KAPITEL 12

Gegen Mittag wurde der Holzriegel abermals aus der Halterung geschoben. Kakko, der Verwalter, erschien. Sein massiger Körper versperrte den Eingang und ließ das helle Sonnenlicht hinter ihm im Hof nur ahnen.

»Du kommst gefälligst mit, kleiner Bruder«, dröhnte er und mit einem Blick zu Fidelma, »und du bleibst schön hier.«

Nur zögernd stand Bruder Eolann auf und begab sich zur Tür.

»Wieso er und nicht ich?«, wollte Fidelma wissen.

Kakkos Grinsen wurde breiter. »Schon wieder eine Frage? Ständig diese Fragerei! Mein Herr nimmt sich vielleicht später die Zeit, dich zu empfangen. Im Augenblick wünscht er nur den hier zu sehen.« Er wies mit dem Kopf zu Bruder Eolann.

Fidelma wäre es lieber gewesen, man hätte sie gemeinsam zu Grasulf vorgelassen, aber sie konnte an der Entscheidung nichts ändern. Die Zeit verging, frustriert wanderte sie in dem kleinen Raum auf und ab. Endlich kam der Verwalter wieder – ohne Bruder Eolann.

»Und jetzt, kleine Schwester, bist du dran«, verkündete er.

»Wo ist Bruder Eolann?«

»Er ist vergnügt und munter. Auf geht’s, kleine Schwester. Hier lang.«

Sie musste sich mit seinen kargen Auskünften begnügen und war bemüht, alle Befürchtungen zurückzudrängen. Stumm folgte sie ihm. In ihrem Verließ war es empfindlich kühl gewesen, umso mehr überraschte sie die Wärme draußen, zumal die hochstehende Sonne den kleinen Innenhof aufheizte. Kakko ging ihr in einem für sein Gewicht erstaunlichen Geschwindschritt voran über den gepflasterten Hof. Fidelma konnte sich sein Tempo nur damit erklären, dass der Riese gut durchtrainiert war.

Weiter hinten führte ein Durchgang in einen anderen Hof, an dessen einem Ende zwei Türflügel, die halb offen standen, von Kriegern bewacht wurden. Neugierig starrten sie Fidelma an, als sie und Kakko an ihnen vorbei und hineingingen. Der Raum, den sie betraten, erwies sich als eine Art Vorzimmer, denn von dort gelangten sie in eine große Halle. Derartige Räumlichkeiten waren Fidelma nicht fremd, sie dienten Herrschern und Stammesfürsten meist als Stätte traditioneller Festgelage. Sie fühlte sich auch sogleich in ihrer Annahme bestätigt, denn an einer Seite stand leicht erhöht ein kunstvoll gearbeiteter Stuhl. Zu beiden Seiten der Rückenlehne saßen zwei große geschnitzte Vögel, bei genauerem Hinsehen erkannte sie sie als Raben. In ihrem eigenen Land galten Raben als böses Omen, symbolisierten dort die Göttin über Tod und mörderische Schlachten. In unmittelbarer Nähe waren ein Tisch und kleinere Stühle gruppiert. Wandteppiche zeigten in farbigen Darstellungen kriegerische Szenen, und an den aus Ziegeln gemauerten Wänden hingen verschiedene Waffen. Fidelma war schon vorher aufgefallen, dass die meisten Gebäude hierzulande aus rötlichen Backsteinen bestanden, sie schienen das bevorzugte Baumaterial der Römer gewesen zu sein. Das machte einen völlig anderen Eindruck als die Bauten aus Steinblöcken und Holz bei ihr zu Hause. Die Halle bekam genügend Licht durch eine Reihe hoher Fenster, es war aber drinnen im Gegensatz zu der Hitze draußen verhältnismäßig kühl.

Auf den ersten Blick schien der Saal leer. Dann jedoch vernahm sie ein leises Knurren und bemerkte links und rechts von dem thronartigen Stuhl zwei Jagdhunde. Sie lagen mit erhobenem Kopf und ausgesteckten Vorderpfoten und beobachteten wachsam die beiden Besucher. Kakko machte noch einen Schritt in das Rauminnere und blieb dann stehen.

Aus einem offenen Durchgang betrat ein Mann den Saal, ging zu dem Prunksessel und ließ sich hineinfallen. Er war von beachtlicher Leibesfülle, doch wie der Verwalter sehr muskulös, was darauf hindeutete, dass er mehr ein Krieger als ein Mensch genüsslicher Lebensführung war. Groß war er nicht, eigentlich nur von durchschnittlicher Größe, und ein gutaussehender Mann war er auch nicht, zumindest nicht in Fidelmas Augen. Er hatte einen Vollbart und trug das blonde Haar lang. Soweit sie es überhaupt feststellen konnte, hatte er helle Augen und sah frisch und gesund aus. Sie schätzte ihn auf einen Mann in mittleren Jahren. Einen freundlichen Eindruck machte er auf sie nicht. Das bewies auch seine barsche Handbewegung, mit der er sie und den Verwalter unwillig heranwinkte.

Kakko kam der Aufforderung nach, blieb kurz vor dem Podest stehen, verbeugte sich und vergewisserte sich mit einem Seitenblick, ob Fidelma seinem Beispiel folgte. Sie tat es nicht. Sie blieb zwar neben ihm stehen, sah aber den Seigneur nur herausfordernd an.

»Das ist die Person, die sich Fidelma nennt, mein Lord«, erklärte Kakko.

Die blassen Augen ruhten auf Fidelma.

»Man sagt mir, du seiest eine fromme Schwester aus Hibernia«, fing der Mann auf Latein an und sprach es fließend, als wäre es seine Muttersprache.

»Und du bist …?«, gab sie kühn zurück. Seine anmaßende Art brachte sie auf.

Kakko hielt vor Schreck den Atem an – wie konnte sie sich erdreisten, seinem Herrn nicht die nötige Demut zu zeigen? Dessen Augen weiteten sich etwas, dann hob er träge die Hand und gab seinem Verwalter zu verstehen, er solle für ihn antworten.

