KAPITEL 8

Im nächsten Moment drängte sich Fidelma behände an dem stämmigen Apotheker vorbei und riss die Tür zu Bruder Ruadáns Kammer auf. Die erregten Protestrufe von Bruder Hnikar hinter ihr beeindruckten sie kaum, trotzdem hielt sie zögernd auf der Schwelle inne. Bruder Ruadán lag auf seiner Bettstatt. Entschlossen trat sie zu ihm und blieb sinnend vor dem Toten stehen.

Der alte Mönch lag friedlich da. Man hatte den Leichnam bereits gewaschen und für die Aufbahrung vorbereitet, die üblicherweise der Bestattung voranging. Die Hände ruhten sorgsam gefaltet auf der Brust. Bei näherem Hinschauen bemerkte sie an den Fingernägeln Risse, sie wirkten spröde und ungepflegt, zeigten Reste von getrocknetem Blut an den Nagelkuppen. So hatte die Hand, die sie am Morgen gehalten hatte, nicht ausgesehen. Hand-und Nagelpflege spielte bei den Menschen in ihrem Land eine besondere Rolle. In adligen und gebildeten Kreisen legte man großen Wert auf gepflegte Hände und sorgfältig geschnittene Nägel. Jemandem das Wort crécht-ingnech, was so viel wie dreckige Fingernägel hieß, an den Kopf zu schleudern, war die größte Beleidigung, die man sich denken konnte. In der Zeitspanne zwischen ihrem Besuch am frühen Morgen und seiner Todesstunde musste der alte Mann sich mit seinen Händen gegen etwas, gegen jemand vehement gewehrt haben, wobei er sich Fingernägel abgebrochen und den Gegner offenbar blutig gekratzt hatte.

Mit unbewegter Miene betrachtete sie ihren früheren Lehrer. Krank mochte er gewesen sein, aber so viel stand fest: Hier hatte jemand nachgeholfen. Man hatte ihn ermordet.

Noch einmal prüfte sie das Gesicht, die leicht bläulich schimmernde Haut, die Lippen über den gelblichen Zähnen, die Augen, die man ihm nach dem Eintreten des Todes nicht richtig verschlossen hatte. An den Nasenlöchern waren Sprenkel getrockneten Blutes zu erkennen. Schlagartig ging ihr auf, dass der Mörder wahrscheinlich ein Kissen auf Bruder Ruadáns Gesicht gepresst und ihn niedergedrückt hatte. Bruder Ruadán hatte seinerseits bei dem verzweifelten Versuch, sich zu befreien, sich an die Arme des Gegners geklammert und sie zerkratzt. Das zumindest würde den erbärmlichen Zustand der Hände des Toten erklären.

Fidelma sah auf. Der Apotheker, der immer noch wegen ihres Verhaltens grollte, war ihr ins Zimmer gefolgt. Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Wann ist es geschehen?«

»Ich habe dir doch gesagt, mir wurde berichtet, er wäre in der Nacht gestorben. Wirklich, Schwester, du nimmst dir entschieden zu viel heraus, hier ohne Zustimmung einfach einzudringen …«

»Er ist bereits gewaschen und für die Bestattung vorbereitet. Warum hat man mich nicht rechtzeitig von seinem Tod in Kenntnis gesetzt?«

Bruder Hnikar zuckte bei ihrem scharfen Ton zusammen.

»Ich habe Ruadán seit meiner frühen Kindheit gekannt. Ich habe ein Recht, zu erfahren, wann was mit ihm passiert ist.«

»Du hast aber kein Recht, dich ohne Erlaubnis des Abts hier aufzuhalten.«

»Dann wende ich mich eben mit meinen Fragen an den Abt«, erwiderte sie kühl.

»Was für Fragen?« Das klang erschrocken.

Fidelma schwieg, warf einen letzten Blick auf den Leichnam, drehte sich um und verließ den Raum.

Sie betrat die Amtsstube des Abts, ehe er auf ihr Klopfen hatte reagieren können. Er war im Gespräch mit Magister Ado und Bruder Faro.

