hielt, schwangen auf.

Vor dem Tor verzweigte sich der Weg. Nach kurzer Verständigung mit Magister Ado und einem Abschiedsgruß wandten sich die Krieger dem Städtchen zu, wohin die Bauern mit ihren Packtieren bereits losgezogen waren. Magister Ado ritt mit seinen verbleibenden Gefährten die kurze Steigung zum Portal hinauf. Kaum hatten sie den Hof erreicht, kam ihnen einer der Brüder entgegen. Verwunderung malte sich auf seinen Zügen, als er Magister Ado erkannte.

»Magister Ado! Sehe ich richtig? Bist du es?«

»Wenn nicht ich es bin, dann ist es mein Schatten«, entgegnete der Geistliche und stieg vom Pferd. »Ja, Bruder Wulfila, ich bin von der Reise zurück.«

»Der Abt muss sofort erfahren, dass du sicher heimgekehrt bist.« Sein Blick streifte Bruder Faro, und entsetzt rief er: »Um Himmels willen, du bist ja verwundet …«

»Mach nicht so ein Gewese«, erwiderte der schroff, besann sich jedoch sogleich, dass er sich dem Verwalter gegenüber im Ton vergriffen hatte. Er saß ab und meinte versöhnlich: »Verzeih, Bruder Wulfila, mitunter schmerzt es noch, und dann bin ich ungehalten. Mea culpa

Der Verwalter überhörte die Entschuldigung fast und riet ihm dringend: »Du musst sofort den Apotheker aufsuchen.«

»Ich könnte ihn dorthin begleiten«, bot Schwester Gisa an. »Wir haben die Wunde gereinigt und verbunden, sie muss aber weiter behandelt werden.«

Bruder Wulfila zögerte. »Ohne Genehmigung des Abts darfst du nicht in der Abtei umherwandern. Ich bin gehalten, streng darauf zu achten, dass nicht gegen die Regel verstoßen wird, die die Trennung der Geschlechter vorschreibt.« Er winkte den Mann heran, der das Tor geöffnet hatte. »Bruder Bladulf, bringe Bruder Faro zum Apotheker, der soll ihn sich ansehen.« Dann wandte er sich besorgt Magister Ado zu. »Ist er vom Pferd gestürzt?«

Der Magister schüttelte den Kopf. »Ein Pfeil von einem Banditen war’s.« Bruder Wulfila genügte die Auskunft nicht, er wollte Näheres über den Überfall wissen, doch Magister Ado überging sein Drängen und stellte ihm Fidelma vor. »Schwester Fidelma, das ist Bruder Wulfila, der Verwalter der Abtei. Schwester Fidelmas alter Mentor ist Bruder Ruadán, ihn will sie besuchen und hat seinetwegen die Reise nicht gescheut.«

Bruder Wulfila machte ein ernstes Gesicht. »Da bist du gerade noch rechtzeitig gekommen. Bruder Ruadán liegt seit einer Woche schwer danieder, wir befürchten das Schlimmste. Er ist im Kopf schon nicht mehr klar.«

»Aber er lebt noch?«, fragte sie erregt.

»Er wurde fürchterlich zusammengeschlagen und ist gerade noch lebend davongekommen. Bei seinem Alter wird er sich schwerlich erholen. Viele Tage werden ihm wohl nicht mehr vergönnt sein.«

»Dann möchte ich sofort zu ihm.«

»Wir sind kein conhospitae, Schwester«, erklärte Bruder Wulfila empört. »Frauen dürfen sich nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Abts in der Abtei aufhalten. Deshalb durfte ich auch Schwester Gisa nicht erlauben, Bruder Faro zum Apotheker zu begleiten. Das Frauenhaus ist unten in der Siedlung. Frauen dürfen nur zum Gottesdienst in die Kapelle kommen und vor der Andacht mit uns die Abendmahlzeit einnehmen.«

Magister Ado legte Bruder Wulfila beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Dann sollten wir unsere Ankunft zuallererst dem Abt vermelden. Das gehört sich so. Fidelma ist nicht irgendeine Besucherin. Sie kommt geradewegs aus Rom und ist die Tochter eines Königs in Hibernia.«

Fidelma musste einsehen, dass sie nicht unverzüglich ans Krankenlager von Bruder Ruadán eilen konnte. Es wäre ungehörig gewesen, sich gegen die hier herrschenden Sitten zu stellen und gegen die Regeln der Abtei zu verstoßen.