»Du stehst vor Grasulf, dem Sohn des Gisulf, Seigneur von Vars«, verkündete er lautstark. »Es kommt einer Beleidigung gleich, sich nicht vor ihm zu verbeugen, selbst wenn du eine Fremde bist.«

»Seigneur von Vars?«, wiederholte Fidelma, als müsse sie sich über Rang und Titel klarenwerden, um gleich darauf kühl und mit Nachdruck zu erklären: »Dann sollst du, Grasulf, Sohn des Gisulf, wissen, ich bin Fidelma von Cashel, gelegen im Land Hibernia, Tochter des Königs Failbe Flann von Muman.«

Nur kurz starrte Kakko sie an und meinte dann mit bösem Grinsen: »Dachte ich mir doch gleich, so, wie sie auftritt, ist sie nicht nur eine Nonne.«

»Ist es der Tochter eines Königs verboten, Mitglied einer Schwesternschaft zu sein?«, gab sie kurz angebunden zurück und versuchte, eine Übersetzung für den Titel eines dálaigh zu finden. »Darüber hinaus wirke ich in meinem Land als procurator

Grasulf beugte sich vor und betrachte sie – neugierig geworden – unter zusammengezogenen Augenbrauen. »Prinzessin, Nonne und Rechtspflegerin, alles in einem? Das soll möglich sein?« Seine Stimme klang ironisch.

»Sehr wohl, alles in einem«, erwiderte sie kalt.

»Bring einen Stuhl für Fidelma aus Hibernia«, wies der Seigneur von Vars seinen Verwalter an. »Und dann hol Wein.«

Kakko eilte durch den Raum und schaffte den Stuhl herbei.

»Mein Verwalter hatte recht, in dir eine Person von Rang und Namen zu vermuten«, sagte Grasulf. »Weshalb hast du ihm das verschwiegen?«

»Das, was er wissen musste, habe ich ihm gesagt, dass ich nur als Gast in eurem Land bin und ein paar Tage hier verbringe, um in der Abtei Bobium meinen alten Mentor zu besuchen.«

»Du meinst den Mann, mit dem du unterwegs bist, den scriptor von Bobium?«

»Nein, Bruder Eolann meine ich nicht. Er hat mir nur oben auf dem Monte Pénas die heilige Zufluchtstätte von Colm Bán gezeigt, wo uns deine Männer dann verschleppt haben.«

Kakko hatte den Stuhl neben ihr abgestellt, und sie machte es sich bequem. Dann ging der Verwalter zu einem Seitentisch und holte von dort zwei irdene Becher und eine große glasierte Karaffe mit Rotwein.

»Colm Bán?«, fragte Grasulf, denn er wusste mit dem Namen nichts anzufangen.

»Ihr nennt ihn hier Columbanus. Er hat die Abtei von Bobium gegründet.«

»Ach so, der. Von dem habe ich gehört, der ist schon lange tot. Und wen, wenn nicht den scriptor, hast du in Bobium besucht?«

»Bruder Ruadán, er ist erst vor kurzem gestorben.«

Kakko fühlte sich zu Erläuterungen verpflichtet. »Ich bin diesem Bruder Ruadán einmal begegnet, mein Herr. Er war schon ziemlich alt. Wanderte bis nach Placentia und predigte überall gegen den christlichen Glauben der Arianer.«

Lord Grasulf ließ sich von Kakko einen Becher Wein reichen und trank begierig, ehe er das Gespräch fortführte.

»Er ist tot, sagst du?«

»Ja«, bestätigte Fidelma. »Und jetzt verlange ich, dass man mich und meinen Gefährten, Bruder Eolann, freilässt, damit wir nach Bobium zurückkehren können und ich meine Reise in mein Heimatland fortsetzen kann.«

»Freilassen?« Grasulf lehnte sich zurück und sah sie verdrossen an. »So einfach geht das nicht, edle Dame. Wir leben in unruhigen Zeiten, und die Menschen sprechen nicht immer die Wahrheit. Wer will da schon wissen, was dich und deinen Gefährten tatsächlich auf den Pénas getrieben hat, von wo man das Tal bestens überblickt? Vielleicht habt ihr herumspioniert?«

Trotzig reckte Fidelma das Kinn. »Ich habe dir die Wahrheit gesagt. Es verhält sich so und nicht anders.«

»Wir werden ja sehen.«

»Ich verwahre mich …«

»Wogegen, edle Dame? Ich bin der Seigneur von Vars, und du hast niemanden hier, der dich vertreten kann, weder aus angeborenem Recht noch vom Gesetz oder deiner Religion her.«

»Nicht von meiner Religion her? Darf ich das so verstehen, dass ihr hier alle Anhänger des Arius seid?«

Zum ersten Mal verzog sich Grasulfs Gesicht zu einem breiten Grinsen, während Kakko wieder sein brüllendes Gelächter losließ. Ehe Grasulf sich zu einer Antwort anschickte, nahm er einen weiteren gewaltigen Schluck Wein, woraus Fidelma schloss, dass er dem Trinken nicht abgeneigt war.

»Edle Dame, wir sind echte Langobarden und haben unseren eigenen Glauben. Wir verehren Godan, den Vater aller Götter, König von Asgard, Herrscher der Asen, Herr über Krieg, Tod und Wissen. Er ist unser wahrer Gott und Beschützer.«

Ohne dass sie es wollte, hielt Fidelma erschrocken den Atem an. »Dann seid ihr also Heiden?«

»Wir haben nur einen anderen Gott als ihr.«

Es dauerte einen Augenblick, bis sie die Auskunft in sich aufnahm.