»Hast du von Bruder Ruadáns Tod erfahren?«, fragte sie ohne Umschweife.

Ihr scharfer Ton schien Abt Servillius zu überraschen.

»Ja, meine Tochter, und ich möchte dir mein Beileid zum Hinscheiden deines alten Freundes und Lehrers aussprechen. Die Abtei hat mit ihm einen guten Menschen verloren.«

»Man hat den Leichnam bereits gewaschen und für die Bestattung vorbereitet. Weshalb hat man mich nicht früher von seinem Tod in Kenntnis gesetzt?«

Der Abt krauste die Stirn. »Wie denn früher, meine Tochter. Sowie ich es von Bruder Hnikar erfuhr, habe ich Bruder Faro losgeschickt, um dich zu suchen.«

»Ich vermutete dich im herbarium«, erklärte Bruder Faro. »Aber dort warst du nicht, und Bruder Lonán konnte mir nicht sagen, wohin du gegangen warst.«

Fidelma schluckte. Es stimmte. Sie hatte sich lange in der Bibliothek aufgehalten, und außer Bruder Eolann wusste niemand, dass sie dort gewesen war. Vielleicht war es tatsächlich ihr eigenes Verschulden, dass man sie nicht hatte früher informieren können.

»Wann ist es passiert? Seit wann weiß man von seinem Tod?«

»Man teilte Bruder Hnikar mit, dass etwas nicht stimmte, und er ging sofort zu ihm.«

»Wer hat ihn benachrichtigt?«

»Wahrscheinlich der Verwalter, es gehört ja zu seinen täglichen Aufgaben, zu überprüfen, ob alles seine Ordnung hat. Der Apotheker hat mich gleich aufgesucht, wir waren jedoch mitten in der Debatte mit Britmund. Er hielt es für besser, nicht zu stören, und wartete, bis ich allein war. Dann hieß es, du wärest zum Kräutergarten gegangen. Deshalb schickten wir Bruder Faro dorthin. Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass dich die Sache erregt. So eine lange Reise, um deinen alten Mentor zu sehen, und nun ist er tot.« Er hielt inne, räusperte sich und entließ Bruder Faro.

Als er gegangen war, forderte Abt Servillius Fidelma auf, sich zu setzen. »Wir sollten nicht vergessen, dass Schwester Fidelma in ihrem Land Anwältin ist«, merkte Magister Ado an. »In dieser Eigenschaft kennt sie es nicht anders, als dass ihr Todesfälle unverzüglich mitgeteilt werden. Wir sollten also Verständnis für ihre Erregung aufbringen, als Letzte von dem traurigen Geschehen zu erfahren.«

Der Abt nahm einen Krug vom Tisch und füllte drei Becher.

»Schon im ersten Brief an den heiligen Timotheus heißt es: Noli adhuc aquam bibere, sed vino modico utere propter stomachum et frequentes tuas infirmitates.«

Fidelma war der Spruch nicht unbekannt: Lass das Wassertrinken und tu deinem Magen und deiner Gesundheit etwas Gutes mit ein wenig Wein. Ein Schluck Wein könnte jetzt nicht schaden, sagte sie sich, denn sie konnte den Schock über den Mord an Bruder Ruadán nur schwer verwinden. Außerdem wusste sie nicht, wem sie ihre Gedanken anvertrauen durfte.

»Bruder Ruadán mochte den Rotwein aus unserer Gegend hier sehr«, meinte der Abt und reichte ihr den Becher. »Um Mitternacht werden wir ihn in unserer Nekropole bestatten. Sie liegt auf der Hügelseite hinter der Abtei. Ich glaube, die Zeremonie unterscheidet sich kaum von der, die bei solchen Anlässen in Hibernia üblich ist.«

Schmerzlich berührt, nippte Fidelma an ihrem Wein und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. »Gibt es etwas von ihm, eine Reliquie vielleicht, die ich zu seiner Abtei auf Inis Celtra mit zurücknehmen könnte? Von dort kam er, dort hat er studiert, und dort habe ich ihn kennengelernt.«