»Ich bringe euch zu ihm«, sagte der Verwalter und fertigte Schwester Gisa brüsk ab. »Du brauchst hier nicht länger zu verweilen.«

Einen Moment schien Schwester Gisa dagegen aufbegehren zu wollen, dass sie derart schroff fortgeschickt wurde, sagte dann aber nur zu Fidelma: »Wir sehen uns also spätestens bei der Abendmahlzeit.« Sie saß auf und ritt durch das Tor hinaus. Bruder Wulfila winkte zwei andere Brüder heran. Einer übernahm die Pferde und den Packesel, der andere brachte einen Eimer, eine Schöpfkelle und ein Tuch. Fidelma hatte fast das Ritual vergessen, bei dem Neuankömmlingen Hände und Füße gewaschen wurden, wenn sie zum ersten Mal eine Abtei betraten.

Danach führte sie Bruder Wulfila über den großen, mit Steinplatten ausgelegten Innenhof zum Hauptgebäude. Die Nachricht von der Rückkehr des Gelehrten, der in der Abtei großes Ansehen genoss, hatte sich rasch verbreitet. Die Klosterbrüder strömten auf den Hof, ihn zu begrüßen. Auf der obersten Stufe einer kurzen Treppenflucht, die zum Haupteingang führte, stand ein großgewachsener brünetter Mann, etwa gleichen Alters wie Magister Ado. Er hatte dunkles Haar und ebenso dunkle Augen. Dichter blau-schwarzer Bartwuchs, der wohl zweimal täglich rasiert werden musste, zeichnete sich auf Kinn und Wangen ab. Seine Gesichtszüge waren nicht unangenehm. Kleidung und Amtssymbole wiesen ihn als Abt aus. Als Magister Ado sich ihm mit Fidelma näherte, kam er die Stufen herunter und begrüßte den Magister mit einer förmlichen Umarmung. Seinen Gesichtsausdruck wusste Fidelma nicht recht zu deuten.

»Sei mir willkommen, alter Freund. Seit du dich auf die Reise begeben hattest, um unser scriptorium zu bereichern, habe ich um deine Sicherheit gebangt.« Der Abt sprach Lateinisch, woraus Fidelma entnahm, dass Latein die Umgangssprache in der Abtei war. »Wurde deine Wanderfahrt von Erfolg gekrönt?«

»In der Tat. Unser scriptorium besitzt nun eine herrliche Abschrift vom Leben des heiligen Märtyrers Saturnin

Der Abt schaute fragend zu Fidelma, und Magister Ado stellte ihm seine Begleiterin vor.

»Das ist Fidelma von Hibernia, Abt Servillius. Sie ist von Genua an unsere Reisegefährtin gewesen.«

»Fidelma von Hibernia?« Der Abt runzelte die Stirn, schien in seinem Gedächtnis zu kramen. Er streckte die Hand aus, damit sie seinen Ring küsste, wie es bei der römischen Geistlichkeit üblich war. Fidelma aber berührte lediglich seine Hand und neigte den Kopf, entsprechend der Sitte bei ihren Landsleuten.

»Sie ist die Tochter eines Königs in ihrer Heimat«, erläuterte Magister Ado.

»Fidelma?«, überlegte der Abt. Den Namen habe ich doch neulich erst gehört … Ah ja! Du bist jetzt von Rom gekommen, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Fidelma, die schon wusste, was folgen würde.

»Ah, jetzt habe ich es. Einer unserer Brüder, der vor kurzem in Rom war, hat von einer jungen Nonne aus Hibernia erzählt, die selbst den Heiligen Vater in Erstaunen versetzt hätte, weil sie geheimnisvolle Vorgänge um einen angelsächsischen Erzbischof geklärt hat, der im Lateranpalast ermordet wurde. Und die hieß Fidelma.«

»Und genau diese Person hast du nun vor dir, Vater Abt«, versicherte Magister Ado frohgemut.

Fidelma zuckte nur kurz mit den Achseln. »Einen gewissen Anteil hatte ich schon an der Aufklärung des Geheimnisses«, räumte sie ein.

»Dann darf ich dich um so herzlicher begrüßen. So bedeutende Besucher kommen nicht oft in unser abgelegenes Tal, wenngleich …« – er zögerte und warf Magister Ado einen Blick zu –, »… wenngleich gerade in dieser Woche Ausgezeichnete und Adlige unsere Gemeinschaft mit ihrem Besuch beehren. Aber tretet ein.« Der Abt entließ Bruder Wulfila, führte sie in sein Arbeitsgemach und bat sie, sich zu setzen. Der Raum war klein und dunkel, und die Eichenpaneele machten ihn noch dunkler. Ein kleines Fenster ließ gerade so viel Licht herein, dass man auch ohne Lampen auskam.