»Wie lange gedenkst du uns hier gefangen zu halten?«, fragte sie dann. »Und wo ist Bruder Eolann? Ich hoffe, ihm ist nichts geschehen.«

»Mach dir keine Sorgen«, erklärte Kakko fröhlich. »Mein Herr hat ein kleines scriptorium, und just dort befindet sich auch dein Gefährte. Der scriptor meines Herrn ist vor einigen Monaten gestorben, und seitdem hat sich niemand mehr um die Bücher gekümmert.«

»Demnach habt ihr die Absicht, uns auf unbestimmte Zeit festzuhalten?«

»Bis ich mich vergewissert habe, dass ihr keine Bedrohung darstellt.«

»Bedrohung für wen?«

»Eine Bedrohung für den Frieden und das Wohlergehen meiner Leute.«

»Wen fürchtest du, Grasulf, doch wohl nicht eine harmlos umherwandernde Frau und einen scriptor?«, höhnte sie. »Eher könnte es dieser Perctarit oder auch Grimoald sein, die wegen des Königtums hier in Streit liegen.«

»Ich habe keinen Grund, weder den einen noch den anderen zu fürchten«, erwiderte er gleichmütig. »Ich halte zu dem, der gut zahlt.« Er gönnte sich einen weiteren Schluck, merkte aber gleichzeitig, dass Fidelmas Becher noch so gut wie unberührt war. »Du trinkst ja gar nicht, edle Dame. Magst du den köstlichen Traubensaft nicht?«

»Ich mag die Freiheit weit mehr. Wenn man mich und meinen Gefährten hier länger als Gefangene hält, appelliere ich an deine Ritterlichkeit, uns fortan nicht in das muffige Verließ zu schließen.«

Jetzt war auch Grasulf versucht zu lachen. »Was schwebt dir vor? Dass ich euch außerhalb der Mauern meiner Burg frei herumlaufen lasse?«

»Wir werden die Grenzen deiner Burg respektieren. Wir brauchen aber einen Ort, wo Geist und Körper Ruhe haben – ein herbarium, ein grünes Plätzchen, wo wir entspannen können und der Geist Anregung findet. Gönn uns ein wenig Freiheit außerhalb von Zellen und Bibliotheken. Ich bitte darum als Tochter eines Königs in meinem Land, denn gewiss gilt auch bei euch der Grundsatz, solange ein König in seinem eigenen Königreich stark und unangefochten ist, sollte er anderen seinen Respekt zollen. Du hast vorhin selbst gesagt, dass du in deinem Territorium stark und unangefochten bist, folglich erwarte ich, dass du entsprechend handelst.«

»Bei uns gilt der Grundsatz, nicht erst warten, bis die Küken geschlüpft sind, lieber die Eier festhalten, mit anderen Worten, übertriebene Vorsicht schadet nichts.« Er drehte sich zu Kakko, redete in der Sprache der Langobarden hastig auf ihn ein, wedelte ihn mit einer flüchtigen Handbewegung fort und füllte sich erneut den leeren Becher.

Fidelma war sich unsicher – sollte sie nach Freifrau Gunora fragen, ob seine Männer sie getötet hatten und ob der junge Prinz hier auf der Festung gefangen gehalten wurde? Doch sie ließ davon ab, sie musste erst mehr in Erfahrung bringen. Wenn der Seigneur von Vars die Freifrau Gunora tatsächlich ermordet und den Knaben entführt hatte, würde er auch keine Gewissensbisse haben, sie und Bruder Eolann umzubringen. Auch beschäftigte sie der Gedanke an die beiden Männer, die das Symbol eines flammenden Schwerts im Lorbeerkranz trugen und die sie tags zuvor gesehen hatte. Wenn es die gleichen waren, die Magister Ado überfallen hatten, was suchten sie dann in einer Festung von Heiden? Das und vieles mehr ging ihr durch den Kopf.

Kakko führte sie nicht in das Verließ zurück, sondern nahm einen anderen Weg. Beim Überqueren des kleinen Innenhofes gluckste er immer noch vergnügt vor sich hin.

»Du hast meinen Herrn beeindruckt, kleine Schwester. Morgens wirst du deine Zelle verlassen dürfen und erst abends dorthin zurückkehren. Den Tag über wirst du in der Bibliothek verbringen. Gleich daneben gibt es ein kleines Freigelände, wo du dich ein wenig bewegen kannst. An dessen hinterem Ende findest du eine Tür, da geht es zum necessarium.« Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Gib dich nicht falschen Hoffnungen hin, kleine Schwester. Auf drei Seiten ist das Gelände von Festungsmauern umgeben, und die vierte Seite … na ja, wenn du Flügel hättest wie Huginn und Muninn, dann könntest du wegfliegen.«

»Flügel wie wer?«

»Hast du nicht die geschnitzten Raben auf dem Stuhl meines Herrn gesehen? Das sind Huginn und Muninn, die Raben, die unseren großen Gott Godan bewachen.«

Fidelma ersparte sich eine Antwort. Schon arbeitete in ihr der Gedanke, dass es vielleicht doch eine Chance zur Flucht gab, wenn man sie nicht länger in dem kleinen Raum festhielt, in dem man Platzangst bekam. Sie gingen über den großen Hof, den sie schon kannte, aber in eine andere Richtung.

»Du hattest versprochen, uns die Mantelsäcke zurückzugeben. Da sind persönliche Dinge drin, die wir gerne hätten, um uns den Aufenthalt hier etwas angenehmer zu gestalten. Man weiß ja nicht, wie lange sich der hinziehen wird.«

Kakko grinste. »Kein Problem. Ihr bekommt sie zurück.«

Er öffnete eine Tür in einem Eckturm. Gleich dahinter bogen sie nach links ab, und dort führten Türen aus dunklem Holz in einen großen Raum, in dessen Mitte ein langer Tisch stand. Ringsum an den Wänden waren Regale, vollgepfropft mit Buchrollen und Bänden. Fidelma schaute sich um. Von zu Hause war sie weit größere Bibliotheken gewohnt, in denen die Handschriften in Buchtaschen an Haken hingen und nicht in Regale gezwängt waren. Am Tisch saß Bruder Eolann, in eine Schriftrolle vertieft. Er blickte auf und war mit sich und der Welt sichtlich zufrieden.

»Es ist fürwahr erstaunlich, Lady«, begrüßte er sie, blieb sitzen und tippte auf die dicke Schriftrolle.

»Erstaunlich nenne ich etwas anderes«, erwiderte sie. Ihre Augen wanderten zu den hohen Fenstern, die etwas Tageslicht hereinließen; aber um dabei lesen zu können, reichte es nicht. Es gab Kerzen und auch eine Öllampe, und überall lagen Schreibutensilien herum. Am hinteren Ende hatte die Bibliothek noch eine zweite Tür.