»Selbstverständlich findet sich da etwas«, sagte der Abt sofort. »Ist es bei euch nicht auch Sitte, dass jemand, der den Verstorbenen gut kannte, am Grab ein paar Worte spricht?«

»Ja.«

»Ich selbst werde ein paar Worte über sein Wirken hier in der Abtei sagen, aber über sein Leben, ehe er sein Land verließ und zu uns kam, wissen wir nichts. Wahrscheinlich hat Gott deine Schritte hierher gelenkt, damit du ehrende Worte über den achtbaren Diener des Herrn sprichst. Wärst du dazu bereit?«

Sie stimmte ohne jegliches Zögern zu.

»Der Tod ereilt uns immer unerwartet«, fuhr der Abt fort, »selbst wenn man darauf vorbereitet ist. Der einzige Fehler, den Bruder Ruadán hatte, war sein Eifer, denjenigen, die durch ketzerische Lehren in die Irre geleitet worden waren, den wahren Glauben zu verkünden. Sie fürchteten seine Stimmgewalt und die Wahrheit seiner Rede, doch seinen gebrechlichen Körper missachteten sie und fielen über ihn her.«

In Fidelmas Kopf arbeitete es; wie konnte sie dem vermeintlichen Mörder ihres Mentors auf die Spur kommen? »Seid ihr überzeugt, dass sich in eurer Abtei kein Arius-Anhänger aufhält?«

Die Frage überraschte sowohl den Abt als auch Magister Ado.

»Bei uns sucht man Zuflucht vor solchen Ketzern«, erwiderte der Abt. »Wie kannst du nur so etwas denken? Wir sind ein Eiland des wahren Glaubens. Warum sollte Ketzern etwas daran liegen, einen der Ihren bei uns einzunisten?«

»Ach, nur, weil er so etwas gesagt hat.« Sie machte die Bemerkung ohne rot zu werden. »Wir Anwälte sind wissbegierige Leute, schon die leiseste Anspielung, die wir nicht verstehen, macht uns hellhörig und beschäftigt uns.«

Magister Ado betrachtete sie argwöhnisch. »Etwas, was Bruder Ruadán gesagt hat? Ich dachte, du hast ihn nur einmal, gleich nach deiner Ankunft gesehen, als er reichlich durcheinander war.«

Sie merkte, sie musste vorsichtiger bei ihrer Wahrheitssuche sein. Und doch war sie sich inzwischen sicher, dass Bruder Ruadán nicht im Fieberwahn geredet hatte, als er sie vor dem Bösen warnte, das in der Abtei umginge. Man hatte ihn ermordet. Daran war nicht zu rütteln. Sie musste herausfinden, wer ihn auf seinem Krankenlager erstickt hatte – und warum.

Sie erhob sich und stellte den geleerten Weinbecher auf dem Tisch ab. »Es war einfach dies, dass mir die, die über ihn hergefallen sind, keine Ruhe lassen. Jemanden zusammenschlagen, nur, weil er gegen die Glaubensauffassung des Arius predigt. Verzeiht. Ich gehe ins Gästehaus und lege mich ein wenig hin.«

Sie war schon an der Tür, als Abt Servillius sie zurückhielt. »Mein Verwalter, Bruder Wulfila, sagte mir, du wärest betroffen gewesen, dass Freifrau Gunora und Prinz Romuald die Abtei verlassen haben. Freifrau Gunora war um die Sicherheit des Jungen besorgt und hat mich gestern Abend aufgesucht. Sie teilte mir ihre Absicht mit, die Abtei vor Sonnenaufgang zu verlassen, sie wollte zur Festung von Seigneur Radoald, wo sie sich sicherer glaubte.«

»Nach alldem, was ich inzwischen gehört habe, scheint mir das eine wenig kluge Entscheidung«, befand Fidelma. »Bei der Unruhe, die das Land hier offensichtlich ergriffen hat, wäre sie in den Mauern der Abtei besser aufgehoben.«