»Deiner Andeutung entnehme ich, dass du noch andere bedeutende Besucher unter deinem Dach beherbergst », bemerkte Magister Ado und nahm Platz.

»So ist es. Bei uns weilt gerade der junge Prinz Romuald, Sohn unseres gnädigen Königs Grimoald, der zur Zeit im Süden in Kämpfe verwickelt ist.«

»Prinz Romuald?«, rief Magister Ado erstaunt aus.

Die Frage bedurfte keiner Antwort, und so wandte sich der Abt an Fidelma. »Nun, Fidelma von Hibernia, lass mich wissen, warum du ausgerechnet unsere bescheidene Abtei mit deiner Anwesenheit beehrst. Ich vermute, es ist wegen der Geschichte, die unsere Abtei mit deinem Land verbindet.«

Noch ehe sich Fidelma äußern konnte, ergriff Magister Ado das Wort. »Wegen Bruder Ruadán ist sie gekommen. Er war in ihrer Kindheit und Jugend ihr Mentor und Lehrer. Als sie hörte, dass er in unserer Abtei lebt, stand für sie fest, ihn aufzusuchen, bevor sie ihre Heimreise nach Hibernia fortsetzt.«

Über das freundliche Gesicht von Abt Servillius glitt ein Schatten, und mitfühlend schaute er Fidelma an. »Eine ehemalige Schülerin unseres lieben Bruder Ruadán bist du also. Dann ist es Gottes Wille, der deine Schritte in unser Tal zu diesem geheiligten Ort gelenkt hat. Erfahren hast du wohl bereits, dass es schlimm um ihn steht? Natürlich sollst du ihn am Krankenbett aufsuchen. Nur muss ich dich leider warnen, sein Zustand hat sich in den letzten Tagen arg verschlechtert.«

»Kannst du mir Genaueres sagen, was ihm zugestoßen ist?«, erkundigte sich Fidelma.

»Ich weiß nur wenig. Man fand ihn eines Morgens vor den Toren der Abtei, jemand hatte ihm einen Pergamentstreifen mit der Aufschrift ›Ketzer‹ an die Kutte geheftet. Wir wissen, dass er oft vor Anhängern des Arius gepredigt hat, um sie von ihren irrigen Auffassungen abzubringen. Vermutlich hat er einige sehr verärgert, und sie haben ihn ihre Wut spüren lassen. Vor drei Wochen ist er aus Placentia von einer Predigtfahrt heimgekehrt. Man hatte ihn dort so übel zugerichtet, dass er nur mit Mühe zurückkam. Doch er ließ sich nicht abschrecken. Er verließ erneut die Abtei, um in Travo zu predigen, weiter unten im Tal. Danach haben wir ihn schwer verwundet vor den Toren der Abtei aufgefunden. Er wurde zu Bett gebracht und liegt seitdem fest. Aber vielleicht wird der Anblick einer jungen Freundin seinen Geist wieder beleben. Eine solche unerwartete Verbindung mit seinem Heimatland mag wie ein Stärkungsmittel wirken, wie Balsam für seine Seele.«

»Er wird doch gewiss von einem guten Arzt versorgt?«, fragte Fidelma.

»Bruder Hnikar ist der beste Apotheker weit und breit in unserem Tal. Er kümmert sich täglich um ihn. Doch wenn das Fleisch alt und schwach ist …« Der Abt hob hilflos die Schultern, um anzudeuten, mit dem Schicksal kann man nicht rechten. »Ich muss dich darauf hinweisen, wir sind keine gemischte klösterliche Gemeinschaft, deshalb sind deine Möglichkeiten, dich in der Abtei zu bewegen, begrenzt. Du solltest darauf achten, stets einen Bruder an der Seite zu haben, der dich begleitet.« Er beugte sich vor und klingelte mit einer kleinen Handglocke. Sofort erschien Bruder Wulfila in der Tür.

»Die Schwester hier …«, er hielt inne, schüttelte den Kopf und begann erneut: »Begleite die Edle Fidelma von Hibernia zu Bruder Hnikar. Ihr ist ohne jede Einschränkung gestattet, ihren Landsmann, Bruder Ruadán, zu besuchen und sich mit ihm zu unterhalten.«

Der Verwalter unterdrückte seine Überraschung und verneigte sich vor seinem Vorgesetzten. Wortlos forderte er Fidelma auf, ihm zu folgen.