»Wenn du dort hinten hinausgehst, findest du eine ziemlich große Fläche, die oft für sportliche Übungen genutzt wird«, erklärte ihr Kakko. »Nur möchte ich dich warnen, nicht zu nahe an den Rand zu gehen, denn bis ins Tal hinunter ist es ganz schön tief.« Er grinste, ging und sperrte hinter sich die Tür mit einem Schlüssel zu.

»Mit ›erstaunlich‹ habe ich das hier gemeint, Lady.« Bruder Eolann zeigte erneut auf die Schrift, die ihn fesselte, Kakkos Bemerkung war ihm entgangen.

Fidelma war damit beschäftigt, die quasi Haftbedingungen der Bibliothek eingehender zu betrachten, und fragte mehr nebenbei: »Was hast du denn da Besonderes entdeckt?«

»Origo gentis Longobardorum.«

»Der Ursprung der Langobarden?«

»Genau. Der Titel war mir nicht unbekannt, aber das Werk als solches habe ich noch nie in Händen gehabt. Man erfährt daraus, wie die Götter Godan und Freda die Langobarden von ihren unrühmlichen Herrschern befreit haben, so dass sie gen Süden ziehen und sich das Land hier zu eigen machen konnten.«

»Ein ziemlich altes Buch also.« Sie war immer noch mehr auf die neue Umgebung fixiert.

»Älter als zwanzig Jahre wohl nicht. König Rothari soll die Sagen zusammengetragen haben, der Großvater von Godepert und Perctarit.«

»Schon wieder dieser Perctarit?«

»Ja. Ebender, der alles daransetzt, den Thron zurückzuerobern. Rothari starb vor zwölf Jahren und hat darauf gedrungen, dass das Buch zustande kommt ebenso wie das Edictum Rothari, die erste Niederschrift der Gesetze der Langobarden.«

Fidelma stöhnte ungehalten. »Ganz ehrlich, Bruder Eolann, all die fremden, kaum auszusprechenden Namen machen mich vollkommen wirr. Ich sehne mich nach dem Wohllaut unserer Sprache in Muman. Doch zurück zu den entscheidenden Dingen. Wie ist man dir begegnet? Hat man dich bei der Befragung in irgendeiner Weise grob behandelt?«

»Grob behandelt? Ach, du meinst Grasulf. Nein, er hat mir nichts getan. Er stellte allerlei Fragen, wollte wissen, was wir im Einzelnen gemacht haben. Und dann hat er mich hierher geschickt.« Er blickte auf die Schriftrolle vor sich. »Das erstbeste Buch, das mir vor Augen kam, war das hier. Und ich muss gestehen, sofort habe ich mich gefragt, haben wir es in unserer Bibliothek in der Abtei oder nicht?«

Fidelma wanderte forschend durch den Raum. »Wir sollten uns besser von Ausmaß und Grenzen unseres Gefängnisses ein Bild machen«, schlug sie vor und ging zur Tür, auf die Kakko verwiesen hatte. Hast du dich schon mal draußen umgeschaut?«

Betroffen schüttelte Bruder Eolann den Kopf. Sie öffnete die Tür und trat ins Freie auf eine Terrasse. Auf drei Seiten ragten Burgmauern empor, die vierte hingegen gab den Blick frei auf Berge und Himmel in der Ferne. Eine niedrige, gemauerte Einfassung verhinderte einen versehentlichen Absturz in die Tiefe. Vereinzelt standen Pflanzen in Kübeln herum und verliehen dem graugepflasterten Boden ein wenig Farbe.

Außer der Tür, durch die sie aus der Bibliothek nach draußen gelangt waren, gab es noch eine weitere, die aber, von der Terrasse aus gesehen, keine Klinke hatte. Fidelma steuerte auf sie zu und stemmte sich dagegen. Sie war genauso stabil gebaut wie die Mauer und von innen zugesperrt und verriegelt. Prüfend schaute sie in die Höhe. Es gab zwar ein paar hohe Fenster, aber selbst von dort oben hätte man nicht mehr sehen können. So viel stand fest – sie waren von allen Seiten umzingelt.

Fidelma ging noch einmal zur Brüstung, Bruder Eolann tat es ihr nach. Ein Blick in die Tiefe belehrte sie, dass die Felswand steil nach unten ins Tal ging. An sich waren Berge und Höhenunterschiede nichts Ungewöhnliches für sie, aber das hier machte sie schwindlig. Sie holte tief Atem und trat einen Schritt zurück.

»Es sind schätzungsweise fünfhundert Fuß bis zum Talgrund«, vernahm sie hinter sich eine bekannte Stimme, die das in Latein sagte.

Jäh drehte sie sich um. Grasulf, Seigneur von Vars, stand in der für sie eben noch geheimnisvollen Tür.

»Eine beeindruckende Aussicht«, gab sie zu.

»Als Ausgang aus der Festung ist die Stelle dort nicht unbedingt zu empfehlen«, sagte Grasulf ernst. »Zumindest ist er nicht für unsere Gäste gedacht. Die niedrige Brüstung dient anderen Zwecken. Für alle, die versuchen, uns an der Nase herumzuführen oder Verbrechen zu verüben, die gegen uns gerichtet sind, will sagen Diebe und Mörder, ist es der direkte Weg, den Ormet zu überqueren und unmittelbar in den Armen der Göttin Hel zu landen.«

Fidelma verstand nicht recht. »Gewissermaßen eine Hinrichtungsstätte«, erläuterte Bruder Eolann. »Die Göttin Hel regiert über Helheim, ihre Unterwelt.«

»Dein Wissen imponiert mir, Bruder Eolann«, schmeichelte ihm der Seigneur von Vars. »Genau das habe ich gemeint. Ormet ist der Fluss, der Leben und Tod voneinander trennt. Aber wie gefällt euch meine kleine Bibliothek? Die ganze Zeit, seit mein scriptor gestorben ist, habe ich jemand gesucht, der Bücher schätzt und mit ihnen umzugehen versteht. Fast habe ich den Eindruck, die Schicksalsmächte haben euch zu mir geführt.«

»Wenn du mit Schicksalsmächten die Krieger meinst, die uns hierher verschleppt haben, könnte das so sein«, entgegnete Fidelma trocken. »Nur bezweifle ich, dass ich lange genug hier bin, um mich in deine Bücher zu vertiefen, Grasulf.«

Der Seigneur von Vars nickte befriedigt. »Ich habe es ewig nicht mehr mit einem geistreichen Menschen zu tun gehabt. Du wirst heute Abend mit mir speisen, ja, auch Bruder Eolann. Ihr könnt mir beim Mahl über das Leben jenseits dieser Täler berichten. Ich schicke euch Kakko, der wird euch zu mir bringen. Bis dahin überlasse ich euch meinen Büchern.«

Er wandte sich um und verließ sie auf dem gleichen Weg, den er gekommen war. Sie hörten, wie die Tür von der anderen Seite verriegelt wurde.