Der Abt sah sie spöttisch an. »Freifrau Gunora und du, ihr habt etwas gemeinsam«, stellte er fest. »Ihr legt die gleiche Entschlossenheit an den Tag, die keinen Widerspruch duldet. Als ich ihr darlegte, dass ihr Vorhaben nicht gerade weise wäre, genau so, wie du es eben gesagt hast, entgegnete sie mir, ich sei ein alter Narr, sie würde die Abtei verlassen, ob es andere für klug hielten oder nicht.«

Fidelma errötete. »Ich weise nur auf Dinge hin, die der Logik entbehren.«

»Und das trifft im Falle von Freifrau Gunora leider zu«, erwiderte der Abt. »Gönn dir etwas Ruhe, Fidelma. Man wird Bruder Ruadáns Leichnam zur Kapelle bringen, wo die Brüder und Schwestern die Gelegenheit haben, ihm im Gebet die letzte Ehre zu erweisen. Zur Mitternacht erfolgt traditionsgemäß die Bestattung.«

»Ich werde zugegen sein.« Fidelma nickte beiden Männern höflich zu und ging.

Ein endlos langer, einsamer Nachmittag lag vor ihr. Merkwürdigerweise zog es sie nicht in die Kapelle, um an der Bahre ihres alten Lehrers Wache zu halten. Draußen war es heiß, der Himmel war blau und die Sonne immer noch stechend. Die Tageszeit lud zum Verweilen im Freien ein, draußen, wo Leben war. Dem Tod sollte eher die Nacht gehören, fand Fidelma. Nacht und Tod gingen Hand in Hand. Zu blauem Himmel und warmem Sonnenschein passte er nicht. In der Abenddämmerung würde sie bei dem Toten wachen, aber nicht jetzt am helllichten Tag, der für das Leben strahlte.

Bruder Ruadán war tot – doch warum? Alle Welt behauptete, man wäre über ihn hergefallen, weil er unerbittlich gegen den arianischen Glauben zu Felde zog und das Glaubensbekenntnis von Nicäa verteidigte. Aber ermordet hatte ihn jemand, der Zugang zur Abtei hatte. Gab es noch ein anderes Tatmotiv? Hatte man ihn ermordet, weil jemand befürchtete, er könnte etwas verlauten lassen? Was hatte er gesagt? Irgendetwas mit Münzen, Goldmünzen … Angestrengt versuchte sie, sich zu erinnern.

Mit sich und ihren Gedanken beschäftigt, wanderte sie langsam durch die Abtei, fast von allein trugen sie die Füße wieder ins herbarium. Mit gesenktem Kopf schlenderte sie über die schmalen Wege durch die Beete. Ab und an stand ein Mönch herum und murmelte Laus Deo oder Deus misereatur oder Ähnliches. Es blieb nicht aus, dass es sie zu der einen Person zog, in deren Gesellschaft sie sich unbefangen fühlte, und schon bald kletterte sie den Turm hinauf zum scriptorium von Bruder Eolann. Etwas verwirrt stand er von seinem Pult auf, als sie den Raum betrat.

»Bruder Ruadán ist für immer von uns gegangen, ich weiß. Es tut mir außerordentlich leid, Lady. Ich empfinde sein Dahinscheiden als einen herben Verlust, wir waren sehr vertraut miteinander. Er war ein großartiger Lehrer und Gelehrter, außerdem einer der Unsrigen. Man wird ihn vermissen.«

»Danke, Bruder Eolann. Er war in der Tat ein bemerkenswerter Lehrer«, erwiderte sie ernst.