»Komm nachher bitte zu uns zurück, wir legen dann fest, wo du untergebracht wirst und unter welchen Bedingungen du dich bei uns aufhalten kannst«, rief der Abt ihr nach.

Der Apotheker, mit dem sie bekannt gemacht wurde, war ein Mann von gedrungener, rundlicher Statur. Sein Gesicht glänzte rosig, wie das eines Kleinkinds. Die Augen waren so hellblau, dass sie beinahe farblos wirkten. Fidelma war sich nicht sicher, ob seine kahle Kopfmitte naturgegeben war oder ob er eine Tonsur trug. Rundherum umgab sie langes, nicht sehr ordentlich geschnittenes Silberhaar. Er begrüßte sie wie ein gütiger Alter.

»Du wirst den armen Bruder Ruadán in einem beklagenswerten Zustand finden«, sagte er. »Wie du weißt, kann zunehmendes Alter unschöne Folgen haben, doch diese letzten Tage haben ihn über die Maßen geschwächt.«

»Hat er schlimme Verletzungen?«

Bruder Hnikar presste die Lippen zusammen. »Die sichtbaren Verletzungen sind nicht so schwerwiegend; bei seinem Alter war es mehr der Schock, derartiger Gewalt ausgeliefert zu sein. Stichwunden, Beulen und Brüche weiß ich zu heilen, aber wenn die Verwundung tief in Geist und Seele dringt …« Er verzog das Gesicht. »Lass Vorsicht walten, wenn du mit ihm sprichst. Er ist wirr im Kopf und bildet sich die unmöglichsten Dinge ein. Komm, ich führe dich zu ihm.«

Der Raum, in dem Bruder Ruadán lag, war klein, hatte aber eine weite Fensteröffnung, die so in die Mauer eingefügt war, dass viel Licht hereinfiel, wenn sich die Sonne über den Höhenzügen im Westen neigte. Außer der Bettstatt war kaum etwas anderes in der Zelle. Der betagte Mönch ruhte auf einem Strohsack und war mit einer dünnen Wolldecke zugedeckt. Ein einfaches Holzkreuz hing an einer Wand. Ein Tischchen mit einem Wasserkrug und einem Becher sowie eine hölzerne Truhe für persönliche Dinge und Kleidungsstücke bildeten das ganze Mobiliar.

Bruder Hnikar ließ sie eintreten und flüsterte ihr zu: »Denk dran, überanstrenge ihn nicht. Er wird von Tag zu Tag schwächer.«

Ohne ihm zu antworten, ging Fidelma auf das Bett zu. Bruder Ruadán lag auf dem Rücken, als ruhte er, hatte die Hände vor sich gefaltet, die Augen geschlossen; der Atem ging leicht rasselnd.

»Bruder Ruadán, kannst du mich hören?«, sprach Fidelma ihn leise in ihrer Sprache an.

Die regelmäßigen Atemzüge kamen zögerlicher, die Augenlider zuckten und öffneten sich. Zunächst konnten sich die Augen nicht auf einen Fleck konzentrieren.

»Bruder Ruadán, hörst du mich?«, wiederholte Fidelma.

»Wer … wer redet da?«, keuchte der Alte in seiner Muttersprache.

»Ich bin es, Fidelma von Cashel.«

Ein schwaches Lächeln trat auf die Lippen des Greises.

»Fidelma von Cashel? Die ist meilenweit weg von hier.«

Fidelma neigte sich dichter über ihn. »Versuch genau hinzusehen, Bruder Ruadán. Ich bin jetzt hier, bei dir.«

Seine Augen wanderten hin und her, bevor er sie in seinem Blickfeld hatte.

»Erinnere dich an die Zeit, die wir auf Inis Celtra miteinander verbracht haben. Du hast einmal zu mir gesagt, ich sei deine schlimmste Schülerin, weil ich immer so viele Fragen zum Neuen Glauben hatte. Du hast mich gelehrt, ich soll einfach glauben und nicht alles in Frage stellen.«

Über das Gesicht des Alten glitt ein unsicheres Erkennen. »Ich habe einmal eine Prinzessin von Cashel gekannt«, murmelte er, »die hat sogar die Allmacht Gottes angezweifelt.«

»Ich habe damals gesagt, wenn Gott allmächtig ist und Adam erschaffen hat, denn hätte Er doch wissen müssen, dass Adam ungehorsam sein würde.«

»Gott ist allmächtig, aber Er hat dem Menschen einen freien Willen gegeben«, antwortete der Mönch mit der in seinem Gedächtnis verankerten Formel.