Fidelma ging noch einmal zur Brüstung.

»Was hast du vor?«, fragte Bruder Eolann besorgt.

»Will nur mal sehen, wie der Weg in den Höllenschlund tatsächlich aussieht«, gab sie zurück.

Sie blieb etliche Minuten dort stehen und tastete mit den Augen den schwindelerregenden Abfall zum Talgrund ab. Danach begab auch sie sich in die Bibliothek, wo Bruder Eolann schon wieder über die Schriftrolle gebeugt saß, die es ihm so angetan hatte. Missbilligend sah sie ihn an, waren doch ihre Gedanken mehr auf etwaige Fluchtmöglichkeiten konzentriert. Dann aber fielen ihr die merkwürdigen Geschehnisse in der Bibliothek von Bobium ein, und sie ging zu den Regalen.

»Hattest du mir nicht von irgendwelchen Büchern aus deiner Bibliothek erzählt, die man mutwillig beschädigt hat?«

»Ja. Wie kommst du darauf?«

»Kannst du dich an die Titel erinnern?«

»Selbstverständlich. Ich habe dir doch erzählt, dass ich nach anderen Bibliotheken gesandt habe, um nach Kopien zu forschen, mit denen wir die beschädigten Exemplare ersetzen könnten.«

Fidelma war mit einem blendenden Gedächtnis gesegnet. Zum Teil hatte sie es ihrer Ausbildung zur dálaigh zu verdanken. »Wenn ich mich recht erinnere, war das eine das Geschichtswerk des Livius Ab urbe condita libri

»Stimmt.«

»Hier steht eine Abschrift.« Fidelma zeigte auf einen Buchrücken. »Könnte ja sein, du wüsstest gern, was auf den entfernten Seiten gestanden hat.«

Bruder Eolann nahm das Buch aus dem Regal und legte es auf den Tisch. »Das sieht nach einer exakten Kopie aus. Ich kann mich noch erinnern, wie es oben auf der Seite nach den herausgerissenen weiterging.«

»Aber welche Seiten genau fehlen, weißt du sicher nicht.«

»Ich bilde mir durchaus etwas auf meine Berufsehre ein, Lady. Ich wäre ein schlechter Bibliothekar, wenn ich nicht wüsste, was in meiner Bibliothek Schaden genommen hat.« Bruder Eolann blätterte die Seiten aus festem Pergament um. Bei einer hielt er prüfend inne und las dann laut: »Marcus triumphali veste in senatum venit … Das ist die Seite, die der herausgeschnittenen folgt.«

»Marcus betrat den Senat im Festgewand«, übersetzte Fidelma. »Und was steht nun auf der Seite, die man entfernt hat?«

Er blätterte zurück. »Ah, hier beginnt’s. Caepionis, cuius temeritate clades accepta erat, damnati bona publicata sunt. Caepio, der durch sein unbesonnenes Vorgehen schuld an der Niederlage war, wurde verurteilt, und seine Besitztümer wurden konfisziert.«

»Das klingt, als handele es sich um einen Bericht von einer Schlacht und um die Rolle, die ein gewisser Caepio dabei gespielt hat.« Fidelma überlegte. »Warum mag jemand eines solchen Berichts wegen bereit sein, Seiten aus einem Buch zu reißen?«

Bruder Eolann zuckte mit den Schultern. »Längst vergangene Schlachten kümmern mich wenig, Lady.«

Sie zog das Buch an sich und überflog den Text. Auch für sie waren die Zeilen uninteressant. »Hier steht zu lesen, dass ein römischer Prokonsul namens Caepio in einer Schlacht, die bei Aurasio stattfand, einige Legionen befehligte. Der größere Teil des Heeres unterstand dem Feldherrn Gnaeus Mallius Maximus. Caepio war offensichtlich ein Patrizier, und da Mallius Maximus kein Aristokrat war, weigerte er sich, sich ihm unterzuordnen und versagte seinem Vorgesetzten den Gehorsam. Er hielt es schlichtweg für unter seiner Würde.

Als es dem Feldherrn gelang, mit dem feindlichen Heer einen Frieden auszuhandeln, heißt es hier weiter, griff Caepio auf eigene Faust an. Im Ergebnis dessen wurden seine Legionen geschlagen und vernichtet, und nach dem Vertragsbruch fiel der Feind auch über die Heerscharen des Mallius her und vernichtete sie ebenfalls. An die einhundertundzwanzigtausend Männer wurden abgeschlachtet. Caepio gelang es zu fliehen und nach Rom zu entkommen, doch in Rom war man außer sich ob des Ausgangs der Schlacht. Man stellte Caepio vor Gericht und verurteilte ihn wegen seines Fehlverhaltens. Nur seiner aristokratischen Stellung war es zu verdanken, dass er mit dem Leben davonkam; man schickte ihn jedoch ins Exil, und all sein Hab und Gut wurde konfisziert.« Fragend blickte Fidelma den scriptor an. »Wann mag das Ganze geschehen sein? Kannst du das dem Text entnehmen?«

Bruder Eolann beugte sich über ihre Schulter und wies auf winzige Buchstaben und Ziffern am Seitenrand. »Hier steht Anno urbis conditae sechshundertachtundvierzig«, las er mit einiger Mühe vor, »das wäre nach unserer Rechnung ungefähr hundert Jahre vor Christi Geburt.«

»Viel weiter hilft uns das nicht; hinter den Grund, weshalb man ausgerechnet dieses Textstück herausgeschnitten hat, kommen wir damit nicht.« Ärgerlich verzog Fidelma das Gesicht. »Vielleicht sollten wir nach dem Polybius suchen und sehen, ob in dem Werk auf die gleiche Schlacht und diesen Caepio Bezug genommen wird. Ob das so entscheidend ist, fragt sich jedoch. Kann ja auch sein, es war nur vorsätzlicher Vandalismus.«

Im Türschloss drehte sich ein Schlüssel, und Kakko erschien.