»Er hatte einen wachen Verstand.«

»Einen wachen Verstand«, wiederholte sie mehr für sich. »Hat er dir gegenüber irgendwann einmal Münzen erwähnt? Goldmünzen?«

Schweigend sah er sie eine Weile an. »Münzen? In welchem Zusammenhang?«

»Vielleicht weniger Münzen, mehr einen verschwundenen Schatz.«

Der scriptor schüttelte entschieden den Kopf. »Mir gegenüber hat er nie etwas dergleichen gesagt. Sein Interesse galt vielen Dingen, du weißt es ja selbst, aber eine Anspielung auf Münzen hat er nie gemacht. Weshalb fragst du?«

Sie antwortete mit einer Gegenfrage. »Er ist nie hierher gekommen, weil ihn eben das Thema beschäftigte? Hat sich nie andeutungsweise über Münzen oder irgendeinen Schatz geäußert?«

»Nein, nie.«

»Ist es vorstellbar, dass er in die Bibliothek kam und ein Buch zu dem Thema gefunden hat, ohne dass du es bemerkt hast?«

Bruder Eolann verzog das Gesicht zu einem schmerzlichen Lächeln. »Eine solche Möglichkeit besteht immer. Zwar sind wir darauf bedacht, dass wir jeden Benutzer der Bibliothek kennen. Und doch müssen wir feststellen, dass nicht jeder Besucher den Wert der Bücher zu schätzen weiß und nicht so mit ihnen umgeht, wie es sich geziemt. Ab und an werden sie regelrecht verunstaltet. In meinen Augen ist das ein Verbrechen.«

»Wie kann man mit Büchern rücksichtslos umgehen?« Er hatte Fidelma mit seiner Bemerkung abgelenkt.

»Wir hatten tadellose Kopien von Polybius und Livius, ihren Geschichtsdarstellungen. Ich habe neulich erst feststellen müssen, dass sie Schaden genommen haben.«

»Wie das?«

»Ich wollte eine Bezugnahme auf Polybius überprüfen und merkte beim Blättern, dass jemand etliche Seiten herausgetrennt hatte.«

»Sich an einem Buch derart zu vergehen, ist fürwahr ein Sakrileg«, stimmte ihm Fidelma zu.

»Viel schlimmer ist, dass das Gleiche mit dem Geschichtswerk des Livius passiert ist – es fehlen Blätter, sie wurden mit einem scharfen Messer säuberlich herausgeschnitten. Es kostete meine Kopisten mehrere Tage, um zu überprüfen, ob nicht noch weitere Exemplare betroffen sind.«

Er ging zu einem Regal und zog ein Buch heraus. Es war Livius’ Ab urbe condita libri, Geschichte seit der Gründung der Stadt Rom. Er schlug eine bestimmte Seite auf und zeigte ihr die Stelle.

»Da siehst du es. Das Blatt hier ist herausgetrennt.«

»Das muss doch einen Grund haben.« Sie überflog die Seite davor, es ging um einen Marcus, der im Festgewand den Senat betrat. »Du sagst, es ist neulich erst passiert? Was gedenkst du zu tun?«

»Ich werde dem Abt von dem Vorkommnis berichten. Ich fürchte, er kann auch nicht viel machen, höchstens in seiner Predigt der Gemeinde ins Gewissen reden und mit Gottes Strafe drohen, wenn die Täter sich nicht zur Tat bekennen.«

»Lässt sich der Schaden wiedergutmachen?«

»Nur wenn wir ein vollständiges Exemplar ausfindig machen können. Ich habe einen Boten zur Gemeinschaft des heiligen Fridian in Lucca gesandt. Sie verfügen dort über Abschriften dieser Werke. Ich hoffe, wir können sie kopieren oder vielleicht auch käuflich erwerben. Es ist eine Schande für meinen Ruf als scriptor, dass in meinem scriptorium so etwas passieren konnte.«

»Schwer vorstellbar, wie sich ein Mensch so an Büchern vergehen kann. Könnte es jemand gewesen sein, der nicht zur Bruderschaft hier gehört?«

»Daran habe ich auch schon gedacht, Lady. Aber wer außerhalb unserer Gemeinschaft würde sich so einfach das entsprechende Buch greifen können? Eins ist doch klar, derjenige, der die Seiten herausgetrennt hat, wusste, um welche Bücher und genau um welche Seiten es ihm ging. Hätte er nur ein paar Stücke Pergament gewollt, hätte er die auch von den erstbesten Bänden haben können.« Er zeigte auf die am nächsten stehenden Regale. »An die Bücher hier wäre er doch viel leichter herangekommen als an die anderen zwei, die auf völlig anderen Regalen stehen.«