»Wenn aber Gott allmächtig war, wie konnte es dann sein, dass Adams Wille stärker war als der seines Schöpfers?«, trieb Fidelma die Fragen weiter.

»Gott erlaubte Adam, seine freie Wahl zu treffen.«

»Nach unserem Gesetz gilt eine Person, die von einem vorsätzlichen Verbrechen weiß und es nicht verhindert, obwohl sie es könnte, als mitschuldig und wird als Mittäter verurteilt.«

Es sah beinahe aus, als würde er zustimmend nicken. er sperrte die wässrigen Augen auf und griff nach Fidelmas Hand.

»Fidelma von Cashel … So hat sie mit mir gestritten, als sie ein heranwachsendes Mädchen war. Dann ist sie fortgezogen, um unter Brehon Morann Rechtskunde zu studieren.«

»Jetzt bin ich hier … hier in Bobium, du, mein alter Lehrer. Ich war auf der Heimreise von Rom nach Cashel und habe zufällig erfahren, dass du nun hier bist. Wie konnte ich weiterreisen, ohne dich aufgesucht zu haben?«

»Fidelma von Cashel?« Der Alte gab einen langen Seufzer von sich und schien noch tiefer in sein Kissen zu sinken. »Bist du es wirklich?«

»Ja, ich bin es, bin Fidelma von Cashel.«

»Verzeih, ich bin alt geworden, und meine Augen werden schwächer. Ich glaube nicht, dass ich noch lange auf Erden wandle.«

»Unsinn«, widersprach ihm Fidelma mit Verve. »Du wirst uns noch alle überleben.«

Er lächelte gequält. »Du warst immer so voller Optimismus, Fidelma von Cashel. Ich hätte gedacht, Brehon Morann hätte dich gelehrt, nicht zu optimistisch zu sein. Du bist in Rom gewesen?«

»Ja, ich war dort.«

Plötzlich sah der Alte ganz verstört aus. Seine schwache Hand umklammerte Fidelmas Arm, er mühte sich, sich im Bett aufzurichten.

»Bleib ganz ruhig, Ruadán«, redete Fidelma sanft auf ihn ein.

»Sei auf der Hut, Fidelma von Cashel. Was aus seinem nassen Grab geholt wurde, muss dorthin zurück. Ein Fluch liegt darauf!«

Der Kranke schaute sie seltsam durchdringend an, als quälte ihn eine furchtbare Angst.

»Ich verstehe dich nicht, Bruder Ruadán, reg dich nicht auf«, suchte sie ihn zu beschwichtigen.

Mit beiden Händen griff er ihre Arme, packte sie fest und zog sich daran hoch. »Übles geht hier vor, Fidelma von Cashel. Übles! Verlass diesen Ort … verlass ihn sofort, du bist hier nicht sicher. Geh fort …«

Keuchend atmete er aus und fiel erschöpft zurück.

Verwirrt blickte Fidelma zu ihm hinunter, wusste nicht, was sie davon halten sollte. Dann wurde sie gewahr, dass Bruder Hnikar an der Tür stand. Er kam rasch zum Bett und legte eine Hand auf Bruder Ruadáns Stirn.

»Seine Körperkräfte lassen nach, habe ich dir ja erklärt. Er hat sich übernommen und sinkt nun wieder in Schlaf. Verlass ihn jetzt. Er braucht so viel Ruhe wie nur möglich.«

Fidelma zögerte, schaute noch einmal lange auf den Geistlichen und trennte sich widerstrebend von ihm. Der Apotheker drängte sie zur Tür.

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, versicherte er ihr. »Er muss jetzt einfach ruhen. Wenn er überreizt ist, bekommt er Halluzinationen. Ich kümmere mich um ihn. Miss dem, was er gesagt hat, keine Bedeutung bei. Sein Verstand ist durcheinander.«

Und schon befand sie sich auf dem Gang, an dem die Zellen lagen. Die Tür wurde fest hinter ihr zugezogen. Doch hörte sie auch von draußen Bruder Ruadán mit schwacher Stimme mehrfach rufen: »Sag ihr, sie soll abreisen … soll die Abtei sogleich verlassen! Viel Böses geht hier um!«

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