»Seigneur Grasulf hat mir gesagt, er hätte euch eingeladen, mit ihm zu speisen. Ich habe mir die Freiheit genommen, ein Bad für euch vorzubereiten und Kleidung zum Wechseln hinzulegen, denn ich habe gehört, dass die Hibernianer täglich ein Bad nehmen müssen.«

Fidelma hatte sich die ganze Zeit verschwitzt und unwohl in der Hitze gefühlt. Nun aber, da die Rede davon war, wurde ihr bewusst, dass sie, seit sie Bobium verlassen hatte, keine Gelegenheit zum Baden gehabt hatte.

»Das ist schön«, sagte sie nur.

»Der Seigneur von Vars ist peinlich genau bei der Wahl seiner Gäste und deren Reinlichkeit«, stichelte Kakko grinsend

»Die mangelnde Körperpflege haben wir seinen Kriegern zu verdanken, die uns gegen unseren Willen hierher verschleppt haben«, gab Fidelma scharf zurück. »Und auch unserem Eingesperrtsein in einem Verließ ohne …«

»Eure Mantelsäcke sind bereits da, wo ihr sie haben wolltet«, schnitt ihr Kakko das Wort ab, der einsah, dass er ihr verbal nicht das Wasser reichen konnte. »Vielleicht macht euch das euer Hiersein erträglicher. Ich lasse mich bald wieder blicken und zeige euch, wo ihr ein Bad nehmen und euch umkleiden könnt.«

»Es würde unser Hiersein erträglicher machen, wenn du für getrennte Zellen sorgen könntest, es ist um des Anstands willen. Wir sind nicht Mann und Frau, als dass man uns zusammensperren könnte. Zu manchen Stunden ist eine Trennung angebracht. Oder geht eure Fürsorge um Reinlichkeit nicht so weit?«

Der wuchtige Mann blickte sie verdrießlich an, hielt es für besser, nichts zu sagen, und ging, nicht ohne die Tür geräuschvoll hinter sich abzuschließen.

»Mir tut das alles sehr leid, Lady«, gestand Bruder Eolann kleinlaut.

»Wieso? Was tut dir leid?«

»Ich hätte nicht vorschlagen dürfen, an dem Heiligtum länger zu verweilen.«

»Wenn ich mich recht entsinne, war ich diejenige, welche es unbedingt sehen wollte. Und was unser längeres Verweilen dort betrifft, so hatte das etwas mit Freifrau Gunora zu tun. Wir sollten übrigens darüber, dass wir die Leiche gefunden haben, Stillschweigen wahren. Könnte sein, ihr Mörder ist dieser Seigneur von Vars. Es kann nur zu unserem Nutzen sein, wenn er sich in dem Glauben wiegt, wir wären ahnungslos.«

Unversehens erhob sie sich und ging zur Tür, die auf die Terrasse führte, denn plötzlich war ihr ein anderer Gedanke gekommen.

»Wohin willst du?«, fragte Bruder Eolann.

»Keine Sorge, ich will nur noch mal einen Blick auf die Felswand werfen. Such du inzwischen nach dem Polybius. Vielleicht findest du heraus, ob auch dort das fehlende Textstück von diesem – wie hieß er doch – ach ja, Caepio, handelt.«

Nur halbherzig machte sich der scriptor an die Arbeit und durchforstete die Regale.

Als Fidelma zurückkehrte, schimmerte es unternehmungslustig in ihren Augen. »Bist du fündig geworden?«

»Fündig?«, murmelte er, völlig in seine Aufgabe vertieft.

»Fündig mit Polybius.«

»Bisher nicht.« Er blickte auf und bemerkte ihre Erregung. »Was gibt es?«

»Mir ist da ein Gedanke gekommen …«, begann sie.

Sie kam nicht dazu, sich weiter auszulassen, denn wieder drehte sich der Schlüssel im Schloss, und Kakko erschien.

»Das Bad ist bereitet«, verkündete er.

Eine mürrisch dreinblickende Frau stand hinter ihm, um Fidelma zu dem Raum zu begleiten, in dem das Bad für sie gerichtet war. Zu ihrer Erleichterung ging Kakko mit Bruder Eolann zu einer anderen Zelle. Wohlig ließ sie sich ins warme Wasser in den Holzzuber gleiten, entspannte bei den angenehmen Düften und Ölen und nahm sich Zeit, derweil ihre unfreundliche Begleiterin, die sich leider nur in der Sprache der Langobarden auszudrücken verstand, ungeduldig wartete, dass sie fertig wurde. Es dauerte lange, bis Fidelma so weit war und erfrischt und mit sauberer Kleidung angetan der Frau zurück über den Hof folgte.

Plötzlich ertönten Rufe, und die Burgtore wurden aufgerissen. Ein Reiter sprengte in den Hof und zerrte sein Pferd so gewaltsam an den Zügeln, dass es sich aufbäumte und mit den Vorderhufen wild in die Luft schlug. Der Reiter schwang sich vom Sattel, warf die Zügel einem Bediensteten zu und eilte im Laufschritt auf die Haupthalle zu.

Fidelma blickte ihm nach, doch ihre Begleiterin schubste sie vorwärts.

Bruder Eolann erwartete sie bereits in ihrem Verließ.

»Wir sollen getrennte Zellen für die Nacht bekommen, hat man mir gesagt«, teilte er ihr etwas verlegen mit. »Man sei dabei, sie herzurichten.«

»Das ist ja wenigstens etwas«, meinte Fidelma mehr oder weniger teilnahmslos.

Nicht lange, und Kakko erschien und bedeutete ihnen, ihm zur großen Halle zu folgen. Dort war inzwischen ein Tisch gedeckt worden, und der Verwalter übernahm nun die Rolle, die Dienerschaft umherzuscheuchen, die die Speisen aufzutragen und den Wein auszuschenken hatten.