»Wenn man wüsste, was auf den Seiten stand und worauf es sich bezog, könnte das vielleicht darauf hinweisen, worum es dem Täter ging. Es wäre dann leichter, dem Verbrecher auf die Spur zu kommen.«

Bruder Eolann versuchte ihren Gedanken nachzuvollziehen und wurde gleich ganz eifrig. »Du hast vollkommen recht, Lady. Hoffentlich können wir schon bald die nötigen Bände beschaffen. Ich kann es kaum abwarten.«

»Du hast keine Vorstellung, worum es auf den fehlenden Seiten gehen könnte?«

»Leider nicht.«

»Vergiss das mit den Münzen. Ich wollte dich damit nicht unnötig behelligen. Die Sache ist nicht so wichtig.«

Die Glocke begann zu läuten und rief die Brüder zum abendlichen Mahl. Fidelma verabschiedete sich von dem Bibliothekar und folgte auch ihrerseits dem Ruf in den Speisesaal. Das Gespräch über vorsätzlich beschädigte Handschriften hatte ihr gutgetan, es hatte sie von Bruder Ruadán und seinem Dahinscheiden abgelenkt. Trotzdem, sie musste sich mit seinem Tod beschäftigen, musste dem rätselhaften Geschehen nachgehen. Es galt, einen Mörder zu fassen.

In Fidelmas Kulturkreisen war es Sitte, bei einem Leichnam eine Nacht und einen Tag lang Totenwache zu halten. Hier war der Brauch leicht anders, der Grundgedanke aber der gleiche. Man hatte den ganzen Nachmittag und Abend Totenwache in der Kapelle gehalten. Nach dem Abendessen versammelten sich die Brüder und Schwestern – und mit ihnen Fidelma – in der Kapelle zum Gebet; man saß unmittelbar vor der Bahre. Alle ranghohen Geistlichen waren anwesend, es fehlte keiner, vom Abt bis hinunter zu Bruder Lonán, dem Gärtner. Nach einer Weile betrat auch Seigneur Radoald in Begleitung seines Kriegers Wulfoald die Kapelle und nahm neben Fidelma Platz.

»Bruder Ruadán war ein guter Mensch und wurde in dem Tal hier sehr geachtet«, flüsterte ihr der junge Herrscher von Trebbia zu. »Es tut mir aufrichtig leid, gerade auch für dich, nachdem du eigens hierhergereist bist, um ihn zu sehen. Und nun findest du ihn tot vor.«

»Doch, ich habe ihn gesehen …«, begann Fidelma, bemerkte aber, dass Bruder Hnikar, der vor ihr saß, sich zurücklehnte; seine Haltung wirkte zwar ganz zwanglos, gab ihm aber die Gelegenheit, das Gespräch mit anzuhören. »Ich habe ihn gesehen«, fing sie erneut an, »gleich nach meiner Ankunft, aber er war wirr im Kopf; das wenige, das er sagte, ergab keinen Sinn.«

»Betrüblich. Ich nehme an, du wirst nun ziemlich rasch deine Heimreise antreten?«

Fidelma runzelte die Stirn, musste sie seine Worte als ein verstecktes Drängen auffassen? War ihm daran gelegen, sie loszuwerden?«

»Ich werde mich recht bald auf den Weg nach Genua machen.«

»Wenn du aufzubrechen gedenkst, lass es mich wissen. Ich würde dir bis Genua gern eine Begleitung mitschicken, um Unannehmlichkeiten, wie du sie auf dem Herweg erlebt hast, zu vermeiden.«

»Ich kann dir versichern, dass ich auf eine Wiederholung derartiger Erlebnisse gut und gerne verzichten kann«, erwiderte sie ernst. »Du hörst von mir, wenn ich so weit bin.«

Der junge Seigneur erhob sich, mit ihm auch Wulfoald, schritt zum Altar und der Bahre, auf der Bruder Ruadán ruhte, und erwies dem Toten huldvoll seine Ehrerbietung.