»Es geschieht nicht oft, dass ich Reisende aus Hibernia in diesem Tal empfangen kann«, begrüßte sie Grasulf und forderte sie auf, Platz zu nehmen. Offensichtlich würden sie das Mahl nur zu dritt einnehmen.

»Wie oft verschleppt ihr denn Reisende?«, fragte Fidelma trocken.

Vergnügt nahm Grasulf ihre scharfe Erwiderung hin. »Ich glaube, in eurem Fall haben meine Leute gute Arbeit geleistet – sie haben mir Anregung für meinen Geist verschafft«, entgegnete er ernst. »Ich empfinde deine Antworten als äußerst stimulierend. Übrigens das Wildschwein hier« – er zeigte auf die Fleischplatte, die gerade auf den Tisch gestellt wurde –, »habe ich gestern erlegt.«

Er kommentierte die weiteren Gerichte, die aufgetischt wurden, und auch den Wein, den man reichte. Bruder Eolann war es zufrieden, dass sich die Unterhaltung zwischen Grasulf und Fidelma abspielte, und war vollauf damit beschäftigt, Speis und Trank zuzusprechen. Der Seigneur von Vars hielt sich in erster Linie an seinen Weinbecher, den Kakko ständig nachfüllte. Er nahm nicht nur ab und an einen Schluck, sondern trank in vollen Zügen wie ein Mann, dessen Durst nicht zu löschen war.

»Vor Zeiten kamen Prediger von eurer Abtei in das Tal hier, um meine Leute zu bekehren«, sagte er sinnend. »Aber es gibt immer noch viele echte Langobarden, auch wenn wir weniger werden. Wir glauben an Godan und an die Kraft unserer Schwerter. Über die Streitigkeiten unter euch Christen sind wir erhaben. Ob es um das Glaubensbekenntnis von Nicäa geht oder das des Arius – uns ist es gleich. Ebenso wie es keinen Unterschied macht, ob man durch das Schwert oder den Degen stirbt.«

»Du siehst den Glauben als einen Weg zum Tod?«, fragte Fidelma wissbegierig.

»Steht zu eurem Christus, wie ihr wollt. Er ist euer Gott, nicht meiner.« Grasulf verspürte keine Lust, das Thema weiter zu erörtern. »Wie habt ihr die Zeit in meinem kleinen scriptorium verbracht? Wie findet ihr meine Sammlung?«

»Wo es um Wissen geht, ist es immer interessant«, erwiderte Fidelma.

»Und was, zum Beispiel, hat dich besonders gefesselt?«

»Die Geschichte Roms.« Sie sagte es, ohne recht zu überlegen, denn im Grunde genommen berührte sie das Thema herzlich wenig.

»Ach, du meinst sicher den Livius.«

»Hast du sein Geschichtswerk gelesen?« Sie war überrascht, merkte dann aber selbst, dass sie es zu unrecht war.

»Selbstverständlich. Livius stammte aus Patavium, kein Wunder also, dass ich mich gerade mit Werken beschäftige, die Schriftsteller aus dem Umfeld hier verfasst haben. Welche von ihm beschriebene Periode hatte es dir besonders angetan?«

»Es war ein Textstück über einen gewissen Caepio.«

Sie hatte nicht geahnt, welche Wirkung die Nennung des Namens hervorrief. Argwöhnisch blickte Grasulf sie an, dann warf er den Kopf zurück und gab ein gekünsteltes Lachen von sich.

»Caepio? Du glaubst doch nicht etwa diese törichte Geschichte über ihn? Mit was für Geschichten behelligst du da deine Gefährtin, Bruder Eolann?«

Fidelma drehte sich zu ihm um. Bruder Eolann war vor Verlegenheit rot geworden. »Mit was für Geschichten hast du mich behelligt?«, wiederholte sie leise die Frage in der Sprache ihrer beider Heimat.

Der scriptor reagierte geradezu heftig. »Was soll ich dazu sagen, Lady. Ehrlich, ich verstehe nicht, was er überhaupt meint.«

Fidelma wandte sich wieder Grasulf zu. »Ich habe die Seite rein zufällig aufgeschlagen«, wich sie vorsichtig aus. »Bei welcher Geschichte hätte ich aufmerken sollen?«

»Rein zufällig? Dabei ist der Kern der Geschichte sogar zu einer sprichwörtlichen Redensart geworden.«

»Ich weiß immer noch nicht, worauf du anspielst.«

»Was sagt man, wenn es jemand unrechtmäßig zu Reichtum gebracht hat – Reichtum, der einen Fluch nach sich zieht?«

Umgangssprachliches Latein war Fidelma nicht geläufig. Sie erhoffte sich von Bruder Eolann Hilfe, aber der schüttelte nur den Kopf. Es blieb ihr nichts übrig, als Grasulf um Aufklärung zu bitten.

»Man spricht von einer Person, die das Gold von Tolosa hat – Aurum Tolosanum habet«, erläuterte der Seigneur von Vars.

»Und was hat das mit diesem Caepio zu tun?«

»Er war in früheren Zeiten der Statthalter des Gebiets hier und marschierte mit seinen Legionen in Gallien ein. Es heißt, in der Stadt Tolosa hätte er sich eines sagenhaften Schatzes bemächtigt. Dann soll er den Goldschatz in seine Heimatstadt nach Placentia geschafft haben, wo er ihn sicher glaubte. Aber er verschwand. Manche reden sogar heute davon, er hätte das Gold hier irgendwo in den Bergen versteckt. Und es gibt auch Narren, die ab und zu behaupten, sie hätten Gold aus Caepios Schatz gefunden.«

»In dem Textstück, das ich bei Livius gelesen habe, ist aber nur die Rede davon, dass durch sein unbesonnenes Vorgehen ganze römische Legionen vernichtet wurden.«

»In der Geschichte heißt es weiter, dass seine Legionen vor der eigentlichen Schlacht Tolosa geplündert und sechsundvierzig Wagen mit Gold und anderen Schätzen fortgeschleppt und hier irgendwo sichergestellt hätten.«

»Und die sind allesamt verschwunden?«

»Einfach weg«, bestätigte Grasulf. »Doch es geht uns nicht um mythisches Gold, oder, Bruder Eolann? Für einen Beutel Frankengold wären in den Tälern hier nur allzu viele Herrscher bereit, ihre Männer wie Wölfe loszuhetzen und über Grimoald und seine Getreuen herzufallen.«

Auf Bruder Eolanns Gesicht breitete sich Unbehagen aus. »Ich weiß dazu nichts zu sagen«, murmelte er.