So wie es auch in ihrem Land Sitte war, wurde die Bahre mit dem Leichnam um Mitternacht aus der Kapelle und der Abtei getragen. Bis zur Nekropole war es nicht weit. Sie lag hinter der Abtei an einem Hang, war von einer kleinen Mauer umgeben und bot Zutritt durch einen aus Stein gemauerten Torbogen.

Drei Mönche führten den Trauerzug an, der in der Mitte trug ein an einem Stab befestigtes Kreuz, die beiden anderen links und rechts von ihm brennende Fackeln. Hinter ihnen schritten sechs Brüder mit der Bahre, gefolgt von Abt Servillius, dem Ehrwürdigen Ionas und Magister Ado, in der Reihe danach Schwester Fidelma mit Bruder Eolann. Auch die anderen Mönche fehlten nicht, unter ihnen Bruder Lonán, Bruder Faro und Bruder Wulfila, und Mitglieder der Schwesternschaft einschließlich Schwester Gisa hatten sich dem Zug ebenfalls angeschlossen. Selbst von außerhalb der Tore der Abtei waren Trauergäste gekommen. Zu ihnen gehörten Seigneur Radoald und Wulfoald sowie Bewohner aus den umliegenden Orten. Ganz offensichtlich hatte man für Ruadán große Achtung gehegt. Die Schar drängte sich durch das Tor in die Totenstadt und bewegte sich langsam hügelan, wo Fidelma weiter hinten brennende Fackeln erkennen konnte.

In dem flackernden Licht glaubte sie verschiedene Grabstellen auszumachen, ganz oben aber auf dem Hang, der noch zur Nekropole gehörte, standen drei kleine Häuser in einer Bauart, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte. Genau beschreiben ließen sie sich in der Dunkelheit nicht.

Mit dem Betreten des Friedhofsgeländes hatten die Mönche einen Gesang auf Latein angestimmt, der Fidelma unbekannt war.

»Dominus pascit me, nihil mihi deerit …« – der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.

Als sie sich der Stelle näherten, wo man das Grab ausgehoben hatte, ordnete man sich zu einer langen Reihe.

»Sed et si ambulavero in valle mortis, non timebo malum, quoniam tu mecum es; virga tua et baculus tuus ipsa consolabuntur me …« – Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich …

An dem frisch ausgehobenen Grab erwarteten sie bereits etliche Mönche. Man senkte den Leichnam hinab, es folgten Gebete, und dann gab Abt Servillius Fidelma das Zeichen vorzutreten.

Am liebsten hätte sie sich umgewandt und einen aus der Menge des Mordes an ihrem Mentor bezichtigt. Sie hatte das Bedürfnis, die Anklage laut hinauszuschreien, dass er nicht an den Folgen der Verletzungen, die er ein oder zwei Wochen zuvor erlitten hatte, gestorben war, sondern dass man ihn erst heute Morgen, kurz, nachdem sie bei ihm gewesen war, ermordet hätte. Dass er versucht hätte, sie zu drängen, diesen vom Bösen heimgesuchten Ort zu verlassen. Doch es gelang ihr, sich selbst in die Schranken zu weisen und sich zu beruhigen.

»Bruder Ruadán stammte aus dem Königreich von Muman, aus einem der fünf Königreiche, die ihr das Land Hibernia nennt. Er wurde nach einem Heiligen benannt, der in meiner Heimat als einer der zwölf Apostel Hibernias gilt. Besagter Ruadán wurde der erste Abt von Lothra, nicht weit von dem Ort gelegen, wo unser Bruder Ruadán aufwuchs, ein junger Bursche voller Wissensdurst und Hingabe zur Frömmigkeit. Er trat in die Abtei von Inis Celtra ein, einer kleinen Insel inmitten eines großen Sees, wo er sich in seine Bücher vertiefte und danach strebte, sein Wissen zu vervollkommnen. Ich selbst habe, wie so viele andere auch, bei ihm gelernt und studiert und verdanke seiner Lehre und seinen profunden Kenntnissen eine unschätzbare Bereicherung meines eigenen Wissens. Sein Leben war einer der wenigen leuchtenden Leitsterne in unserer dunklen Welt.«

Sie nahm eine Handvoll Erde und warf sie ins Grab.