»Die Geschichte von dem Gold ist in aller Leute Munde«, meinte Grasulf und griff erneut zu seinem Becher Wein. Damit war das Thema für ihn beendet.

Fidelma wartete einige Augenblicke, ehe sie eine andere Frage stellte, von der sie sich Klärung versprach.

»Ich habe vorhin einen Reiter in die Festung stürmen sehen, der ganz offensichtlich einen beschwerlichen und schnellen Ritt hinter sich hatte. Ich vermute, er hat wichtige Nachricht über die Unruhen gebracht, die im Land herrschen?«

Der Seigneur von Vars betrachtete sie nachdenklich über den Becherrand. »Du hast eine bemerkenswerte Beobachtungsgabe, Lady.« Schwang da ein gefährlicher Unterton in seiner Stimme mit?

»Dinge wahrzunehmen, gehört zu meinem Beruf.«

»Die übermittelte Nachricht lässt in der Tat aufhorchen. Lupus von Friuli, Grimoalds Regent in den nördlichen Gebieten hier, hat mit seinem Heer eine Niederlage erlitten.«

»Hatte sich Lupus nicht gegen Grimoald gewandt?«

»Das stimmt. Du hast ein waches Ohr und ein gutes Gedächtnis.«

»Ich kann nur wiederholen, zu meiner Ausbildung gehört es, sehen zu lernen und Dinge zu behalten.«

»Wie wurde er geschlagen?«, fragte Bruder Eolann. Er schien besorgt.

»Lupus, wie du weißt, hatte sich entschlossen, gegen Grimoald aufzustehen und sich für Perctarit entschieden. Grimoald schloss ein Abkommen mit Khagan, dem Khan Kubrat …«

»Die Namen sagen mir gar nichts«, unterbrach ihn Fidelma gereizt.

»Khagan herrscht über die Awaren, die nördlich und östlich von uns angesiedelt sind, in den Gebieten, die früher unter dem Namen Illyria bekannt waren. Sie sind in unsere Gebiete eingefallen und wollten Lupus bezwingen. Der Reiter, den du gesehen hast, überbrachte die Nachricht, Lupus hätte sich mit seinen Kämpfern vier Tage lang in Friuli gegen die Awaren gehalten. Er erlag ihnen, ist tot, und seine Truppen sind vernichtet beziehungsweise in alle Winde verstreut.«

»Das ist doch dann aber ein gutes Zeichen für Grimoald, oder?«, schlussfolgerte Fidelma.

»Nur, wenn der Khan das Abkommen respektiert. Im Augenblick ist das gesamte Tal des Padus gegen einen Vormarsch der Awaren ungeschützt. In der Hinsicht könnte Grimoald einen Fehler gemacht haben. Grimoald war Richtung Süden gezogen, um gegen die Byzantiner zu kämpfen. Also bewegt er sich jetzt auf dem Rückzug nach Norden. Es heißt aber, Perctarit steht mit seinen fränkischen Verbündeten bereits nördlich von Mailand, und das ist nicht weit von hier. Blut, Feuergewalt und Plündereien überziehen das Land. Wir müssen auf der Hut sein. Das ist der Grund, weshalb Fremde angehalten und befragt werden.«

»Das alles hat aber nichts mit mir zu tun und gibt keinen Anlass, mich und meinen Landsmann auf deiner Festung gefangen zu halten. Du solltest uns in Frieden und sicheren Weges nach Bobium zurückkehren lassen.«

»Du bestehst hartnäckig auf deinem Anliegen, edle Dame. Aber ich habe mich noch nicht davon überzeugen können, dass ihr nicht eine Bedrohung für mich oder meine Leute darstellt.«

Kakko erschien mit zwei Bediensteten, die unter seiner Aufsicht begannen, den Tisch abzuräumen.

Grasulf erhob sich und erklärte mit einem halbherzigen Lächeln: »Ich hoffe, wir haben noch mehrfach die Gelegenheit zu einem anregenden Gedankenaustausch.«

»Ich wiederum hoffe, es bleibt bei dieser einmaligen Gelegenheit«, erwiderte Fidelma und stand ebenfalls auf.

Er lachte sarkastisch. »Du wiegst dich vergeblich in solch einer Hoffnung. Doch deine Kühnheit ist herzerfrischend, edle Dame. Bei uns gibt es die Redensart, Frauen haben eine spitze Zunge. Ich denke aber, ich kann mich da mit dir messen.«

»Auch wir haben eine Redensart: Ein Köter bellt da laut, wo er sich sicher fühlt.«

Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich zusehends, und zu Kakko gewandt, erklärte er: »Geleite unsere Gäste zu ihren Unterkünften.«

Der kraftstrotzende Verwalter ging auf sie zu und führte sie zu den Türen, die er vehement öffnete.

Ein großgewachsener Mann, angetan mit einem langen schwarzen Gewand, war im Begriff, die Halle zu betreten. Er hatte schlohweißes Haar, eine vorstehende Nase und dünne, blutleere Lippen. In seinen dunklen Augen erkannte man so gut wie gar keine Pupillen.

Er zuckte zusammen, als er Fidelma sah, und trat überrascht einen Schritt zurück.

Auch sie erkannte ihn.

Kakko war der Moment des gegenseitigen Erkennens entgangen, obwohl er sich umdrehte, um Bruder Eolann zum Weitergehen zu drängen. Fidelma und der scriptor leisteten ihm Folge, keiner verlor ein Wort gegenüber dem Neuankömmling, und auch er sagte nichts.

Es war Suidur der Weise, der Arzt Radoalds, des Seigneurs von Trebbia, an dem sie schweigend vorbeigingen.

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