Abt Servillius bedachte sie mit einem anerkennenden Blick und trat seinerseits vor.

»Hibernias Verlust war ein Gewinn für uns und unsere Abtei. Gewiss war es für Hibernia ein trauriger Tag, als Bruder Ruadán von seinen Ufern Abschied nahm und ein peregrinus pro amore Christi wurde. Für uns aber war es eine große Freude, als er an die Tore unserer Gemeinschaft pochte. Er wurde einer unserer größten Prediger, ging hinaus zu den Heiden und war bemüht, sie auf den Pfad der Wahrheit zu bringen. Er musste für die Wahrheit büßen. Wir dürfen ihn als einen wahren Märtyrer bezeichnen, denn er starb an den Schlägen derer, die auf ihn einhieben, die sich der Ketzerei verschrieben haben und nichts von dem wahren Glauben halten. Seine Seele wird zu Gott auffahren, und der Himmel wird ihn mit Freuden empfangen.«

Auch der Abt nahm eine Handvoll Erde und warf sie ins Grab. Einer nach dem anderen aus dem Trauerzug trat vor und tat das Gleiche. Jeder verharrte einen Moment im Gedenken an den Verstorbenen, ehe er weiterging.

Als Fidelma und die anderen sich von dem Grab entfernten, durchdrangen unheimliche, klagende Töne die Nacht. Sie hatten etwas Gespenstisches und doch Melodiöses an sich, und Fidelma erkannte sie als eine Weise, die auf einem Dudelsack gespielt wurde. Es klang ähnlich, wie sie es von zu Hause her kannte, aber irgendwie dünner, wie eine Sackpfeife mit Rohrblatt. Die klagende Tonfolge hallte in den Bergen wider, erinnerte an den Aufschrei einer gequälten Seele. Fidelma sah verschreckt zum Ehrwürdigen Ionas, der neben ihr stand.

»Hab keine Angst, meine Tochter«, beruhigte er sie. »Es ist nur der alte Aistulf, der auf der Muse spielt – ein Klagelied für den Verstorbenen.«

»Aistulf der Einsiedler? Und was ist eine Muse?«

»Eine Sackpfeife, wie sie die Bergbewohner hier spielen. Manchmal des Nachts, wenn die Geräusche im Tal leichter zu vernehmen sind, kann man den alten Aistulf spielen hören. Das darf dich nicht weiter beunruhigen.«

Die Trauergemeinde verließ die Nekropole. Einer der Fackelträger blieb zurück, um Fidelma und die anderen zu begleiten. Sie folgten dem Weg, der von Grabsteinen und Holzkreuzen gesäumt war, als sie ein ungewöhnlich grobes Holzkreuz mit einem Namen darauf bemerkte. Unter all den kunstvoll gearbeiteten Gedenksteinen fiel es aus dem Rahmen, auch sah sie, dass der Name nicht eingeschnitzt, sondern in das Holz eingebrannt war, wie man es mit einem heißen Eisen machen konnte. Sie waren schon weitergegangen, und da erst registrierte ihr Gehirn den Namen, den sie gelesen hatte. Wamba. Wo hatte sie den schon gehört? Blitzartig ging es ihr auf. Es war der Name, den Bruder Ruadán genannt hatte.

»Der Junge … der kleine Wamba. Er hätte nicht sterben dürfen, bloß weil er die Münzen hatte.«

Das waren die Worte, die er noch am Morgen gesagt hatte. Was für Münzen? Warum die Münzen? Wie war Wamba zu Tode gekommen? Wen konnte sie fragen? Wem konnte sie trauen?

Alle möglichen Fragen gingen ihr durch den Kopf, und als sie in ihrer Kammer im Gästehaus angelangt war, wusste sie nicht, wie sie unter diesen Umständen Schlaf finden sollte. Doch die Erschöpfung übermannte sie, und erst das frühe Morgenlicht weckte sie.

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